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Berliner Notizen - 2004 - Januar
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Wolfgang Schäuble beim Löwen

Januar. Wolfgang Schäuble will sich nicht in den hellen Saal mit einer gläsernen Kuppel schieben lassen. Kraftvoll greifen seine Hände an die Räder seines Rollstuhls, schwungvoll fährt er so in den Raum. Der Mann von der CDU befindet sich auf dem Boden der SPD, in dem Berliner Gebäude der parteieigenen Friedrich-Ebert-Stiftung. Wolfgang Schäuble schaut aus seiner Sitzposition interessiert nach oben in die gläserne Kuppel. Das moderne lichtdurchflutete Gebäude scheint ihn zu beeindrucken. Er befindet sich in einer bedauernswerten Lage, denn er muss zu allen Menschen hinauf schauen. Robert Leicht von der „Zeit“ macht eine leichte Verbeugung bei der Begrüßung, er steht vor dem Rollstuhl und muss zu Wolfgang Schäuble nach unten sehen. Der SPD-Politiker Karsten Voigt berührt bei der artigen Begrüßung leicht die Schulter des politischen Gegners. Lediglich Richard von Weizsäcker, der einstige Präsident, beugt sich von der Seite während des Gesprächs hinunter zu Wolfgang Schäuble. Die beiden Männer sprechen dank von Weizsäckers Taktgefühl in gleicher Augenhöhe. Polens ehemaliger Außenminister Bronislaw Geremek scheint den Mann von der CDU nicht zu kennen, er geht ohne Gruß vorbei. Die ehemalige Ministerin Anke Fuchs freut sich mit breitem Lachen, den politischen Konkurrenten begrüßen zu können. Robert Leicht sagt zur Begrüßung, Wolfgang Schäuble habe sich in die Höhle des Löwen begeben. Löwen leben wohl nicht in Höhlen. Aber nicht nur deshalb findet der Mann im Rollstuhl den Vergleich falsch. Maximal zehn Mal in meinem Leben habe ich Wolfgang Schäuble persönlich erlebt. Doch ich habe das Gefühl, ihn sehr genau zu kennen, jede Geste ist mir bekannt, die leichteste Veränderung in seinem Gesicht fällt mir auf. Es ist das Fernsehen, es baut Distanz ab, es macht aus Fremden nahe Bekannte. Deshalb sehe ich auch, wie sich die Gesichtszüge Schäubles stets leicht verfinstern, wenn Karsten Voigt spricht. Die beiden treffen sich anlässlich des Geburtstages von Heinrich August Winkler. Der renommierte Historiker wird 65. Aus diesem Anlass diskutieren die politischen Konkurrenten zum Thema „Gibt es noch eine westliche Wertegemeinschaft?“ Launig hält Wolfgang Schäuble fest, wer gegen die Regierung Bush sei, könne nicht als amerikafeindlich bezeichnet werden. Er sei ja auch gegen die Regierung und deshalb nicht deutschfeindlich.

 

Der erste Schnee

Januar. Erstmals im neuen Jahr ist Berlin nach Schneefall in der Nacht weiß überzogen. Mehrere benachbarte Hauseigentümer in Berlin-Friedrichshagen haben mit der Räumung die Firma „Universal, Gebäudemanagement und Dienstleistungen GmbH“ beauftragt. Nach dem Vertrag müssten die Wege bis sieben Uhr schneefrei und gestreut sein. Bezahlt wurde die zu erbringende Leistung im Voraus. Wird es ein Winter ohne Schnee, hat die Firma Glück, ansonsten hätte sie viel Arbeit. Sie macht sich an dem Tag keine Arbeit. Um sieben Uhr ist nichts geräumt. Um zehn Uhr auch nicht. Es erfolgen Beschwerden per Telefon. Das Räumfahrzeug sei wohl stecken geblieben, lautet die unrichtige Antwort. Nach mehreren weiteren Anrufen kommt um die Mittagszeit ein älterer Arbeiter mit Eimer und Schaufel, er streut eine zu geringe Strecke und entfernt vor einem Hauseingang etwas Schnee mit einem Schneeschieber, den die Hauseigentümerin ihm leiht. Der Nachbar bleibt unberücksichtigt. Er hatte die Firma ebenfalls beauftragt und im Voraus bezahlt. Seine Ehefrau ruft mehrere Male am Tag an, die Arbeit wird nicht erledigt. Der Arbeiter erklärt, er wisse nicht, dass überhaupt vor dem Haus gesäubert werden solle. Einen Tag später schickt die Firma „Universal“ einem Kunden eine Mahnung, er solle bezahlen. Tatsächlich zahlte der aber schon im Dezember des Vorjahres. Auf dem Briefbogen von „Universal“ fehlen Anschrift und Telefonnummer.

 

Bayernblatt in Berlin

Januar. Im ehemaligen innerstädtischen Grenzbahnhof Friedrichstraße kaufe ich die „Süddeutsche Zeitung“. Draußen vor dem Gebäude hat die Hauptstadt das Flair einer Metropole, ähnlich Manhattan. Es ist die neue Mitte. „Die ‚Berliner‘ kostenlos“, ruft ein Berliner im Berliner Dialekt und meint mit  „Berliner“ die „Berliner Zeitung“. Er hält sie den Vorbeihastenden oft vor die Brust. Auf vielen Plätzen der Hauptstadt wird so um Abonnenten geworben. Viele reagieren deshalb aus Erfahrung nicht. Clevere reißen dem Werber das Blatt aus der Hand, bedanken sich und sind so schnell im Menschengewühl weggetaucht, dass ein Werbegespräch nicht möglich wird. Es könnte auch der Sport von Studenten sein, das hinaus gerufene Angebot „kostenlos“ wörtlich zu nehmen. Vor der Ampel sieht mich der dickleibige Werber an. Ich halte die „Süddeutsche“ hoch und entschuldige mich fast mit der wahrheitsgemäßen Antwort, die „Berliner Zeitung“ zu beziehen. Und noch zwei andere. Die „Süddeutsche“ habe er auch im Angebot. Wenn ich sie kostenlos für zwei Wochen bezöge, sagt der winterfest gekleidete Mann im Kiez-Dialekt, bekäme er Geld. Es schneit. „Hamsen Fax zu Haus?“ Habe ich. Wenn ich nach vier Tagen den Zettel an die angegebene Nummer faxe, „wär’n Se nich ma belästicht.“ Das Geschäft wird vereinbart. Er lese die „Süddeutsche“ auch ganz gern, sagt der kräftige Berliner, „aber nur die Wochenendausgabe“. Die Fußgängerampel zeigt Rot. Ich will trotzdem über den Zebrastreifen gehen. „Aufpassen, Männeken, wenn wat passiert, kriech ich die Kohle nich.“ Deshalb warte ich auf das grüne Männchen.

 

Italien im Osten

Januar. Eis treibt über die Spree. Es ist neblig, die Spitzen von Hochhäusern in Berlin-Treptow verschwinden in den Schwaden des tief hängenden Hochnebels. Ich marschiere fröstelnd von dem einst westlichen Kreuzberger Ufer hinüber in den früheren Osten. Mein Weg führt mich durch die Fußgängerarkaden der Oberbaumbrücke. Über den lang gestreckten Backsteinweg schreibt der Berliner Autor Günter de Bruyn: „Meine Erinnerungen, die auch die meiner Eltern und Großeltern mit einbegriffen, waren inzwischen fast museal geworden; sie reichten zurück bis zum Einweihungsfest dieser Brücke, von der meine Großmutter mir erzählt hatte, als ich vier oder fünf Jahre alt war. Die kleine Frau, immer in langen und schwarzen Kleidern, gehört für mich zu der Brücke wie die Backsteinarkaden, von denen Teile, wenn auch im Krieg beschädigt, jetzt noch erhalten waren.“ 14 Jahre vor meinem Gang über die trübe Spree lief de Bruyn dieselbe Strecke und erinnerte sich. Auf der östlichen Uferseite suche ich ein neu eingerichtetes italienisches Lokal. Anders als im halb verfallenen Kreuzberg auf der anderen Seite entwickelt sich hier neues Leben. "Alimentari e Vini“, Rother Straße 16, 10245 Berlin, ist mehr als nur eine Pizzeria. Es sind viele Quadratmeter Italien in Berlin. Die Räume sind saalartig weit. Das Essen wird nicht in einer versteckt liegenden Küche zubereitet, vor aller Augen an einem riesigen Herd hantiert eine tief schwarzhaarige Frau mit den Nudeln in den Pfannen und ruft Befehle in der wohl klingenden italienischen Sprache durch die weiten Räume. Mir als ehemaligem Messdiener kommen viele Wörter vom Kirchenlatein her bekannt vor. Alle hier angestellten Frauen sind schwarzhaarig. Das Essensangebot ist mit Kreide auf Tafeln geschrieben. Außerdem sind Weine, Weißbrote, Honig oder Gebäck sowie Kuchen von jenseits der Alpen im Angebot. Wer essen will, geht zur Kasse, nennt sein Begehr und zahlt bei der attraktiven Wirtin, eine Theke weiter holt er seine Getränke, das Essen servieren Italienerinnen an den Tischen. Es gibt viele lange Tische. Wer sich zu einer Gruppe setzt fragt nicht, ob er sich setzen dürfe. Viele der jungen Besucher kommen in Gruppen. Die Gäste kennen sich. Es ist an den Zurufen zu erkennen. Der Fußboden ist gefliest. Ich habe den Eindruck, hier glänze alles vor Sauberkeit. Auf der blitzblanken Herrentoilette komme ich ins Grübeln: Entweder sie wurde bisher trotz der vielen Männer im Lokal kaum benutzt, oder die Herren wuschen sich die Hände nicht, denn es liegt nur ein feuchtes Papierhandtuch in dem Wegwerfbehälter.

 

Russisch ist sehr viel zu hören

Januar. Auch im Winter, wenn die Sonne einige Strahlen nach Berlin schickt, hocken Gäste draußen auf Stühlen vor dem Lokal „Schleusen-Krug“. Es ist vom Bahnhof Zoo zu Fuß zu erreichen. Der Landwehrkanal bildet hier ein Gefälle, deshalb befinden sich hinter der Gaststätte Schleusen. Und ein kleiner See liegt ruhig zwischen Bäumen. Dahinter beginnt der Park namens Tiergarten. Eine überschaubare Idylle in der Hauptstadt ist das Gebiet um die Gaststätte. Am 23. April 1895 schreibt Alfred Kerr in der „Breslauer Zeitung“ über den Bereich am „Schleusen-Krug“: „... aber die ganz schmalen und einsamen Stege am Neuen See und an der Schleuse werden bevorzugt – da, wo das Wasser melancholisch rauscht und von Zeit zu Zeit ein verlorener Schrei aus dem Zoologischen Garten herübertönt. Wer um diese Zeit durch die schweigenden, dunklen Gänge schreitet, sieht mitten im Wege Menschenpaare stehen, eng umschlungen, die sich küssen, und von den Bänken an der Seite sind flüsternd Stimmen vernehmbar.“ Einhundertneun Jahre später sind zur hellen Nachmittagszeit viele Fußgänger, die es scheinbar allesamt eilig haben, hastig auf den Wegen unterwegs. In der Dunkelheit wird sich kaum ein Liebespaar hier hintrauen. Berlin kann gefährlich sein. Dem Zeitgeist entsprechend küssen sie sich in der Öffentlichkeit, von den Eiligen freundlich belächelt. Wer vor dem Lokal in der Wintersonne sitzt, will gesehen werden. Der „Schleusen-Krug“ ist gut besetzt. Es sind nur wenige Tische frei an einem Wochentagsnachmittag. Zuerst fällt eine Art Bartheke mit klobigen Hockern davor auf. Die Tische sind hölzern braun mit dunklen versessenen Ledersesseln daran. Es klingt wie in Babylon, ein Sprachengewirr überlagert akustisch den verqualmten Gastraum. Russisch ist die dominierende Sprache. So manche schöne Russin schaut mit Glutaugen einen Mann an, der aussieht, als sei er gerade aus der Roten Armee unehrenhaft und ohne Sold entlassen worden. Offensichtlich haben wenige Touristen den „Schleusen-Krug“ gefunden. Wer verzehren will, muss Geduld aufbringen. Der Kellner trägt ein knallgelbes Hemd und stützt sich, wenn er Bestellungen entgegen nimmt, mit beiden Fäusten auf die Tischplatte ab. Er ist sehr freundlich. Aber auch fahrig, denn beim Bedienen fragt mich der Mann, ob dies der bestellte Kuchen sei, er jongliert mir einen Teller unterhalb der Nase. Eigentlich müsste er das wissen. Die Tasse Kaffee für 1.50 Euro ist erstaunlich preiswert. Fänden mehr Touristen den Krug, kostete sie mindestens zwei Euro.

 

Die Teilung im Detail

Januar. Die Großbuchhandlung „Hugendubel“ ist in Berlin eine hervorragende Adresse. Über mehrere Stockwerke finden die Interessenten meist, was sie an Büchern suchen. Im Hause sind einige Sitzecken angelegt, in denen Schmöker kostenlos gelesen werden. Durch die Fenster ist der Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu sehen. Unten vor dem Buchkaufhaus beginnt der Kurfürstendamm, die Touristenmeile. Vor einem Monat brachte der Göttinger Verlag „Die Werkstatt“ ein stattliches Werk über die Oberliga in der DDR auf den Markt. Darin wird beschrieben, dass Hansa Rostock einst Empor Lauter hieß, der Club von Sachsen an die Ostsee transferiert wurde. Dass Vorwärts Frankfurt (Oder) in den 35 Jahren der Oberliga des Staates der Arbeiter und Bauern erst Vorwärts Leipzig, dann Vorwärts Berlin und schließlich Vorwärts Frankfurt hieß und nie abstieg. Bei „Hugendubel“ finde ich im Angebot vom selben Verlag Vereinschroniken, zum Beispiel über den SC Freiburg, Bayern München oder Borussia Dortmund. Auch einen Geschichtsband über den Fußball des Ruhrgebietes „Land der 1000 Derbys“. Der Einkäufer von Hugendubel muss wohl glauben, dass im Westteil kein Interesse an der Geschichte des Fußballs in der DDR besteht. Der Interessent wird in den Ostteil fahren müssen. Im „Kulturkaufhaus Dussmann“, nahe dem Bahnhof Friedrichstraße, findet er das neue Werk, im Angebot sind auch die Vereinsgeschichten von Hansa Rostock, sogar vom BFC Dynamo Berlin. Der von Mielke bevorzugte Club Dynamo wurde zehn Mal in Folge Meister der DDR.

 

Alltagserlebnisse in Berlin

Januar. Pünktlich um 18 Uhr treffe ich mich mit einer sorbischen Kollegin im Café Zucca am Hackeschen Markt. Die Frau lebt nur wochentags in Berlin, an den Wochenenden in der Lausitz. Sie sitzt mir gegenüber, greift hinter sich zu ihrem Rucksack, wird blass und sagt: „Mein Geldbeutel wurde geklaut.“ Es geschah auf der Herfahrt in der S-Bahn. Der Rucksack liegt nun auf ihrem Schoß, ein Fach ist fachgerecht geöffnet worden. Darin steckte ihre Geldbörse. „Es waren 160 Euro“, sagt sie traurig. „Zum Glück sind die wichtigen Papiere wie Kreditkarten und Umweltkarte für die Bahn in einem andere Fach – und noch vorhanden.“ Ich hatte sie eingeladen, deshalb konnte sie ihren Kaffee im Zucca trinken.

 

Wohnen in Mitte

Januar. „Die anders rote Fahne“ ist der Titel einer Beschreibung der Kindheit in Thüringen und Jugend in Ostberlin. Im S-Fischer-Verlag ist der Roman der Autorin Ricarda Bethke als Taschenbuch im Januar erschienen. Sie beschreibt darin die Lebensbedingungen in Berlin-Mitte vor dem Bau des „imperialistischen Schutzwalls“, den Kinder in der DDR in der Schule nicht Mauer nennen durften. „Ich suche ein eigenes Zimmer. Ich hasse das meiste Gebaute in Berlin, die Neubauten der DDR, die Wohnburgen der Nazizeit und die Bahnhofsgotik der Gründerzeit, das kann ich alles nicht leiden. Leiden kann ich nur, was vor 1860 gebaut worden ist. Manche alten Mietshäuser mit den noch menschlicheren Maßen sind grau, verwahrlost, babylonische Brandmauern neben den Bombenlücken, schmutzige Höfe. In der Tucholsky-Straße stehen Häuser von vor 1860, so eben noch Wilhelm-Raabe-Häuser. Ich habe einen Zettel von der Studentenvermittlung und klettere die schwärzlichen Stiegen mit dem gedrechselten Geländer in den dritten Stock hinauf, klingle. Eine Alte öffnet, Schürze, Haarknoten, Umschlagtuch, 1860?

Ich stehe in einem schmalen Gang, Gerüche über Gerüche, verfaulte alte Lappen, Selleriekraut. Ofendunst? Der Gang ist vollgestellt mit einem kleinen schmierigen Tisch, mit abgeschlagenen Emailletöpfen und Eimern. ‚Das ist meine Küche‘, sagt die Alte.

Nie könnte ich da auch nur einen Tee kochen, denk ich. Das Zimmerchen ist hell, es hat Mullgardinen vor dem Erkerfenster, ein Bett mit den bekannten Kugeln auf den Pfosten und den kleinen Bogen zum Einsteigen in der Seitenwange. Eine betroddelte schneeweiße Bettdecke von 1910, ein wackliges Tischchen, ein Stühlchen aus dem Kaffeehaus. Sonniges, armes, weißbehängtes und sehr übelriechendes Angebot ...

Ich ziehe schließlich in ein Haus, dessen Torbogen, Prellstein und hohe Grundmauern noch zurückgehen auf 1780. Eine große alte Wohnburg aus Preußen, 1890 erweitert und umgebaut. Mein Zimmer ist hoch, hell, es hat zwei riesige Fenster nach Westen, eine Linde davor, ein Schulhof mit Bäumen als Aussicht. Es ist frisch tapeziert und leer. Vom Flur hat man ein Kabinettchen abgeteilt, dort ist das Klo. Bad gibt es nicht. Die Kohlen kommen in die Speisekammer.“

 

In der Nacht brannten Autos

Januar. Mitte Januar, so meldete das Berliner Fernsehen, brannten auf der Oranienstraße in Kreuzberg zwei Autos. Abgefackelt – den Begriff verwenden inzwischen auch die Medien. In den Jahren zuvor wurden Autos am 1. Mai angezündet. Es brannte im Januar am Heinrich-Platz. Dieses kleine Rund mit einer Bushaltestelle darin wirkt tagsüber leicht schmuddelig. Offensichtlich wird der Platz auch in einigen Reiseführern genannt, denn bieder gekleidete Touristen schauen oft ängstlich statt interessiert auf die Gebäude. Durchschnitten wird er von der Oranienstraße. In dem Wahlbezirk um den Kreuzberger Heinrich-Platz erhielt bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus die PDS fast 30 Prozent, das höchste Ergebnis der Ex-SED im Westen. Nur in einem Mietshaus am Platz gibt es weder Geschäfte noch Kneipen. An der Fassade steht in schwarzer Schrift: „3. 10. Deutschland Kaputtschlagen.“ Direkt über dem Spruch schaut ein Junge türkischer Abstammung aus dem Wohnungsfenster. Er wird den Text nicht lesen können. Zwei Stockwerke darüber hängt ein nicht mehr sauberes einst weißes Tuch: „AMI go home.“ Im Gebäude daneben heißt das alternative Geschäft „grüne papeterie“. Ausländer beherrschen das Bild und Alternative, die noch nicht ganz aus der Gesellschaft ausgeschieden sind. Aber auch Freizeitgenießer hocken in den Lokalen. Touristen verschwinden kurz nach ihrem Auftauchen wieder. Im Zentrum des Heinrich-Platzes steht eine historische Imbissbude, die wegen ihrer frischen Baguettes in der Szene sehr gelobt wird. Im Winter schützt ein Windfang die Kunden vor der Kälte. Das Angebot ist auf kleiner Fläche sehr groß: Eine freundliche Asiatin verkauft preiswerte Pullover, schon der Name „Hanf-Haus“ ist ein Programm, dem „Gül Imbiss“ folgt direkt die Konkurrenz. In dem japanischen Lokal MAMASU gefallen sich besonders die Gäste, die mit Stäbchen essen – das soll Weltgewandtheit im Kiez demonstrieren. Dem japanischen Schnellrestaurant gegenüber liegt ein Café, an dessen Tür über viele Monate der Text auf einem Pappschild warnte: „Achtung – Taschendiebe“. Das Schild ist weg. Entweder gibt es keine Taschendiebe mehr oder es wurde von ihnen geklaut. Dies zu erfragen wage ich nicht. Es gibt am Heinrich-Platz das „Café Jenseits“ ohne Warnung vor Dieben. Für Kneipengänger empfiehlt sich das Lokal „Zum goldenen Hahn“ mit vielen Biersorten im Angebot. In einigen Essensführern wird die „Rote Harfe“ empfohlen. Für 7.50 Euro ist täglich mittags ein Menü aus drei Gängen im Angebot. Es sind drei Köche in der „Roten Harfe“ beschäftigt. Sie haben begeisterte Anhänger unter den Gästen. Die im Übrigen durchweg von den Servierfrauen geduzt werden. Die vielen Zeitungen und Zeitschriften im Aushang des Lokals tragen gut sichtbar den Stempel „Rote Harfe“. Trotz der klaren Markierung werden dort besonders gern die Szeneblätter „tip“ und „zitty“ geklaut.

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