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Berliner Notizen - 2004 - April
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Keine halben Sachen

„Ganze sechs Berliner Lehrer jünger als 30“, meldet die „Berliner Zeitung“ am 13. April 2004. Ganze Lehrer? In Berlin gibt es halt keine halben Sachen!

 

Vom schwarzen Schmierer

April. „SPD gleich SED“ oder nur SED stand seit 2001 mit schwarzem Filzstift geschrieben zeitweise fast täglich neu auf dem Schaukasten der SPD von Berlin-Friedrichshagen. Oder es war ein Wunsch darauf geschmiert: „SPD 1 Prozent“. Womit wohl ein Wahlergebnis gemeint war. Wegen der augenfälligen geistigen Schlichtheit aus der Täterszene musste es sich um Sympathisanten oder gar Mitglieder der Union handeln. Gelegentlich fielen drastische Mängel in der Rechtschreibung auf. „Dof“ statt doof hieß es mit schwarzen Filz geschrieben. Als ein Zitat von Harald Ringsdorff im Schaukasten hing, wonach die einstigen Blockparteien wie CDU in der Volkskammer für den Schießbefehl gestimmt hatten, wurde dieser Satz überschmiert. Er sollte nicht leserlich sein. Somit war die Nähe zur Union belegt.

Ostberliner Sozialdemokraten säuberten jeweils die beschmierte Scheibe. Bis zu drei Mal täglich wurde mit Eifer erneut geschrieben SED oder SPD 1 Prozent. Mehrere Tage postierte ich mich in einer Bäckerei dem Kasten gegenüber. Ich war in der Phase, jeden Menschen zu verdächtigen, der sich dem Schaukasten auch nur interessiert näherte. Dann sah ich einen älteren Mann auf einem Fahrrad an den Kasten heranfahren, blitzschnell schmierte er SED darauf und fuhr hastig davon in Richtung Plattenbauten. Der simple Täter ist Anfang 70, er trägt eine Kappe mit dunklen fettigen Schweißresten an den Rändern, wechselt die Wäsche selten, in der Körperpflege verhält sich der Mann ökologisch, ihm ist anzusehen, Einsteins Enkel ist er nicht. Der Täter wohnt in Berlin-Friedrichshagen. Trotz seines Alters gelang ihm wiederholt die Flucht auf seinem Fahrrad. Er schmierte danach jeweils triebhaft weiter. Bis ich ihn auf dem Bahnsteig der S-Bahn traf, den Wartenden sagte ich laut, dieser Mann sei der Schmierer von Friedrichshagen, der für die CDU sudele, seit Jahren einen Schaukasten verunstalte. Er ginge zur Polizei, drohte er. Als typischer Ostgeborener sitzt bei ihm die Angst vor dem ABV – Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei - tief, so glaubte er, ich hätte auch Angst. Verblüfft sah er mich an, als ich ihn bat zur Polizei zu gehen, dann erführe ich von der endlich seinen Namen. Für Monate blieb das Schmieren.

Seit Februar las ich wieder: „SPD 1 Prozent“. Er ist aus Dummheit nicht variantenreich im Ausdruck.

Der Zufall führte uns wieder zusammen. Er stand in der Warteschlange vor der Kasse in Kaiser’s „Verbrauchermarkt“, den einige im Ort noch immer à la DDR Kaufhalle nennen. Allen wartenden Kunden sagte ich laut, der Mann vor ihnen sei ein überführter Schmierer, er besudele den Schaukasten der SPD am Bahnhof. Aus der Schlange konnte der schwarze Schmierer nicht entkommen. Als er endlich bezahlt hatte, blieb ich auf seiner Höhe. „Die Türken, die dürfen schmieren“, kläffte er. Nicht logisch. Aber ein Beleg für die politisch rechte Gesinnung à la CDU. „Ich bin es nicht gewesen“, bestritt er seine Taten. Aus der Bäckerei gegenüber sei er beobachtet worden, behauptete ich. „Das ging doch gar nicht“, empörte sich der Simpel. „Ach, wohl in der Nacht geschmiert?“ Der Anhänger der CDU lief ertappt parteirot an. „Ihr tut die Frau Merkel beleidigen, was ihr da schreibt.“ Er hatte sich verraten. Wieder drohte er mit dem Gang zur Polizei. Ließ es dann, weil ich ihn bat, doch endlich dort hinzugehen. Seit Wochen auf diese Begegnung wartend, war ich nie ohne Kamera unterwegs gewesen. Nun fotografierte ich ihn aus nächster Nähe. Und ich versprach ihm, bei der nächsten Besudelung werde sein Foto im Schaukasten ausgehängt mit der Zeile: „Der ist der Schmierer von Friedrichshagen.“ Er baut wohl auf mein Versprechen. Seit Anfang April sudelt er nicht mehr mit einem schwarzen Stift. Weil es bei ihm triebhaft ist, wird sein Foto bei Neuauflage nicht nur in dem Kasten veröffentlicht, auch in den Berliner Notizen.

 

Die Verkaufskanone

April. Bei Kaiser’s im ehemaligen Ostberlin sind maritime Verkaufswochen angesagt. Im Verbrauchermarkt ist ein Stand aufgebaut, hinter dem ein dunkelhaariger Mann steht, der aufdringlich für seine Waren wirbt. Griechische Waren. Denn er ist von der Firma „Kreta“, Feinkostspezialitäten von der Karl-Marx-Straße 66. Die liegt im Westen. Selbst in den heißesten Phasen des kalten Krieges behielt sie ihren Namen in Berlin-Neukölln. Der Verkäufer hat mindestens so viel Gel in den Haaren wie Tim Wiese, der Torwart des 1. FC Kaiserslautern. Im Angebot sind Sardellen in Öl. Sie sehen appetitlich aus. Auf den Preisschildern an seinem Verkaufsstand fehlen sie. Darauf verweise ich und frage ironisch, ob „die trotzdem im Angebot sind.“ Der Mann mit dem Gel versteht die Doppeldeutigkeit nicht. „Hundert Gramm“, bestelle ich. Während er wiegt, redet er auf mich ein, bietet verschiedene Pasten, ist aufdringlich. Auf der Waage wird die Zahl 174 angezeigt, ich glaube zunächst, das sei der Preis von 1.74 Euro. Die Kunststoffschale ist bis zum Rand gefüllt, es sei „etwas“ mehr, sagt die Verkaufskanone. Sehr geschwind packt er die Ware zusammen, erzählt mir, wie toll die Knoblauchpaste sei. Ich bin mir sicher, die nicht bestellt zu haben. Aber ich habe nicht die Kraft, mich gegen die Verkaufstechniken zu wehren. Hundert Gramm Sardellen waren bestellt, 174 Gramm wog das Schälchen als „etwas“ mehr. Ebenfalls berechnete der Gel-Mann die nicht bestellte Knoblauchpaste. Er verlangte 7,77 Euro. In der „Roten Harfe“ am Heinrichplatz in Kreuzberg bekomme ich für 7,50 Euro ein Menü mit drei Gängen. Zu Hause wird überprüft: Die Verpackung hat er mitgewogen. Eine Verkaufskanone.

 

Ein Lob auf Stefanie Japl

April. Den Namen der Serviererin in dem Restaurant „Rosalinde“ in der Berliner Knesebeckstraße erfuhr ich durch einen Zufall. Gelegentlich stehen Saitlinge mit Linsen und Spätzle auf der Karte. Ein schwäbisches Gericht, dazu noch zu einem Preis, den eventuell sogar Schwaben akzeptieren würden. Herthas Stürmer Fredi Bobic als bekennender Schwabe mag dieses Gericht sehr gern. Als es nicht auf der Karte stand, sagte ich der Serviererin, dafür laufe ich zu Fuß quer durch Berlin. Das sei gesund, hieß ihre Antwort. Die Frau war mir als zurückhaltend, doch schlagfertig und witzig aufgefallen.

Zwei Tage später erhielt ich eine E-Mail von einer mir bisher unbekannten Stefanie Japl. Ich hätte in den „Berliner Notizen“ über das Lokal „Rosalinde“ geschrieben, es habe eine geschäftsmäßige Freundlichkeit geherrscht. Sie habe mich vor zwei Tagen bedient, die Servierfrau beschrieb den Platz. Stimmte. Da das Selbstbild mit dem Fremdbild meist nicht übereinstimme, so hieß es in der E-Mail, wollte sie ihres prüfen und fragte an, ob sie „geschäftsmäßig freundlich“ sei. Sie war es nicht. Stefanie Japl hatte ich nicht beschrieben. Sie bekam die aufklärende Antwort, ich bekannte mich erneut zu dem schwäbischen Gericht. Wenn es wieder auf der Karte stehe, so die Servierfrau per E-Mail, würde ich benachrichtigt. Ein Lob auf Stefanie Japl: Sie übermittelte mir zuverlässig, dass es im April Saitlinge mit Linsen und Spätzle gebe. Für Berlin eine ungewohnte Freundlichkeit.

 

Berlin beginnt am Wasser

April. Die B 1 ist auf ihrem letzten Kilometer in Potsdam eine feine Adresse. In einer der Prachtvillen befindet sich die Redaktion der Zeitschrift „Cicero“. Verschiedene Namen hatte die B1, Reichsstraße 1, dann in der DDR F 1. Sie führt von Aachen nach Königsberg. Im Südwesten trennt die Havel Berlin von Potsdam. Über den Fluss spannt sich die Glienicker Brücke. Berlin empfängt seine Besucher mit einem weiten Ausblick aufs Wasser. Links an den Ufern des sich zur Havel verengenden Wannsees ist die Kirche Sacrow wie in einem Gemälde zu sehen. Segelboote ziehen über das blaue Wasser. Das Schloss Sacrow ist von Bäumen bedeckt. Rechts auf einer Anhöhe erhebt sich im Morgendunst das Schloss Babelsberg. Sacrow und Babelsberg liegen noch Brandenburg. Das Schloss Glienicke jenseits der Brücke gehört zu Berlin. Eine Telefonzelle an der B 1 rechts müsste ebenfalls noch auf Brandenburger Boden stehen, direkt dahinter ragt das gelbe Schild mit dem Wort Berlin in den Himmel. Auf der Höhe des Schlosses Glienicke stoppt ein Bus aus der Oberpfalz. Lärmend stürmt eine Touristenschar an das Ufer der Havel. Wie Asiaten fotografiert das Rudel die Brücke. In wenigen Minuten ist die Stille am Rande Berlins zurück. An der Flanke des abfahrenden Busses steht in roter Farbe: „Schöne Ferien.“ Die Insassen werden in Richtung Potsdam chauffiert. Sie müssten aus dieser Höhe von der Brücke aus die Skyline der Landeshauptstadt sehen können. Sie ist verhässlicht durch sozialistische Bauweise, Plattensilos überragen die Kuppen von Kirchen.

Seit dem 17. Jahrhundert ist von hier über eine Brücke Berlin  zu erreichen. Die erste war aus Holz über die Havel gespannt. Im Jahr 1831 wurde sie umgestaltet in Stein nach den Plänen des großen Baumeisters Schinkel. Ihre heutige Form erhielt die architektonisch auffällige Glienicker Brücke 1907. Pikanterweise nannte die Führung der DDR sie 1961 nach der Einmauerung des Staates der Arbeiter und Bauern „Brücke der Einheit.“ In den Jahren 1962, 1985 und 1986 kam es auf ihr zu „spektakulären“ Austauschen von Agenten, wie es auf einer Informationstafel heißt. Sie war zu der Zeit „das Symbol des kalten Krieges“. Unmittelbar nach dem Versprecher von Günter Schabowski in der Pressekonferenz vom 9. November 1989 stürmten Potsdamer über die Glienicker Brücke nach Berlin, entlang der B 1 in Richtung City. Schloss Glienicke liegt in einem von Lenné gestalteten hügeligen Park. Die historische ehemalige Straße nach Königsberg führt linialgerade leicht aufwärts in die Hauptstadt.

Rechts gewissermaßen im Gebüsch ist noch eine Rarität aus der Zeit deutscher Teilung zu besichtigen. Der Griebnitzsee bildete die Grenze zwischen Potsdam in der DDR und Berlin-West. An einer Stelle führte eine schmale Brücke herüber in eine kleine Exklave der DDR. Es sind nur zwei Straßen, die zu Potsdam gehören und bis 1989 DDR waren. Dass dieses kleine Gebiet zum Staat der Arbeiter und Bauern gehörte, ist 14 Jahre später noch zu sehen. Der „Konsum“ ist seit Jahren geschlossen. Verfallsgrau sind die Häuser von der einstigen Arbeitermacht gezeichnet. Eine Eingangstür an einem kleinen Haus ist seit langer Zeit verrammelt, der Briefkasten daran weit geöffnet, deutsch korrekt wurde noch vor Tagen darin ein Brief abgelegt. Eine Kapelle ist restauriert worden. Auf einem Schild werden die wenigen Besucher aufgeklärt: Sie ist ein „Kleinod märkischer Neugotik.“ Erbaut wurde das Gotteshäuschen aus Backstein 1881. „1961 – 1889 verfallen“, so liest der Interessent weiter. „Für 2,4 Mio DM 1994 wiederhergestellt.“ Noch nicht wiederhergestellt sind die Bürgersteige. Eine Groß-Gaststätte mit Namen Bürgerhof wird saniert. Sie gibt es hier im Grünen seit 1873. In der DDR genügten ein Konsum und eine dem Verfall preisgegebene Gaststätte für das öffentliche Leben. Der kleine Bereich war an drei Seiten von Grenzen zum Berliner Westen gesichert. Zur B 1 in den damaligen Westen führt eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster. Das letzte Haus des früheren DDR-Gebiets liegt keine 100 Meter von der alten Reichsstraße entfernt, es trägt die Hausnummer 13. Direkt vor der Haustür begann der Kapitalismus. Hier müssen nur 250-prozentige Bewohner gelebt haben. Sicherlich wurden sie gelobt als Vorposten des Friedens. Vierzehn Jahre später zeigt das Gebäude noch immer das Äußere der DDR. Die Farbe blättert von der einst dunkelrot gestrichenen Haustür. Sieben hässliche braune Blechbriefkästen a la Produktion VEB hängen unordentlich aufgereiht rechts und links an der Wand. Die Wände des Wohnhauses sind grau. Ein Mieter bezieht die „Märkische Allgemeine“, das ND keiner mehr. Der Hof  ist mit Gras überwachsen, einige Blenden hängen schief an den Fenstern. Gern würde ich auf die marode Klingel drücken und Bewohner befragen, wie sie früher hier so nahe an der Grenze gelebt haben. Ein Mieter heißt laut Türschild Haase. Ich klingle nicht. Meine Erfahrungen sind: Wird ein exponierter ehemaliger Bürger nach der DDR befragt, ist sein Name Hase, er weiß von nichts. 

 

O tempora! O mores!

April. „Am (21.) einundzwanzigsten November (1811) eintausendachthundertelf erschoß in der Klein-Machenower Heide nahe an der Berliner Chaussee Bernd Heinr. Wilhelm von Kleist die Ehefrau des Generalrendanten der kurmärkischen Feuersozietät und Landschaftsbuchhalters Herrn Friedrich Ludwig Vogel, Adolfine Sophie Henriette geb. Keber, alt 31 Jahr, und dann sich selbst in seinem 34. Jahre. Beide sind auf der Stelle, wo der Mord und Selbstmord geschah, in zwei Särge und in ein Grab gelegt worden. O tempora! O mores!“ Eintragung des Pfarrers Johann Gottlieb Dreising ins Stahnsdorf-Machenower Kirchenbuch.

Über 190 Jahre später heißt die Berliner Chaussee Königstraße, darüber hängt der Hinweis B1. Die Gegend am Kleinen Wannsee gilt als gehoben. Von der B 1 zweigt die Bismarckstraße ab, sie ist eine Sackgasse. Führe nicht direkt daran in regelmäßigen Abständen die S-Bahn Richtung Potsdam und zurück, wäre das eine sehr gehobene ruhige Wohngegend. Nach der ersten leichten Rechtskurve fallen in der Stichstraße zwei riesige Villen auf. Sie sind so bombastisch, dass sie in der Gegenwart von Privatpersonen allein selten unterhalten werden können. Das erste Haus auf weitem Gelände gehört dem Schülerruderverband Wannsee e. V, die zweite wuchtige schlossähnliche Villa beherbergt den Berliner Ruderclub. Beide grenzen an das Ufer des Kleinen Wannsees. Zwischen den Häusern weist ein Schild auf das „Kleistgrab“, obwohl zwei Personen hier beerdigt sind. Zu Beginn eines schmalen Pfades in Richtung Gräber heißt es hausbacken auf eine braune Holztafel geschnitzt: „Frieden hier suchte des Dichters ruhelose Seele. Schone darum die Natur, die ihn hier liebend umfängt.“ Unabhängig vom toten Kleist sollte die Natur geschont werden, und ob die in der Lage ist, ihn „liebend“ zu umfangen? Der Weg ist leicht abschüssig, auf einem Hügel steht ein schlicht gehaltener Stein. Darauf sind die Lebensdaten des Heinrich von Kleist gemeißelt und der Spruch: „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein.“ Wie zu den Füßen des Dichters liegt schräg unten neben dem Gedenkstein eine winzige Steinplatte für die Frau. „Henriette Vogel 1780 – 1811.“ Weiter erfährt der Besucher über die schwer Krebskranke nichts.

„Um 6 Uhr kamen zwei Herren von Berlin gefahren, der eine stieg aus und fragte, ob die beiden Fremden noch hier wären? Auf die Antwort, daß beide nicht mehr lebten, fragte er noch einmal, ob es wahr wäre? Wir sagten, daß beide jenseits des Sees erschossen in ihrem Blute lägen.

Nun stieg der andre Herr auch aus, welcher der Herr Rendant Vogel, der Ehemann der Entleibten, war, kam in die Stube, warf den Hut in einen Winkel, die Handschuh in den andern und war über den Verlust seiner Gattin ganz untröstlich...

Wir warteten nun bis 11 Uhr abends, und da von seiten der Polizei niemand kam, gingen wir alle zur Ruhe. Am Morgen ließ Herr Vogel eine Haarlocke von seiner Frau holen, und beide Herren reisten wieder nach Berlin zurück. Zu Mittag war der andre Herr, der Herr Kriegsrat Peguilhen, wieder bei uns und ließ dicht neben den beiden Toten ein großes Grab graben, mit dem Bemerken, daß er zwei Särge von Berlin schicken würde, worin beide in die Grube nebeneinander begraben werden sollten.

Um 2 Uhr Nachmittag, den 22., kamen der Herr Hof-Medikus und Polizei-Offizianten von Berlin, nahmen alles zu Protokoll, ließen die Leichen nach dem kleinen Hause bringen und daselbst öffnen und untersuchen. Hiernach wurden beide in die bestimmten Särge gelegt und abends um 10 Uhr in ihrer Ruhestätte begraben.“ Aussage des Gastwirtes Stimming vom Gasthaus am Kleinen Wannsee.

Es ist Frühlingsmorgen im April. Die Sonne hat es schwer durch den Baumbewuchs um den Grabhügel zu dringen. Auf einem Plateau vor dem Stein für den Dichter und die bescheidene Platte, die an Henriette Vogel erinnern soll, steht ein hagerer Lehrer in Touristenkleidung. Mit dem rollenden R eines Franken deklamiert er eifernd vor einer sich lümmelnden Schulklasse aus dem Prinzen von Homburg. „In den Staub mit den Feinden Brandenburgs“. Die Mädchen und Jungen langweilen sich, der Eiferer merkt es nicht. Er bringt ihnen weder die klassische Literatur näher noch Einsicht in das Leben des Heinrich von Kleist. Die S-Bahn fährt vorbei, er spricht gegen die Geräusche an. Von der Gedenkstätte abwärts führt der Weg zum nahen Kleinen Wannsee. Der schmale Streifen bis dahin wird links und rechts von den Sportvillen der Ruderer wie von Mauern umsäumt. Zwei Bänke laden zum Gedenken. Sperlinge hüpfen frech bis vor die Füße des Sitzenden. Vom Ufer ist die Brücke zu sehen, auf der die B 1 über eine schmale Stelle des Sees geführt wird. Der Lärm von Automotoren gleicht dem Brummen wütender Hornissen. Der Lehrer eifert oben weiter.

Am 22. November 1811 gibt die Ehefrau des Gastwirts Stimming zu Protokoll: „... Ich habe so wenig als irgendeiner meiner Leute geahndet, daß die beiden Personen einen bösen Vorsatz hätten. Sie schienen mir vielmehr beständig froh und guter Laune und nichts weniger als den Vorsatz zu haben, sich zu töten.“ In Stimmings Krug am Kleinen Wannsee schreibt der große deutsche Dichter Heinrich von Kleist seinen letzten Brief am 21. November 1811 an seine geliebte Stiefschwester Ulrike: „Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch, vor allen anderen, meine teuerste Ulrike, mit dir versöhnt zu haben.“

Die Stimme des Lehrers klingt monoton vom Grabhügel herab. Einige aus seiner Klasse schauen nicht einmal verstohlen auf ihre Armbanduhren. Immer wieder wird der eifernde Mann übertönt von der S-Bahn. Als es die DDR noch gab, war die nahe Station „Am Wannsee“ die letzte im Westen, eine Weiterfahrt nach Potsdam gab es nicht. Es wird zu jener Zeit sehr still hier gewesen sein. Die Sperlinge suchen frech Futter. Lautlos gleiten einige Paddler in ihren Booten durch das Wasser in Richtung Westen.

 

Tristesse am Tresen

April. „Das war der Abstieg“, sagt mein Kumpel Jünne nach dem Spiel von Union Berlin gegen Eintracht Trier. Wir treffen uns vor dem Stammlokal „Bier-Keller“, das nur wenige Kilometer entfernt liegt von dem Köpenicker Unionstadion „Alte Försterei“. Jünne verließ die Kultstätte schon bei 1:2. „Union steigt nach drei Jahren aus der 2. Bundesliga ab“, sagt er mehr zu sich. Und ist traurig. Jünne ist knapp über 40, sein Leben war eng verknüpft mit Union Berlin. Er kennt fast alle Stadien der früheren Spitzenclubs der DDR. Jünne erinnert sich wie viele Stammgäste an glorreiche Siege, überraschende Erfolge, aber auch an bittere Niederlagen und Abstiege, und wo er „was auf die Fresse bekommen hat“. Nicht immer von gegnerischen Fans, zu oft von den „Bullen“, offizieller, doch falscher Titel „Volkspolizei“. Drei Jahre 2. Bundesliga, und so nahe daran, eventuell bei deren Abstieg um Punkte gegen Hertha Berlin zu spielen. Zu Beginn der Saison diskutierten meine Freunde in dem Lokal, ob Union das Heimrecht dann aufgeben solle, um wegen der höheren Einnahmen im Olympiastadion zu spielen. „Eisern Union gehört in die Alte Försterei“, hieß es meist trotzig. „Für mich steht der Abstieg erst am Ende fest“, ruft Maik in den Raum. „Wo sollen sie die Punkte aus noch fünf Spielen holen“, fragt Jünne. Keiner aus der Gaststätte antwortet. Für die meisten unter ihnen steht der Abstieg nach der Niederlage gegen den 1. FC Nürnberg fest. Schuldige haben sie: den Vorstand, den vorherigen Trainer, diesen oder jenen Spieler. Angst kommt am Tresen auf: Was ist, wenn Union für die 3. Liga keine Lizenz bekommt und in die Oberliga muss? Dynamo Berlin, ihr Hassobjekt aus der DDR, steht in der Verbandsliga vor dem Aufstieg in die Oberliga. Die Vorstellung gegen Mielkes Truppe kicken zu müssen, löst Wut aus. „Nur das nicht“, heißt es. „Prost.“ „Prost.“ Die Erlösung kommt vom Fußballbund – Union erhält eine Lizenz sowohl für die 2. Bundesliga als auch für die Regionalliga. Dynamo bleibt eine Klasse darunter.

Es sind schlechte Wochen im April. Hansa Rostock gilt bei den Übertragungen der 1. Bundesliga als Ausweich: Der Nordverein wird hier als Ostclub gesehen. Seine Siege sind Balsam für die geschundene Seele. Dass Rostocks Torwart aus Marl/Westfalen stammt, der Torschützenkönig beim 1. FC Recklinghausen begann und die anderen Schützen Schweden sind, nutzt als Einwand oder Hinweis nichts – Hansa ist der letzte Verein aus der alten Oberliga der DDR. Fertig! Deren Tore werden bejubelt. Freude beim 3:3 der Rostocker in München bei den Bayern. Aber auch der VfL Bochum erhält viel Zuspruch im „Bier-Keller“, weil er die verhassten Bayern putzt.

Obwohl die Eisbären Berlin aus dem Stadtteil Hohenschönhausen auch einst eine Abteilung von Dynamo waren, bekommen sie Zuspruch von den Unionfans. Zum zweiten Mal steht der Ostverein in den Endspielen um die Deutsche Meisterschaft im Eishockey. Im Vorjahr verlor er sie, nun stehen die Eisbären erneut vor der ersten gesamtdeutschen Meisterschaft. Ostermontag kippt die Stimmung. Die Lions aus Frankfurt schlagen die Eisbären in Berlin. Claudia Pechstein beschimpft mit hoher Froschstimme via Fernsehen den Schiedsrichter. Zu sehen und zu hören ist sie in einem Zusammenschnitt des rbb. Schweigend hören wir zu. Tristesse am Tresen. Aber das Rückspiel in Frankfurt, dann wird es klappen. „Eisbären zittern die Pfoten“, höhnt die taz vor dem entscheidenden Kampf. Es ist Freitag. In Premiere laufen drei Spiele aus der 2. Bundesliga ohne Union. Aber sie schauen interessiert und rechnen, gewinnen die Abstiegskonkurrenten Abstand oder verlieren sie auch. Auf einem anderen Programm des Bezahlsenders wird Eishockey übertragen. In der Halbzeit beim Fußball heißt es umschalten. Die Eisbären liegen zurück. Tristesse am Tresen. Der Fußball wird abgepfiffen, umschalten auf Eishockey. Das letzte Drittel läuft. 4:1 für die Hessen. Die Eisbären kommen auf 4:3 heran. Freude herrscht. Union scheint vergessen. Die Frankfurter werden erstmals Deutscher Meister, im Osten wird es gefühlsmäßig düster. „Aufgetaute Träume“, amüsiert sich die taz über die Eisbären aus dem Ostberliner Bezirk Hohenschönhausen.

So wie Schwerkranke oft an Scharlatane glauben wollen, vertrauen plötzlich einige meiner Kumpel auf „Bild“, „B.Z“ sowie „Kurier“, die Krawallblätter der Hauptstadt. Union verhandle geheim mit einem russischen Öl-Milliardär, der wolle bei den  Köpenickern einsteigen. Die Qualitätszeitungen wie „Tagesspiegel“ und „Berliner Zeitung“ übernehmen das Gerücht nicht. Einige sagen, in der dritten Liga gingen sie nicht mehr zu Union. Sie werden ihr Wort nicht halten. Denn sie verlassen die Union nicht. Wie damals, als sie jeweils nach Abstiegen nicht mehr wollten, aber dann doch zu Motor Eberswalde fuhren. Es sind so grundehrliche Kumpel, niemand wird es ihnen vorhalten, wenn sie wieder in die Alte Försterei gehen und in Sonderzügen die Mannschaft zu Auswärtsspielen begleiten.

Dann das Spiel der beiden Letzten: VfL Osnabrück gegen Union Berlin. Obwohl einige die Köpenicker abgeschrieben haben, bleibt ein Fünkchen Hoffnung. Jubel am Tresen. Union gewinnt 0:2 an der Bremer Brücke in Osnabrück und bleibt trotzdem Zweitletzter. Aber es sind ja noch vier Spiele. Und Sonntag putzen „wir“ Oberhausen. Die Rot-Weißen von der Emscher werden ihr blaues Wunder erleben!

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