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Berliner Notizen - 2004 - März
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Mut durch Münte

März. Die Demonstranten sind müde geworden. An Frühlingsanfang ist vor dem Berliner Hotel Estrel niemand von ihnen zu sehen. Vor einem Jahr mussten die Delegierten und Gäste am selben Ort zum Bundesparteitag der SPD durch ein Spalier vieler protestierender hauptamtlicher oder semiprofessioneller Gewerkschafter schreiten. Trillerpfeifen malträtierten die Ohren, bedruckte Pamphlete wurden den Sozis in die Hände gedrückt. Nun frieren hier wenige Polizisten vor dem Hotel. Die Hauptamtlichen sind entweder entkräftet von ihren Protesten oder bequem geworden. Sie genießen den Sonntagsschlaf oder bestellen ihre Gärten im so genannten Berliner Speckgürtel. Nur dem Hoteleingang gegenüber stehen zwei in helle Trenchcoats gekleidete Mittfünfziger mit einem Transparent: Eine Bitte an die CDU, sie möge Gerhard Schröder die Ehrenmitgliedschaft andienen. Lediglich Touristen schauen hin. Das Estrel ist eine bevorzugte Schlafstätte für Wochenendtouristen aus Oelde, Meppen oder Großbreitenbach. Die SPD muss sparen. Deshalb reisen die Delegierten aus den Ländern jeweils geschlossen in Bussen an. Die aus NRW stehen im Stau, die aus dem Rest der Republik müssen eine knappe Stunde auf die Eröffnung des Parteitags warten. Die Zeit nutzt Christoph Matschie aus Thüringen, um sich von n-tv live interviewen zu lassen. Aus einiger Entfernung gleicht er Guido Westerwelle. Die meisten Politiker aus der Garde um die 40 sehen dem und somit sich alle ähnlich, gleich aus welcher Partei sie kommen. Ludwig Stiegler aus Bayern wird zehn Meter weiter von N 24 interviewt. Nicht nur wegen seines roten Pullovers fällt er auf, der Mann ist noch einer von der kantigen Sorte unserer Politiker. Das delegierte Fußvolk konnte Kugelschreiber von der IG BCE sammeln oder einen, wohl als Referenz an den Autokanzler ausgestellten Audi bewundern. Über die an dem neuen A 6 Interessierten schreibt danach „Der Tagesspiegel“: „Oft etwas verschämt, als fürchte man insgeheim die kritischen Blicke der Basis in den Ortsvereinen. Das ausgestellte Modell kostete 69 100 Euro.“ Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Henning Voscherau liest wie selbstvergessen in einer Zeitung. Der rote Schal à la Müntefering wird von einigen Anwesenden wie eine Trophäe getragen. Unter den Gästen ist auch Frank Teichmüller. Er ist Bezirksleiter Küste der IG Metall und wäre gern zum Ende seiner hauptamtlichen Karriere Vorsitzender des Verbandes geworden. Er trägt eine schwarze Lederjacke im Blouson-Stil, sehr gewagt für sein Alter. An der Hand fällt eine Art großer Pilotenkoffer auf: Scheinbar wichtige Leute erkennt der Zeitgenosse an ihrem tragbaren Büro, die unwichtigen stehen in den Gängen mit dem Handy am Ohr. Am Kopf der Präsidiumstribüne sind auf einer Laufschrift die Namen aller Delegierten zu lesen. Am alphabetischen Ende der SPD steht ein Gerhard Zorn.

Fast eine Stunde später als ausgedruckt „schreiten Seit an Seit“ der alte und der mutmaßlich neue Vorsitzende unter einem Klatschmarsch in den Hotelsaal. Die Klatschlängenzähler der Medien haben ihre Stoppuhren in den Händen. Parteitage und Gewerkschaftskongresse ähneln in ihren Ritualen denen in der zum Glück untergegangen DDR: Die Delegierten erheben sich von den Plätzen und es wird im Rhythmus geklatscht. Wer sitzen bleibt, der sieht nur noch Rücken und Gesäße der Vorderleute. Wie in der DDR beenden die Anwesenden fast gleichzeitig ihre Huldigungen an die politischen Führer. Bei der Nennung des Namens Sommer zur Begrüßung sind am Tage des Frühlingsanfangs vereinzelt Pfiffe zu hören. Oder galten sie der Riege der anwesenden Gewerkschaftsvorsitzenden? Der Beifall für den Präsidenten des DSB, Manfred von Richthofen (CDU), ist im Vergleich freundlicher. Lea Rosh, körperlich verschlankt, zurzeit schwarzhaarig, kommt so zu spät auf die Gästetribüne, dass sie von denen gesehen wird, die sie (er)kennen. Bundeskanzler Schröder macht in seiner emotional vorgetragenen Rede den Delegierten klar, dass es keinen Schritt mehr zurück gibt in den so warmen Sozialstaat. Ein Jahr nach seiner Bundestagsrede zur Agenda 2010 scheinen es zumindest die rund 500 Delegierten begriffen zu haben, worum es in Deutschland geht.

Jochen Vogel, der nach ihm spricht, ist der (pensionierte) Oberlehrer geblieben. Er ist nach Schröder der Danksager und Schulmeister. Zumindest ist er inzwischen in der Lage, über seinen Hang zu Wiedervorlagen zu witzeln.

Der wie Friedrich Merz sauerländisch hagere Franz Müntefering aus Sundern spricht mit kurzen Sätzen, einer fast schlichten Prosa. Seine Beispiele sind lebensnah. Obwohl Sauerländer, ist er gelegentlich ironisch. Opposition gehöre zur Demokratie. Aber in der Opposition zu sein sei Mist, „das sollen die anderen machen.“ Münte, wie er liebevoll genannt wird, zitiert als sein Credo Hanna Arendt, „Politik ist die angewandte Liebe zum Leben.“ Ihm glaubt das wohl jeder in der Kongresshalle.

Zwischen den Reden werden jeweils fünf Diskussionsbeiträge eingebaut. Wohl dosiert, die Regie klappt. Auch Ursula Engelen-Kefer ist zu hören. „Gut, dass die nur fünf Minuten reden darf“, sagt eine Frau neben mir. Währenddessen läuft Michael Sommer mit routinierter finsterer Miene suchend durch die Reihen der Gäste. Er hat wieder zugenommen. Klaus Uwe Benneter hat sich eine gute Rede aufgesetzt, die er grottenschlecht verliest. Er hebt oder senkt seine Stimme nicht. Monoton ebnet er jeden Gag ein. Der Monotonist erhält wohl auch deshalb 16 Prozent weniger Zustimmung als Franz Müntefering, der mit über 95 Prozent fast ein volksdemokratisches Ergebnis einfährt. Draußen am Ufer des Teltowkanals vor dem Hotel steht wie verloren frierend ein Mann mit einem Pappschild in der Hand. „SPD=Betrug“. Nicht einmal die Touristen aus der Provinz schauen hin. Sie laufen an ihm vorbei zur Sonnenallee, jenem längeren Stück der Straße, das früher in Westberlin lag.

 

An der verarmten Residenz

März. Der Schäfersee in Berlin-Reinickendorf ist ein groß angelegter Teich. Es hieß in der „Berliner Zeitung“, das denkmalgeschützte „Café am See“ sei für viel Geld restauriert worden. Aus einem neuen Wintergarten könnten die Gäste auf  den Schäfersee schauen. Der Teich liegt 20 Meter entfernt von dem Café, im Sommer verdeckt Grün die Sicht. Die Terrasse vermittelt lichtdurchflutete Gemütlichkeit. Über Mittag dominieren Rentner im Lokal. „Heringe Hausfrauenart mit Salzkartoffeln 4.90 Euro“. So steht es mit Kreide unter dem „Tagesangebot“. Wenige Meter von dieser Oase braust der Verkehr über die Residenzstraße. Sie hält nicht, was der Name verspricht. In diesem Bereich wirkt Reinickendorf verarmt und kleinbürgerlich. Kleine Bäckereiläden, Filialen von Backketten, Haushaltswarengeschäfte und einige Dienstleistungsbetriebe flankieren die Residenzstraße. Die Imbissbuden oder einige biedere Lokale konkurrieren unter dem Druck, dass jeder den anderen unterbieten will. Die Haushaltswarengeschäfte werden wohl seit Generationen von derselben Familie geführt. So manche hinter der Theke stehende Inhaberin hat die Luftbrücke noch als Mädchen erlebt. Ein Center an der Residenzstraße verzichtet auf den irreführenden Namen der Straße und nennt sich deshalb „Resi“. Darin fällt eine um die Mittagszeit mit lärmenden Gästen gefüllte Kneipe auf. Ein Chinese konkurriert mit einem anderen Imbiss. Ansonsten so genannte Verbrauchermärkte und Billigketten. In einigen Schaufenstern wird für das Fußballspiel der Reinickendorfer Füchse am kommenden Wochenende geworben. Vor der Gründung der Bundesliga kickten die in der höchsten Berliner Klasse. Die Elf steht in der Oberliga Nordost zurzeit auf einem Abstiegsplatz

Das „Ristorante Latium“ war früher ein deutsches Restaurant, was an den biederen Möbeln zu erkennen ist. Es herrscht keinerlei italienisches Flair. Die Karte werde oft gewechselt, berichtet der Wirt. Ältere Gäste sitzen hinter Tellern mit Schnitzeln und Kroketten – eigentlich keine Werbung. Einige Tische weiter überlagern drei Frauen wegen Altersschwerhörigkeit akustisch den Raum. Wer sich für den italienischen Teil der Karte entscheidet, liegt auf der richtigen Seite. Die Fischsuppe ist ein Treffer, die Tomatensuppe bekommt ebenfalls gute Noten. Nudeln mit Kapern, Oliven, Knoblauch und scharf gewürzten Tomaten bilden ein hervorragendes Gericht. Draußen flutet der Verkehr über die Residenzstraße. Aus dem U-Bahnhof kommen um die Mittagszeit Menschen, die irgendwo in der Nähe vielleicht noch preiswerter eingekauft haben. Taxifahrer dösen in der Frühlingssonne. Eine höchstens fünfzehnjährige türkischstämmige Jugendliche pflanzt sich wie eine Dame auf die Rückbank eines Taxis und lässt sich von hier wegchauffieren. Ein Mann, der wegen krankhafter Fallsucht einen Lederhelm trägt, betritt das Restaurant. Er hat eine eingedrückte Nase wie ein Boxer. Mit hoher Kastratenstimme wünscht er den anderen Gästen einen guten Appetit. Er setzt sich an den Nebentisch und schaut mir beim Essen zu. Einige Tische weiter schlürft eine Frau ohne Gebiss Spaghetti in ihren eingefallenen Greisinnenmund. Zwischendurch nuckelt sie süchtig an einer Zigarette. Der Behinderte bestellt Nudeln. Die drei lauten Frauen unterhalten sich für alle hörbar über Belanglosigkeiten des Alltags. In den Raum winkend verlässt die Frau ohne Zähne das Lokal, sie scheint sich von allen anderen Gästen verabschieden zu wollen. „Halt, halt“, ruft der Wirt hinter der Theke stehend. Die Frau schließt hinter sich die Eingangstür und scheint mir auf dem Bürgersteig der Residenzstraße leicht zu torkeln. „Na, drei Euro machen mich auch nicht reich“, sagt der italienische Wirt halblaut. Eigentlich kosteten ihre Nudeln fünf Euro, er machte einen Preis von drei Euro. „Die hat doch kein Geld.“ Vorher kassieren mag er nicht. „Manchmal zahlen andere Gäste für sie. Na ja, drei Euro machen mich nicht reich.“ Der freundliche Mann mit dem Lederhelm komme jeden Tag zur Mittagszeit, heißt es. „Der bezahlt immer“. Die Lage bezeichnet der Restaurantbesitzer als schlecht. „Der Euro, die Leute haben alle kein Geld. Sie sparen.“

 

Kafka in Kreuzberg

März. Ein Bild mit dem hohlwangigen Poeten Franz Kafka hängt an der Stirnseite des großen, nüchtern ausgerichteten Lokals mit seinem Namen. „Das“ Kafka, wie es in Berlin-Kreuzberg in der Szene genannt wird, hebt sich vom Anspruch etwas ab von der Konkurrenz. „Es“ liegt an der Oranienstraße, durch die sich der Verkehr quält, Hausnummer 204. Der Bus 129 fährt nur im Schritttempo. Vor dem Restaurant Kafka prägen Südeuropäer das Bild. Hinter dem Haus rumpeln in Sichtweite über metallene Bahndämme die U-Bahnlinien U 1 und U 15. Obstläden, indische Restaurants, schrille CD-Läden, Coffee-Shops, Modegeschäfte und ein asiatischer Spezialladen nur für Baumwollpullover sind die Nachbarn. Im Kampf um die Mittagsgäste hat auch „das“ Kafka eine aktuelle Karte. Eine Tomantensuppe, Fisch auf Reis und als Dessert ein Espresso werden als „Gericht“ für sieben Euro angeboten. Sehr eilige Gäste bekommen ein Wildragout mit Spaghetti plus Espresso für 5,50 Euro. Im März ist der Besuchergarten neben dem Lokal noch nicht mit Stühlen ausgerüstet. Selbstverständlich liegen keine Werke von Franz Kafka zur Unterhaltung der Gäste aus, wer eine Zeitung lesen möchte, muss sie sich mitbringen. Um zwölf Uhr ist es gähnend leer. Der Kellner ist angenehm freundlich, was in Berlin so nicht zu erwarten ist. Das Geschäft ist für Restaurantbetreiber in der Oranienstraße hart. Vielleicht deshalb? Das Menü ist gekonnt zubereitet, der Fisch ist frisch gebraten, wie selbstverständlich ist ein bestelltes „Mineralwasser“ hier ein Pellegrino, 0,25 Liter zu 1,80 Euro. „Das“ Kafka möchte Lebensart demonstrieren. Bis gegen 13 Uhr sind dann mehrere Tische besetzt. Das Publikum ist jung. Drei Franzosen unterhalten sich laut, wie es überall in der Welt Touristenunsitte ist. Sie bestellten Fleisch mit Salzkartoffeln und Broccoli. Franzosen haben es schwer in Berlin. Das ist ihnen während des Essens anzusehen. Der Kellner ist sehr aufmerksam. Auf der Rechnung steht noch immer unter dem Euro- auch der DM-Preis. Demnach hätte mein Essen an diesem Tag 17,21 DM gekostet statt 8,80 Euro.

 

Regime wechselten – das Rundfunkhaus blieb

März. „Haus des Rundfunks“ steht in veralteten Lettern über dem Haupteingang eines dunklen lang gezogenen Klinkerbaus an der Berliner Masurenallee. Gegenüber zeigt das Metallskelett des Funkturms in den Himmel. Ihn nennen viele Berliner den Langen Lulatsch. Vereinsamt liegen zu seinen Füßen die Messehallen. Das Leben in Berlin tobt nicht hier. Das „Haus des Rundfunks“ überlebte viele Regime. Es wurde in der ersten Republik eröffnet. Die Nazis übernahmen es. Nach dem Krieg sendeten von hier aus die Vertreter der sowjetischen Besatzungsmacht, bevor sie sich nach Ostberlin zurückzogen. Der Rundfunk hieß als Konkurrenz zum Osten „Sender Freies Berlin“ (SFB), nun als Vollzug der Vereinigung rbb – rundfunk berlin brandenburg. Dem Haus ist sein Alter anzusehen. In ihm knarrt noch ein tätiger Paternoster, die Redaktionsräume wirken wie die Büros einer AOK in den fünfziger Jahren.

An das Jahr 1933 erinnert der Schriftsteller Otto Flake: „Der Berliner Rundfunk bestellte einen Vortrag: ‘Toleranz, eine Sache von gestern und morgen‘. Für den Augenblick war die Toleranz ausgeschaltet, man konnte es nicht leugnen. Mitte Februar reiste ich nach Erfurt und blieb so lange, bis meine Gedanken über dieses heikle Thema aufgezeichnet waren. Dann fuhr ich nach Berlin und hielt, mit Theodor Heuss als Gegenreferenten, den Vortrag. Während ich sprach, ging vor der Kabine der nächste Redner auf und ab, Alfred Rosenberg.“

Alfred Rosenberg war der Chefideologe der Nazis und Verfasser des Buches „Mythos des 20. Jahrhunderts.“

Der Autor Arnolt Bronnen schreibt in dem Buch „Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll“, dass Hörfunkbeamte im Haus des Rundfunks schon 1932 auf Joseph Goebbels setzten. Über 1933 notierte er: „Auch der Rundfunk wollte Abschied von mir nehmen. Dr. Duske kündigte dem Leiter des Rundfunk-Orchesters, Eugen Jochum, und mir mit der zwar schmeichelhaften, doch einigermaßen originellen Begründung, wir wären für den Rundfunk zu begabt.“ Nach der Machtergreifung wurde das Haus an der Berliner Masurenallee von der SS bewacht.

Ein dramatisches Ereignis erlebte Arnolt Bronnen als Zuschauer aus dem Fenster eines Redaktionsraumes: „Es war wieder ein 30. Juni, wieder sollte ich am 1. Juli meinen Urlaub antreten. Ich hatte meine Sachen schon gepackt... Es war sehr heiß, und ich ging ans Fenster. Draußen, auf der Masuren-Allee, stampfte eine etwas schlappe SA-Kolonne vorbei. Plötzlich brach von unserem Funk-Haus aus eine SS-Gruppe gegen die Marschierer vor. Die Einheit wurde angehalten. Alle Chargen vom Sturmführer aufwärts – es waren sieben – wurden zusammengefangen und abgeführt, die unteren Chargen und die Männer wurden heimgeschickt. Überfall-Autos brachten die verdatterten SA-Größen in die SS-Kaserne Lichterfelde-Ost. Sie wurden noch vor Mittag füsiliert.“

 

Keine Bratwurst für Asiaten

März. Offensichtlich mögen Asiaten keine Thüringer Bratwurst. Ein Stand am Potsdamer Platz mit diesem Standardessen vieler Deutscher ist seit Monaten verschlossen. Die Würstchenbude trägt ein vergilbtes ehemals wohl grellfarbiges Reklameschild „Thüringer Bratwurst“ und sieht aus, weil geschlossen, als stamme sie aus der DDR. Denn direkt daneben stehen noch etwa 20 Meter Mauer. Einst antifaschistischer Schutzwall genannt. Es ist ein befremdlicher Anblick wenige Meter abseits vom wieder belebten Potsdamer Platz. Etwa ein Fußballfeld entfernt von den neuen Hochbauten entlang einer Seitenstraße sind die Mauer, die geschlossene Würstchenverkaufsstelle und ein unbesetzter Wachtturm zu sehen. Er wirkt in der Gegenwart etwas mickrig. Aufgehängt sind an dem unbesetzten einstigen Schießturm die Wimpel verschiedener Nationen. Hierhin werden überwiegend Asiaten in Bussen gefahren, um die Reste der Mauer fotografieren zu können. Die europäischen Touristen sind an dieser Stelle des Potsdamer Platzes eindeutig in der Minderheit. Deshalb war wohl der Umsatz an Thüringer Rostbratwurst zu gering und die Miete für den Betreiber zu hoch. So steht nun neben der Mauer eine Art Bratwurstruine. Jeden Schrecken hat die Restmauer verloren. Während der Existenz des Staates der Arbeiter und Bauern war der Potsdamer Platz eine Ödnis, makaber ausgedrückt ein weites Schussfeld. Zu der Zeit müssen Mauer und Wachtturm kalt und bedrohlich gewirkt haben, auch abschreckend. Aber nun, von Asiaten fotografiert und besucht, könnten sie für den Teil eines Freizeitparks gehalten werden.

 

Sozialer Wirtschaftsstandort

März. Verbrauchermarkt heißt die Filiale von Kaiser’s an der Bölschestraße in Berlin-Friedrichshagen. Bei den Ostgeborenen blieb es in ihrer Sprache wie einst in der DDR die Kaufhalle. Vor dem unattraktiven Flachbau steht noch eine Skulptur sozialistischer Prägung. Daneben eine mobile Hähnchenbraterei, deren Produkte nicht mehr Broiler genannt werden. Der Geruch nach billigem Fett überlagert den Vorplatz mit der realsozialistischen Kunst. Ein Asia-Imbiss und eine weitere Essbude grenzen das Gebiet rechts ab. Das System der sozialen Ungerechtigkeit hat den Raum auch erobert, denn täglich bietet vor dem Eingang ein Mann Obdachlosenzeitschriften an. Er hält sie in seinem rechten angewinkelten Arm, in der linken Hand glimmt oft eine Zigarette. Im März löst er sich stundenweise ab mit einem anderen Verkäufer, der aber leutseliger oder aggressiver ist, denn der spricht die Menschen an und fordert sie auf zum Kauf des Blattes. Während dieser Zeit sorgt der andere in der Pause, dass sein Geld direkt in den Wirtschaftskreislauf gepumpt wird. Er bewegt sich die wenigen Meter bis vor den Asia-Imbiss, dort lehnt er an einem Stehtisch, der bevölkert wird von einigen ortsbekannten Trinkern, dort nimmt er seine Rationen an Flaschenbier zu sich. Und raucht dazu. Die Preiserhöhungen für Tabakerzeugnisse schreckten ihn wohl nicht. Steht er mit seiner Zeitschrift im Arm wieder vor dem Verbrauchermarkt und macht kleine Umsätze, sehe ich ihn sein Geld in der flachen Hand zählen. Reicht es für ein Bier, sorgt der Mann wieder für Umsatz. Er reist mit der S-Bahn nach Friedrichshagen. Doch er lässt das Geld in der örtlichen Wirtschaft.

 

Die Resteverwertung der DDR

März. Sonntags ist bis zum Nachmittag vor dem S-Bahnhof von Berlin-Friedrichshagen ein Trödelmarkt aufgebaut. Vor wenigen Jahren noch wurden hier die Reste der DDR verkauft: Bücher aus eingeschränkter volkseigener Produktion, Kameras und Schallplatten, insbesondere aber Orden. Sehr preiswert war der Aktivisten-Orden. Der wurde im Staat der Arbeiter und Bauern verliehen für angeblich gute Arbeit im Betrieb oder in einer Verwaltung. Hubschrauber-Orden nannten ihn viele Ostgeborene: Sie höhnten, die NVA fliege in ihren Helikoptern über die Republik und werfe den Aktivisten-Orden mit vollen Händen hinaus. Wer ihn im Betrieb an sein Revers oder die Bluse gesteckt bekam, war oft nicht durch Fleiß aufgefallen, er war laut Liste auch mal dran, geehrt zu werden. Der Verdienst-Orden der DDR, ein silbergraues rundes Blech, wurde von den Händlern auf dem Trödelmarkt in Friedrichshagen als Stolpe-Orden angepriesen. Manfred Stolpe hatte einen bekommen, angeblich für seine Zuarbeit für die Staatssicherheit; was er bisher erfolgreich bestritt. Die Reste der DDR sind verhökert. Als Staat ist sie abgeschlossen. Es werden keine Orden, Schallplatten, Briefmarken oder volkseigene Bücher mehr produziert. Gab es vor Jahren noch Generalsmäntel und Ehrendolche der NVA auf dem Trödelmarkt, so sind auch die inzwischen aufgekauft. In diesen Tagen hat nur noch ein Händler die wehrmachtsgrünen Uniformen der Nationalen Volksarmee, ihre Schulterklappen und einige Medaillen im Angebot. Die anderen Verkäufer, viele unter ihnen Profis aus dem ehemaligen Westberlin, bieten Utensilien aus Restkäufen von Wohnungsauflösungen auf ihren Verkaufstischen an. Aber akustisch ist das Erbe des Staates der Arbeiter und Bauern noch vorhanden. Hinter mir berichtet ein Mann in typischer Ostaufmachung – schwarze Lederjacke, anthrazitfarbene Jeans –: „Und das ist unser Rechtsstaat, man sollte sie alle vergasen.“

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