Hans Dieter Baroth   Home
Berliner Notizen - 2004 - Februar
Sie sehen die Druckversion

 

Ein Reporter arbeitete schwer

Februar. Tschechiens Ministerpräsident Vladimir Spidla betritt um 16.58 Uhr den Raum. Der Mann ist grauhaarig, schmal, fast zierlich. Hinter ihm ein Gefolge von Referenten und Assistenten. In der Monarchie werden sie Paladine oder Schleppenträger genannt. Der frühere ZDF-Intendant Stolte ist gekommen, um Spidlas Vortrag mit dem wenig fesselnden Titel „Europa als Aufgabe“ ab 17 Uhr zu hören. Auch der eventuelle SPD-Generalsekretär Benneter ist anwesend und setzt sich unauffällig in die hintersten Stuhlreihen. Nach vorn drängt es Richard von Weizsäcker und Egon Bahr. Nach einer Einführung von Anke Fuchs beginnt der Ministerpräsident um 17.05 Uhr seinen Vortrag in deutscher Sprache sehr leise, so als sei es eine Vorlesung in einer kleinen Uni. Er ist so schlecht zu hören, dass ein Reporter des rbb sein Mikrofon mit gestrecktem Arm vor einen Lautsprecher an der Wand des Saales halten muss. Ein Referent kurbelt das Rednerpult höher, Vladimir Spidla ist weiterhin kaum zu hören. Im überfüllten Saal herrscht totale Ruhe. Der Reporter nimmt das Mikrofon von einem Arm in den anderen und hält es hoch. Erstmals bricht Beifall aus, ein Mitarbeiter hat das Mikrofon am Rednerpult näher an den Mund des Vorlesenden gehievt. Der Ministerpräsident lächelt verschmitzt, er weiß den Beifall zu deuten. Doch nach Minuten ist er wieder kaum zu hören. Eine Journalistin vor mir macht sich deshalb keine Notizen mehr. Der Mann vom Rundfunk hält weiter steil einen Arm nach oben. So hart sah ich noch nie einen Rundfunkmann arbeiten. Der Ministerpräsident liest 40 Minuten. Und der Mann vom rbb hält zeitgleich das Mikrofon kerzengerade hoch. Der Euro wird in Tschechien nicht vor 2009 eingeführt, erfahren die, die was verstanden haben. Und Europa müsse eine eigene Militärmacht aufbauen. Der Journalist hält tapfer einen Arm steil nach oben. Vladimir Spidla sitzt einer Koalition mit drei Parteien vor, die im Parlament nur über eine Stimme Mehrheit verfügt. Trotzdem wagte er sich nach Berlin. Es folgen Fragen aus dem Kreis der Zuhörer. Vladimir Spidla antwortet kurz und witzig. Der Reporter bleibt an derselben Stelle, weiter den Arm hoch gestreckt bis an den schwarzen Lautsprecher. Gelegentlich überprüft er den Lauf seiner Diskette. Exakt 90 Minuten dauert die Veranstaltung. Pünktlich muss der Tscheche den Raum wieder verlassen. Niemand würdigt die Schwerarbeit eines Mannes vom Berliner Sender, der über diese Zeit ständig einen Arm steil nach oben hielt.

 

Krauses hohe Kosten

Februar. Friedrich Wilhelm von Krause hat hoch investiert, um Berlinern in Erinnerung zu bleiben. Wuchtig ragt sein Mausoleum am leicht steigenden Hang des Dreifaltigkeitsfriedhofs in den winterlichen Himmel. Ein Protzbau ist sein Grab. Es überragt eine Gedenkstätte wenige Meter weiter, die für eine süddeutsche Adelige errichtet wurde. Adel und Arbeiter sind auf dem Friedhof an der Bergmannstraße in Kreuzberg im Tode vereint. Aber nur körperlich. Es sind eingefallene schmale Gräber von so genannten einfachen Menschen zu sehen. Kontrastreich einschüchternd  dagegen die gewaltigen Aufbauten der Reichen. Einmal für die Familie Wertheim, teuer auch die letzten Quadratmeter, die sich die Sippe Halske bauen ließ. Ob es der Partner von Siemens & Halske war? Möglich. Einem römischen Tempel ähnlich ließ Friedrich Wilhelm von Krause seine Grabstätte errichten. Sie wird von einer riesigen Kuppel überragt, in ihr steht eine Christusfigur, die in ihrer Pracht mit der am Zuckerhut oder jener am Tejo vor Lissabon konkurrieren könnte. Friedrich Wilhelm von Krause (1802 – 1877) steht auf einer verwitterten Grabplatte. Die Daten der Gattin sind undeutlich geworden. In ihrem Mausoleum hat ein Tierfreund Vogelfutter ausgelegt. Denn auf dem marmornen Boden ist es schneefrei. So hat die Protzsucht des ehemaligen Krause 127 Jahre nach seinem Tod noch einen praktischen Sinn bekommen. Rechts neben dem tempelähnlichen Grabdom sind die Nachfahren weniger aufwändig bestattet worden. Ob sie weniger Geld hatten oder es für die Geltungssucht danach nicht anlegen wollten, bleibt dem Betrachter unklar. In einem verwilderten Grab mit einem schlichten Holzkreuz wurde Gisela von Krause bestattet. Die bald unleserlichen Daten sind 1925 – 1945. Welch ein Leben hatte die nur 20-Jährige: Faschismus, Hitlerjugend, Krieg, ob sie nach der Befreiung Berlins starb oder im Kampf um Berlin?

 

Sprüche aus Suhl

Februar. „Ganz Berlin steht hinter der Hertha“, behauptete sachlich falsch der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit und trat zu Jahresbeginn dem Club bei. Mehrere sehr dicke Adressbücher könnten gedruckt werden, würden die Namen und Anschriften der Berliner veröffentlicht, die nicht hinter der Hertha stehen. Die startete im Februar als Tabellenletzter der höchsten Fußballliga. Da titelte der „Tagesspiegel“ nicht ganz korrekt: „Tiefer geht’s nicht.“ Doch – ab Mai in der Zweiten Liga. Retten soll den Verein ein Sprücheklopfer vom einstigen Club Motor Suhl: Hans Meyer. Er war Assistent des DDR-„Nationaltrainers“ Buschner und hat wohl von dem den Hang zur Arroganz übernommen. So sieht es die „Berliner Zeitung“. Die Boulevardpresse feierte ihn vor dem Rückrundenstart mit dem täglichen Abdruck seiner Pointen. So gab es den Meyer des Tages. Seriöse Blätter erinnerten in einer Auflistung an die Kraftsprüche von Spielern und Verantwortlichen der Hertha vor dem Start im Sommer 2003. Zu der Zeit war der Niederländer Huub Stevens Trainer. Endlich greife die Elf zur Meisterkrone! International werde die alte Tante Hertha mitspielen – und sie verlor und verlor und verlor. Als der Niederländer Stevens gescheitert war, holten sich „die Berliner“ zu ihrem Großmaulimage passend den Sprücheklopfer aus Suhl. Der verbannte vor dem Rückrundenstart ein anderes Großmaul aus dem Kader, den so genannten Stürmer Fredi Bobic, der sich auf einer Internetseite ständig zur Lage der Liga äußert. Über ihn schrieb „Der Tagesspiegel“: „Er ist ein sehr kommunikativer Mensch, redet gerne bei der Arbeit, und mit dieser Art hat er sich nicht nur Freunde gemacht.“ Bobic passe nicht in sein Konzept, lautete der Bannspruch des Trainers Ende Januar. Doch der Spruch galt nicht einmal eine Woche – er berief den Mann beim ersten Rückrundenspiel in Bremen in den Kader. Und hatte damit an Glaubwürdigkeit verloren. Das 0:4 gegen die Hansestädter hatte deshalb nur noch statistischen Wert.

Medien sind gnadenlos. Der im Januar so gelobte Sprücheklopfer musste am 1. Februar in dem Blatt „Kurier“ auf der Frontseite lesen: “Au weia Herr Meyer“. Originalton des ehemaligen Kickers von Motor Suhl nach dem Rückrundenstart: „Wir haben vier Wochen trainiert und ich denke, dass das, was ich verändern konnte, für 20 Minuten gereicht hat.“ Darauf höhnte die „Berliner Zeitung“: „... dass sich pro Trainingswoche 4,25 Minuten hinzugewinnen lassen. Um auf 90 Minuten Verbesserung zu kommen, bräuchte die Hertha 17 Wochen.“

Die „Berliner Zeitung“ berichtet am 7. Februar, dass die Hertha nicht gegen den Abstieg versichert sei. „Wer als Saisonziel öffentlich die Champions League formuliert, kann sich schlecht heimlich gegen den Abstieg versichern.“ Am selben Tag informiert nicht ohne Schadenfreude die „Süddeutsche Zeitung“, Klaus Wowereit habe sich vor Beginn der Saison Schröder gesagt, er werde den Meister in Berlin empfangen und nicht der Bundeskanzler. Gemeint war die Hertha.

Weil der VfB Stuttgart fürchterlich schlecht spielte, gewann die Hertha ihr erstes Heimspiel im neuen Jahr mit 1:0 gegen die Schwaben. Während der Übertragung hieß es im Sender „premiere“ zur Halbzeit: „Abspielfehler auf Abspielfehler, da sieht sogar Hertha BSC einen Kick besser aus.“ Zwei Mal in 45 Minuten hatten die Berliner auf das gegnerische Tor geschossen. Die Bilanz des Reporters, die Niederlage habe Stuttgart „sich selbst zuzuschreiben, so inaktiv haben sie gespielt.“ In bekannter Berliner Großmäuligkeit sprach am Sonntag um 19.59 Uhr eine Sprecherin im Stadtsender rbb – früher SFB – von „der neuen Ära“. Sachlicher die „Berliner Zeitung“: Herthaner im Glück“. In der ARD wurde über den nach wie vor letzten Tabellenplatz gehöhnt, Hertha BSC spüre weiterhin keinen Verfolger im Nacken.

Einen Tag später verlor Union Berlin bei Energie Cottbus 2:1. Einige Fans sahen die Fernsehübertragung in der Kneipe „Bier-Keller“. Als die Unioner den Ball nicht aus dem Strafraum bekamen und danach stocherten, rief einer voller Empörung: „Was herthanern die denn da rum“!

Am 12. Februar erinnerte die „Berliner Zeitung“ den von Motor Suhl daran, dass er Fredi Bobic „vorübergehend aussortieren wollte.“ Und nun kam von Meyer der Spruch: „Bobic und Marcelinho sind derzeit unersetzbar.“ Adenauer soll gesagt haben, was interessiere ihn sein Geschwätz von gestern.

Der 14. Februar ist ein Samstag. In der Gaststätte mit Anhängern der Union in Berlin-Friedrichshagen herrscht während der Live-Berichte der Bundesliga die Lautstärke einer Leichenhalle – absolute Stille. Nur die Stimme des Fernsehreporters ist aus Freiburg zu hören, wie die des Predigers bei einer Beisetzungsfeier. Hertha führt 0:1, sie führt 0:2, sie erreicht das 0:3 – Totenstille. Freiburg erzielt das 1:3 – einige haben Hoffnung. Ein Elfmeter für Freiburg, 2:3 – verhaltener Jubel. Hertha gewinnt und steht an diesem Samstag vorerst nicht auf einem Abstiegsplatz. „ Na ja, am Sonntag spielt Kaiserslautern, die können noch vorbei ziehen“, sagt einer. „Nach diesem Sieg werden die in den Zeitungen schon wieder von der Champions League schreiben“, resümiert ein anderer Gast und bezahlt. Zum Schlusspfiff kam aber Jubel auf unter den Anhängern von Union Berlin: Der VfL Bochum schlug Bayern München.

Während nach dem Sieg über den VfB Stuttgart in der Vorwoche noch die BZ wahrheitsgemäß titelte „Herthaner im Glück“, schrieb „Der Tagesspiegel“ nach dem Spiel in Freiburg ungeniert: „Siegen in Serie“. Das erinnert an die Geschichte: Ein Bayer fragt einen Berliner, ob es an der Spree auch die Alpen gebe. Die typische Berliner Antwort: „Es gibt die Alpen nicht, hätten wir sie, wären sie aber höher als bei euch.“

Am Samstag vor dem Spiel Hertha gegen Eintracht Frankfurt war es selbst bei den Gästen in der Unionkneipe „Bier-Keller“ klar, dass die Berliner im Olympiastadion eigentlich nur die Pflicht hatten, zu dem Sieg persönlich zu erscheinen. Hertha BSC Berlin wurde von den Frankfurtern so klein gemacht wie sie spielerisch ist. Nach der 1:2-Heimniederlage resümierte „Manager“ Dieter Hoeneß im lokalen Fernsehen rechnerisch falsch: Das war ein so genanntes Sechs-Punkte-Spiel gegen einen direkten Konkurrenten. „Hätten wir gewonnen, wären wir sechs Punkte von denen entfernt, jetzt sind wir punktgleich.“ Laut offizieller Tabelle der Bundesliga hatte Frankfurt 20 Pluspunkte, Hertha nur 19. Der ehemalige Spieler von Motor Suhl, Hans Meyer, äußerte sich am Abend in der Sendung „Sportpalast“ des rbb sarkastisch über einzelne Spieler. Sich öffentlich über Fußballer der eigenen Mannschaft abfällig zu äußern ist auch die Unart von Dortmunds Trainer Mathias Sammer. Beide sind Ostdeutsche. Ob sie wohl geprägt sind von der DDR, in der ein Sportler zur Leistungsmaschine degradiert war? Rechte hatte der nicht, der hatte zu schlucken, was ihm gegeben wurde. Die Zeitung „Tagesspiegel“, die eine Woche zuvor noch vollmundig von Siegen in Serie geschrieben hatte, titelte ihren Bericht: „Hertha, der Herbst ist da.“

Der um einen Tag verlängerte Februar brachte zwei Berliner Clubs Glück: Am 29. des Monats erreichte Union  erstmals nach langer Zeit einen Nichtabstiegsplatz in der 2. Bundesliga, die Hertha wieder einen in der 1. Liga. Während „Der Tagesspiegel“ im Gegensatz zur Vorwoche jauchzt „Selten so gejubelt“ in seinem Bericht über den 3:1-Erfolg der Herthaner in Hannover, zeigte sich die „Berliner Zeitung“ nicht so wankelmütig. „Vergeben und vergessen“, so die Titelzeile. Aber darunter steht in großen Lettern: „In Hannover sündigt Hertha sträflich bei der Chancenverwertung und gewinnt trotzdem.“ Dieter Hoeneß hat weiter Rechenprobleme. „Heute haben wir ein Sechs-Punkte-Spiel gewonnen“, wird er zitiert. „Es ist nicht so, dass es heute sechs Punkte gibt“, darauf Hans Meyer. Seine Sprüche nähern sich der Realität.

 

Noch ein Sprücheklopfer

„Die Berliner sind neugierig, aber unbegabt.“
Intendant Claus Peymann in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 7. Februar 2004.

 

Neues von der Post

Februar. Ein Einschreibbrief erreichte den Adressaten nicht. Aufgegeben wurde er im Januar in der Postfiliale an der Bölschestraße in Berlin-Friedrichshagen. Das ist deshalb peinlich, weil ich mich über die Unfreundlichkeit und Kundenfeindlichkeit des Personals bei der Aufsicht beschwert hatte. Der Suchauftrag war im Ergebnis negativ. Nun stehe ich in der Postfiliale. Die Antwort „Guten Tag“ kommt quälend. Ich berichte, dass ein hier angenommener Einschreibbrief verloren gegangen sei. Achselzucken. Wie das denn passieren könne. „Täglich sind Millionen Briefe unterwegs“! „Werden Einschreiben nicht besonders behandelt?“ „Da kann schon mal einer vom Laufband fallen und wird nach Wochen gefunden, wenn gereinigt wird.“ Laut Auskunft der Post gehen zwei Prozent der Einschreibbriefe verloren. Beim Abschied in der Bölschestraße sind die beiden Frauen an dem Verkaufstresen ehrlich. Mein „Auf Wiedersehen“ beantworten sie nicht. Einige Tage später sind sie vom bösen Verdacht befreit. Vom Empfänger erfahre ich, dass er das Schreiben erhalten habe.

 

Was betuchte Berliner brauchen

Februar. Die „Abendschau“ des Berliner Fernsehsenders widmete der Eröffnung eines Geschäfts einige Sendeminuten. MANUFACTUM eröffnete einen Laden am Ende der Knesebeckstraße in Charlottenburg. Hier gibt es Szeneläden, Szenegaststätten, Szenebuchhandlungen und Szenebewohner. Die Szene wurde erweitert um ein Geschäft für betuchte Berliner. Bei hohen Preisen können sich Nostalgiker in die Zeit der 60er Jahre kaufen. Die Besucher im MANUFACTUM sind solide alt, teuer gekleidet, aber nicht immer geschmackvoll. Bei den älteren Herren ist ein Hang zum Englischen unübersehbar. Pepitamustermantel mit Pellerine und dazu die Kopfbedeckung, ebenfalls gemustert und mit einem Mützenschirm hinten und vorn, wie sie einst Sherlock Holmes trug, so kostümieren sich nicht wenige. Bei den Frauen werden Kostüme aus festem Tuch bevorzugt, kräftige Hüte auf gefärbtem Haar sind nicht selten. Im Angebot sind Mützen, wie sie 1960 getragen wurden – aber in Osnabrück! Schirme gibt es für 118 Euro, entscheidend ist jeweils das Aussehen nach Vergangenem. Garantiert unmodern ist die Devise, was fälschlich auch als zeitlos begriffen werden könnte. Eine Grubenlampe für die beleuchtete teure Schrankwand steht für 110 Euro im Angebot. Aber auch Kaiser Natron in der neuen alten Verpackung. Kaiser Natron wurde nach dem Krieg auch von Arbeiterfrauen benutzt. Laut Beipackzettel soll es als Beigabe für Gemüse hervorragend sein. Ein Teelöffel davon in ein Glas Wasser ergebe ein erfrischendes Brausegetränk. Welchen Kunden aus den rentennahen Jahrgängen erinnert das nicht an die Kindertage? Auch der einst zu Jugendzeiten von Horst Buchholz so moderne Strickschlips ist bei MANUFACTUM zu erstehen. Er wurde von der Kleinstadtjugend als Zeichen der Moderne getragen. Der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel beschreibt in seinem Roman „Tristanakkord“ eine Bloßstellung. Seine Hauptfigur stammt aus dem Emsland. Bei einer Premierenfeier in New York lästert ein berühmter Komponist: „Blazer mit Strickkrawatte. Typisch Emsfelde.“ Der verhöhnte Mann heißt in dem Roman Georg. Im „Tristanakkord“ folgt: „Das war auf Georg gemünzt, der in der Tat einen blauen Blazer mit Metallknöpfen und eine weinrote Strickkrawatte trug. Er hatte schon während des Abends gemerkt, dass er nicht ganz passend gekleidet war.“ Für auffällige Preise können ab Februar Hauptstädter den einstigen Geschmack der Emsländer kaufen und sich wie die kleiden.

 

Noch ein wenig DDR in Berlins Mitte

Februar. „Nehmen Sie doch ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee als Gedeck, dann sparen sie einen Euro“, sagt Herr Stange. Der junge Herr Stange ist ein freundlicher Mann. Er versucht untypisch im Kapitalismus nicht die höchsten Preise zu erzielen, er berät Kunden freundlich. Herr Stange ist im Hotel „Unter den Linden“ an der historischen Straße Unter den Linden Kellner. Das Haus ist äußerlich noch als Bau der DDR zu erkennen: Plattenbau im HO-Design. Im Innern gibt es noch den klobigen Charme der DDR, aber es riecht darin nicht mehr nach volkseigenen Putzmitteln. Viele Möbel stammen noch aus der Zeit des Staates der Arbeiter und Bauern, meist sind sie eckig oder kantig, sie erwecken den Eindruck, als würde in dem Haus alles intensiv mit Bohnerwachs gepflegt. Nicht nur der Kellner Stange ist freundlich, auch seine Kolleginnen lächeln die Gäste bei jedem Blickkontakt an. Das ist für Berlin völlig untypisch. So wird es in der DDR nicht gewesen sein, als das Hotel „Unter den Linden“ an der Ecke Friedrichstraße ein Treffpunkt für Spione war. Gabriele Gast nennt diesen Treffpunkt in ihrem Buch „Kundschafterin des Friedens“. Untertitel: „17 Jahre Topspionin der DDR beim BND.“ Sie war beim BND in München-Pullach beschäftigt und trug die Informationen zum politischen Gegner. Die Einreise erfolgte mit einem Tagesvisum über den Bahnhof Friedrichstraße. In dem jetzigen Restaurant „Tilia“ erwartete sie der Führungsoffizier, in Doppelfunktion auch noch ihr Liebhaber. Über den Tisch geschoben bekam Gabriele Gast falsche Papiere. Mit denen ausgestattet reiste sie nach Karl-Marx-Stadt oder Plauen. Hier wurde sie informativ ausgeschlachtet wie eine Weihnachtsgans. Zurück in Berlin, erhielt sie wiederum in diesem Hotel von der Spionageabteilung des Mischa Wolf einen umdatierten Tagesausweis. Mit dem reiste sie unbeanstandet vom nahen Bahnhof Friedrichstraße hinüber nach Westberlin. Rund 14 Jahre später scheint die Wintersonne in das Restaurant. Draußen schnurren Busse mit den Nummern 100 und 200 vorbei, gefüllt mit Touristen. Nebenan in einem weiteren Restaurant ist Wels im Angebot, gelegentlich dringt dessen Geruch herüber. Wenige Geschäftsleute sitzen an den kleinen Tischen mit den langen weißen Decken darauf, essen, telefonieren oder notieren. Drei US-Amerikaner tragen Cowboyhüte und reden zu laut. So stellt man sich in Deutschland Texaner vor. Herr Stange ist zu allen freundlich. Draußen ist es kalt. Im Hotel ist es kuschelig warm. Nicht nur das Mobiliar erinnert an den schmählich untergegangenen Staat, auch die Lichtschalter. Für die Gäste ist wie früher die „Berliner Zeitung“ ausgehängt. Sie war vor 14 Jahren das offizielle Blatt der SED-Bezirksleitung von Berlin. Der Parteichef hieß Günter Schabowski, er ließ sich darin loben. „Neues Deutschland“ wird nicht mehr abonniert. Die Einrichtungen der Toiletten sind noch DDR pur. Ich frage eine Reinigungsfrau, ob sie „im anderen Staat“ schon hier arbeitete. Sie verneint das. Die Geschichte von dem Spionentreff scheint sie mir nicht zu glauben. Beim Verlassen des Hotels verkürze ich den Weg zum Kulturkaufhaus Dussmann, ich gehe durch die Hotelhalle an der Rezeption vorbei – freundliche junge Frauen rufen mir ein „Auf Wiedersehen“ nach. Hier scheint der Gast nicht König zu sein, aber geachtet wird er. Der Plattenbau verfügt aber 331 Zimmer.

 

Sechs arme Berliner Jungen

Februar. Die S-Bahnstation in einem kleinbürgerlich behaglichen Viertel in Friedenau heißt Bundesplatz, eine von dort abführende Hauptstraße Tangente. Auffällig für den Besucher sind mehrere Cafés an der Tangente. Das Atelier eines Modefotografen fällt hier als mondän auf. Einen beachtlichen Kontrast bedeutet wenige Meter weiter ein Geschäft mit Holzgeschnitztem im Angebot. Rechts an der Hauptstraße vom Bundesplatz abführend – er hat seinen Namen nicht wegen der Bundesregierung! - liegt hinter bemoosten Gemäuern ein alter Friedhof. Dass der Bestattungsunternehmer wenige Meter daneben Schwarz heißt, dürfte reiner Zufall sein. Ich stelle mir aber vor, dass der Inhaber Schwarz stets schwarz gekleidet ist. An der Stubenrauchstraße frage ich die Postbotin nach dem Restaurant-Café „Eitz“. „Ist nicht mein Revier, meines endet hier an dieser Straße.“ Die zweigt ab von der Tangente, sie ist umsäumt von hohen alten Mietshäusern aus der Kaiserzeit. Hier wohnt wohl das etwas gehobene Bürgertum. Die Gaststätte „Taunus“ als gemütliche Kneipe wirkt wie die Fehlplanung eines Architekten. In den dreißiger Jahren lebten in einem der ersten Häuser einstmals sechs arme Berliner Burschen, die eine Gesangsgruppe bildeten mit dem Namen Comedian Harmonists. Eine Tafel erinnert an sie. Die erfolgreiche Gesangsgruppe fiel 1935 auseinander, weil drei der einstmals armen Jungen Juden waren. So steht es nicht auf der Gedenktafel. Aber das ist die wahre Geschichte. Das der Postbotin unbekannte Café und Gasthaus „Eitz“ liegt dreißig Meter von der Stubenrauchstraße entfernt, in der Wilhelmshöherstraße 15. Offensichtlich fährt die Briefbotin täglich in der anderen Richtung nach Hause. Oder sie radelt daran vorbei und interessiert sich nicht dafür, was sie nach Feierabend sieht.

Es ist zehn Uhr. Das Lokal ist geöffnet. An der Theke sitzt ein kräftiger Mann in Kochkleidung, er saugt leidenschaftlich an seiner Zigarette. Hinter der Eingangstür liegt ein kleiner Köter im Weg, er weicht dem Gast nicht. Ich muss um dieses Felltier herumgehen. Eine mollige Blonde streichelt den Hund mit Hingabe. Hoffentlich ist sie nicht die Serviererin. Ein auffällig schlanker Kellner legt die Karte auf den Tisch. Ich frage nach Kuchen. Ein irritierter Blick – nicht im Angebot. Der aus dem Ausland stammende Mann berichtet schwer verständlich von einer Art Kuchen, der „notfalls“ heiß gemacht würde. Die Bestellung ist mir zu riskant. Ich bitte um einen Milchkaffee und warte geduldig auf eine Bekannte, die fünf Minuten zu spät kommt, was ihr peinlich ist. Die Köterstreichlerin ist zum Glück auch ein Gast. Ob die sechs Jungen der Comedian Harmonists früher hier in dem Restaurant waren? Oder war hier die SA zu Hause und sie trauten sich nicht? Den Koch wage ich nicht zu fragen. Er weiß sicher nichts über die Zeit. Hinge die Gedenktafel nicht an dem Wohnhaus, wer wüsste hier in Friedenau noch was von den einst weltberühmten Berliner Burschen?

Verwendung nur mit Zustimmung des Autors