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Berliner Notizen - 2004 - Mai
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Franz Müntefering auf der Toilette

Mai. „Dein oberster Chef hat am Müggelsee Kaffee getrunken. Da unten auf der Toilette“, werde ich von einem Gast angekeilt. Es ist in der Kneipe von Berlin-Friedrichshagen. In dem kleinen Kiez am Großen Müggelsee von Berlin weiß nicht nur der Tresenkumpel, dass ich Sozialdemokrat bin. „Aber da war nicht eine Truppe von Ballermännern dabei“, erzählt er weiter. Chef? Schröder am See ? Das wäre doch bekannt. „Der Müntefering war unten in dem Café an der Dampferanlegestelle. Da hat er in aller Ruhe einen Kaffee getrunken. Nur ein Zivilpolizist war dabei. Die meisten Gäste haben den nicht erkannt.“ Etliche in dem Lokal wissen, was der fröhliche Informant sagen wollte mit der Bemerkung, der SPD-Vorsitzende habe auf der Toilette Kaffee getrunken. Die Anlegestelle am Müggelsee ist ein bevorzugtes Ziel von Touristen. Ein Dichter beschrieb das Gewässer: „Der Müggelsee ist so schön wie der Bodensee, nur kleiner.“ Der Autor stammte nicht aus Berlin, denn dann hätte es geheißen: Er ist schöner als der Bodensee und größer. Von hier aus starten Schiffe der Weißen Flotte ins Brandenburgische. Sie tuckern die Müggelspree hinauf weiter bis in den Bereich der Löcknitz. In einem kleinen Park stand hier über Jahrzehnte eine öffentliche Toilette. Von der Bauart so aufwändig, dass sie nicht aus der DDR stammen konnte. Im Staat der Arbeiter und Bauern war das Haus dem Verfall preisgegeben, die Türen waren verrammelt. Dieses Toilettenhaus wurde umgebaut zu einem schmucken Café. Es liegt im Grünen, aus ihm gibt es einen Blick über den See bis auf die Müggelberge am anderen Ufer. Die sind Berlins höchste Erhebung. Deshalb hieß es in der Kneipe, Franz Müntefering habe auf der Toilette Kaffee getrunken. Gelobt wurde sein bescheidener und unauffälliger Besuch dort.

 

Zwei Bundeskanzler in einem Raum

Mai. Es besteht Rauchverbot in dem Berliner axica Kongresszentrum am Pariser Platz. Aber ein im Alter füllig gewordener untersetzter Mann sitzt vorn in einem roten Sessel und raucht genüsslich Zigarette um Zigarette und gießt zwischendurch Cola in sich. Wer viele Jahre Staatsämter hatte, für den gelten viele Regeln nicht. Helmut Schmidt kennt für sich kein Rauchverbot. 1817 notiert in Berlin der deutsch schreibende schwedische Schriftsteller Per Daniel Atterboom: „Bei dieser Gelegenheit saß ich neben dem berühmten Arzte Hufeland, einem alten gravitätischen Ehrenmann, der immer noch lebt, in praktischer Verachtung seiner eigenen Theorie vom Tabakrauchen.“ 2004 sitzt Valéry Giscard d´Estaing Bundeskanzler Schmidt gegenüber. Zum 85. Geburtstag von Helmut Schmidt hat die SPD zu einem Wirtschaftssymposium eingeladen: „ Europa 2010: Wachstumsmotor für die Weltwirtschaft?“ Die beiden Altpolitiker wollen nach ihrer beachtlichen Vergangenheit in die Zukunft blicken. Moderiert wird das Gespräch von Christoph Bertram von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er habe Bundeskanzler Schmidt gefragt, in welcher Sprache er sich mit dem Franzosen früher verständigt habe. Englisch, habe er gesagt. Deshalb werde das Gespräch in englischer Sprache geführt. Der frühere französische Präsident erhält das Wort und spricht deutsch. Gaudi bei den Zuhörern. Nach einiger Zeit geht er über in Französisch. Helmut Schmidt spricht deutsch. Nur der Moderator hält sich an seinen Vorschlag und redet in englischer Sprache. Loriot hätte seine Freude daran gehabt. Die beiden Alten vorn sind gut drauf. Bundeskanzler Helmut Schmidt, der auch von dem anwesenden Bundeskanzler Schröder mit Herr Bundeskanzler angeredet wird, spricht präzise, oft apodiktisch, lobt wiederholt Schröder.

Zuvor hatte in der hypermodernen Halle am Brandenburger Tor unter erhöhter Sicherheitskontrolle die Parteispitze Helmut Schmidt ihre Aufwartung gemacht.„Herr Bundeskanzler, lieber Helmut Schmidt, ich weiß nicht, ob du glaubst, dass 630.000 Mitglieder sich freuen, dass du gesund bist“, sagt Franz Müntefering. Bei der Begrüßung der anwesenden Prominenz bekam der Altbundeskanzler den stärksten Beifall – Erinnerung verklärt halt. Die Fotografen balgten sich um den alten Mann am Stock. Loki Schmidt wurde weniger beachtet. Der Sender Phoenix übertrug live.

Gerhard Schröders hoch gewachsener Personenschützer blieb misstrauisch. Er stand am Rande der Gesellschaft und schaute hellwach in die Menschengruppe. Ich hatte eine kleine Metallkamera unkontrolliert in den Saal bekommen. Sie hätte auch ein Sprengstoffbehälter sein können. Gerhard Schröder hatte es schwer. Eigentlich war es ein Heimspiel. Doch beim Fußball werden von den heimischen Rängen meist sogar schlechte Pässe beklatscht, der Bundeskanzler bekam für gute Sätze kaum Beifall. Er ist auch kein mitreißender Redner. Er muss es gemerkt haben. Nach der Hälfte seiner angesetzten Redezeit ließ er ab von seinem Manuskript und sprach frei. Er wurde besser.

Tatterig sind einige Minister aus dem Kabinett Helmut Schmidt geworden. Anwesend sind der vom Alter gezeichnete Holger Börner und Karl Ravens. Olaf Scholz spaziert wie verloren durch die Gesellschaft. Hans Matthöfer, einst Finanz- und Postminister, wirkt frischer. Hans Eichel scheint aufgekratzt. Seine Fröhlichkeit ist aber aufgesetzt. Dem Siemenschef Heinrich von Pierer gelingt ein agitatorischer Schlag gegen die Patrioten. Wenn Menschen über die Verlagerung von Produktionen ins Ausland klagten, fordere er die Anwesenden auf, ihre Handys auf den Tisch zu legen. Er wolle sehen, wer eines von der deutschen Firma Siemens besitze. Neben mir sitzt Anja Sprogies  von der Pressestelle der SPD. Sie zieht ihr Handy vom Tisch. Fabrikat Nokia.

 

Ein Ereignis von Minuten

Mai. Auf Berlins historischer Prachtstraße Unter den Linden. Vor den Zufahrten rechts und links steht jeweils quer gestellt ein Polizeikrad, der Beamte darauf trägt eine weiße Uniform. In dieser Position verhindert der Polizist die Zufahrt zu den „Linden“. Die Luft scheint zu vibrieren, mehrere Hubschrauber fliegen tief über die Menschen hinweg. In Richtung Rotes Rathaus rollen einige mit Polizisten besetzte Polizeiwagen die Straße hinauf, als wollten sie zum Alexanderplatz. Ihnen folgt eine in V-Form fahrende Polizeistaffel. Sieben Beamte sind es, nach Protokoll fahren sie vor dem Wagen eines Ministerpräsidenten. Der Mercedes hinter ihnen ist schwarz, aber vom Volumen eher klein. Höchstens ein 250er. Darin soll Chinas Ministerpräsident sitzen? Der Lärm von fliegenden Hubschraubern ist stärker geworden. Es fährt die zweite Kolonne von Polizeiwagen in dieselbe Richtung. Die Nachhut. Auch ein Sanitätsfahrzeug ist dabei. Wieder eine Staffel so genannter weißer Mäuse, ihnen folgt ein schwarzer Mercedes mit einer Standarte am Kühler, das Rote Banner mit Stern der Volksrepublik China. Dieser Mercedes gehört vom Hubraum zur Machtklasse. In dem sitzt Chinas Ministerpräsident, der zur Eintragung in das Goldene Buch des Landes Berlin zum Roten Rathaus fährt. Die erste Polizeistaffel war offensichtlich eine Finte. Ein Attentäter träfe das falsche Auto. Die Polizisten und der Fahrer müssten ein mulmiges Gefühl haben. Hinter dem Wagen des Ministerpräsidenten folgt eine Mercedes-Kolonne, über ihnen dröhnen wie wütende Hummeln die Hubschrauber. Am Ende des Autowurms fährt ein Polizeiwagen mit einer grünen Fahne. Das Signal für das Ende der Behinderung. Sofort verlassen die Kradfahrer an den Einmündungen zu den „Linden“ ihre Positionen. Der Straßenverkehr wurde nur für wenige Minuten unterbrochen. Es gilt nun wieder der Satz des griechischen Philosophen: Alles fließt (wieder). Unter den Linden können die Menschen fast täglich beobachten, wie geschickt Berlins Polizei die Staatsgäste zwischen Rotem Rathaus und Bundeskanzleramt geleitet. Es ist jeweils ein Ereignis von Minuten. Dass zwei Kolonnen fahren wie bei dem Chinesen ist eine Rarität.

 

Die Straße des Reformers Hardenberg

Mai. Es ist Frühjahr 1933, die dumpfe braune Gewalt erobert Deutschland. Der Schriftsteller Hans Sahl: „Schnee fiel, und Trommeln gingen, und die Schritte marschierender Kolonnen hallten durch die Nacht.“ In seinen Erinnerungen „Die Wenigen und die Vielen“ schreibt er: „Ich brachte Luise zum Autobus und ging durch die Hardenbergstraße zu Professor Seehaus. Quer über der Straße lag ein Mann. Die Schneeflocken fielen auf ihn und sammelten sich in den Falten seines Mantels. Er lag stumm auf dem Pflaster, den Hut ins Gesicht gedrückt, Menschen gingen vorbei, aber niemand wagte es, ihn anzurühren. Man tat gut daran, sich nicht in fremde Angelegenheiten zu mischen.“ Über 70 Jahre später. Der Bereich vor dem Bahnhof Zoo ist der Hardenbergplatz. Von hier starten Busse und Taxis, auf ihm herrscht meist Hektik, Gewusel, herumirrende Touristen verursachen Menschenstaus. Ein Teil des Bahnhofs erstreckt sich wie eine Brücke über die Hardenbergstraße, die zum Ernst-Reuter-Platz führt. Sie ist Menschen abweisend angelegt: Zwei Betonstraßen auf der einen Seite, ein einfallslos angelegter Grünstreifen in Betonfassungen, auf der anderen Seite wiederum zwei Pisten für die Autos zur Gegenrichtung. Hat der Besucher den Bahnhof Zoo unterschritten, steht er vor Barrieren. Das Amerika-Haus am Beginn der Straße ist nicht zugänglich. Rotweiß gestreifte Sperren umgeben das flache Gebäude, innerhalb des geschützten Bereichs steht mindestens ein deutscher Uniformierter, der die wenigen Fußgänger auf der Hardenbergstraße mit seinen Blicken misstrauisch verfolgt. Hier muss 1933 der Mann gelegen haben, um den sich niemand zu kümmern wagte und dessen Schicksal unbekannt bleibt. Dem Flachbau Amerika-Haus gegenüber steht wie eine wilhelminische Trutzburg das wuchtige Gebäude des früheren Bundesverwaltungsgerichts. Der Autoverkehr brummt in Intervallen je nach Ampelschaltung über die Piste. Es gibt nur wenige Geschäfte, Restaurants sind ein Mangel. Das Gebiet wirkt abweisend. Die erste Abzweigung ist die Fasanenstraße, die hier ihren wohl klingenden Namen zu Unrecht trägt. An der Ecke Hardenberg-/Fasanenstraße sitzt die Berliner IHK in einem lichtdurchfluteten Bau mit dem Namen Ludwig-Erhard-Haus. Was in anderen Städten nicht üblich ist, wird in Berlin praktiziert: IHK und SPD rufen gemeinsam zu Informationsveranstaltungen. EU-Kommissar Günter Verheugen ist angesagt. Besucher kommen ohne Kontrolle in das Haus. Sie werden lediglich gefragt, in welche der vielen Veranstaltungen des Hauses sie möchten, hiernach wird ihnen der Weg gewiesen. Günter Verheugen scheint nicht gefährdet. Der helle Raum ist mäßig gefüllt. Zu viele Stuhlreihen bleiben unbesetzt. Obwohl die Einladungen an Aktive der IHK gegangen waren und an Sozialdemokraten. Entweder interessiert Europa nicht oder es ist die Vielzahl von Veranstaltungen allein an einem Abend hier in Berlin. Ein Europapokalspiel wird zum selben Zeitpunkt nicht übertragen. Der Kommissar scheint überarbeitet, er erzählt gelegentlich fahrig, sammelt sich wieder und präsentiert Fakten. Deutschland kommt bestens weg bei der Erweiterung der EU – aber zu wenige erfahren es. Es folgt ein Seitenhieb: „Bei der EU in Brüssel gibt es 20.000 Beschäftigte, die 450 Millionen Menschen verwalten, aber das sind weniger Angestellte als die BVG hat.“ Gelächter. BVG heißt Berliner Verkehrs-Gesellschaft. Die Menschen frieren. Es ist zu kalt für die Jahreszeit. Aus Geldmangel wird die IHK ihre Heizung nicht abgestellt haben. Denn sie bietet den Anwesenden zum Abschluss Wein und Wasser. Und, was in Berlin öfter zu beobachten ist, schwäbische Brezel. Aber schwäbisch: ohne Butter. Der wahre Schwabe öffnet seine Brezel und bestreicht sie – aber nur für sich.

 

Sprüche in/über/aus Berlin

Mai. „Nirgends werde ich als Frau weniger wahrgenommen als in Berlin.“ Sandra Maischberger laut Bild-„Zeitung“. Was soll denn da Angela Merkel sagen?

 

Ist Hamburg schöner als Berlin?

Notizen-Leser Alfred Paul schreibt: “Schöne Grüße aus dem Ruhrgebiet (Essen) ... nach einer Woche Hauptstadt (mit Besuch der Terrakotta-Armee) im ausgekernten, ehemaligen Machtzentrum der DDR und Polizeiaufgebot aus der gesamten Republik, (OSZE-Konferenz) bin ich froh wieder in heimischen Gefilden zu sein. Die Unterschiede in der Hauptstadt werden mir zu krass - (Potsdamer Platz Arkaden - zu Kollwitzplatz, mit einer besprühten Käthe) nein Berlin, du wirst mir immer fremder. Mein nächster Urlaub ist bestimmt in Hamburg.

Trotzdem lese ich immer wieder gerne Ihre Berliner Notizen ...”

 

Wie „Bild“ die Axt ansetzte

Mai. Aus der Bild-„Zeitung“ vom 12. Mai: „Bundespräsident Johannes Rau (73, geboren in Wuppertal) – so ganz konnte er sich offenbar nie an den derben Berliner Humor gewöhnen.

Kurz vor Ende seiner Amtszeit wird bekannt: Er hat sich immer wieder über den Mutterwitz der Spree-Kapitäne geärgert, berichtet ‚Focus‘.

Fuhren sie mit ihren Ausflugsschiffen am Schloss Bellevue vorbei, machten sie jedes Mal Scherze über die Fahne auf dem Dach. ‚Ist der Lappen oben, ist der Lump zu Hause‘, schallte es per Lautsprecher rüber. ‚Ist der Lappen unten, ist der Lump nicht zu Hause.‘ Und alle Fahrgäste lachten.

Mitarbeiter des Bundespräsidenten sollen sich bei Berlins obersten Tourismuschef Hanns Peter Nerger (56) beschwert haben. Angeblich baten sie um mehr Respekt, so ‚Focus‘. Offiziell wollte das gestern aber niemand bestätigen. Und wer soll frech gewesen sein?

Vom größten Anbieter ‚Stern & Kreisschifffahrt‘ kommen allein täglich zwölf Mal Schiffe am Schloss vorbei. Doch Sprecherin Rosemarie Marotz schwört: ‚Es war keiner unserer Kapitäne! Wir schulen unsere Mitarbeiter regelmäßig.“

Was ist an dem Beitrag in Bild verwerflich? Die Schmähung des Staatsoberhauptes und eines Verfassungsorgans wird als volkstümlicher Witz dargestellt. Die politische Rechte bereitete in der Weimarer Republik das Feld für die Diktatur auch damit vor, dass sie öffentlich das Staatsoberhaupt schmähte. Bild-Masche ist, andere zu zitieren. In diesem Fall den politischen Gesinnungsbruder Focus. Woher will Bild wissen, dass „alle“ Fahrgäste lachten? Keinerlei Empörung ist aus dem Beitrag zu lesen. Eine solide Zeitung hätte recherchiert, Reporter an Bord, mal hören, ob es stimmt. So wird die Axt an die Wurzeln der Demokratie gesetzt.

 

Wann wir schreiten Seit an Seit ...

Mai. Wie eine vereinsamte und verlassene Jeanne d’Arc der Arbeiterklasse radelt die junge Frau über die stille Berliner Prachtstraße Unter den Linden. Ihre rote Fahne der IG Metall weht im kalten Maiwind. Es ist der Feiertag der Arbeit. Die Radfahrerin mit der Fahne sucht gegen elf Uhr den Demonstrationszug der Gewerkschaften. Der sollte auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor starten und vor dem Roten Rathaus enden. Ich schaue wie die Jeanne d’Arc hinüber, die demonstrierende Arbeiterklasse muss schon unterwegs sein. Sie marschiert nicht geradewegs über die Prachtstraße, offensichtlich sind Nebenstrecken genommen worden. Die Frau radelt weiter über die piekfeine Friedrichstraße mit ihren Luxusläden, um den Zug zu suchen. Von dem ist nichts zu hören und zu sehen. Weil ich als Fußgänger nicht so mobil bin, marschiere ich direkt in Richtung Rotes Rathaus. Hier riecht es auf dem Vorplatz nach Bratwurst und Döner. Fernsehkameras werden aufgebaut. Michael Sommer wird die Regierung angreifen, von hier aus sollen die Tiraden in die Wohnzimmer aller Deutschen gesendet werden. Die Sonne scheint. Menschen parlieren, begrüßen sich, man kennt sich unter Gewerkschaftern. Kurden trommeln am Rande des Platzes. Käthe Kollwitz und der unvergessliche Zeichner Zille hätten an diesem Tag ihre Zeichenstifte im Futteral belassen – Elendsbilder gibt es nicht. Viele tragen am Tag der Arbeit ihre gute Sonntagskleidung. Auch das Handy ist proletarisiert, so mancher vor der Rednertribüne Stehende redet in seines hinein.

Auf der Bühne hat eine Gewerkschafterin das Mikrofon in die Hand genommen und missbraucht es. Sie redet, zu laut und zu lange, sie will die Anwesenden auf eine hektische Weise mobilisieren. Öffentlicher Mikrofonmissbrauch steht nicht im Strafgesetzbuch. Eine Lücke! Sie sieht die Spitze des Zuges und kreischt die Namen führender Gewerkschafter hinaus. „Wir sind noch nicht voll“, ruft sie über Verstärker. Und meint, der Platz sei noch nicht voller Demonstranten. „Schröder muss weg“, um diese Transparente balgen sich Fotografen. Mit Sicherheit einige davon aus dem Haus Springer. Angela Merkel wohnt etwa 500 Meter entfernt. Ob sie wegen der Anti-Schröder-Plakate Sekt trinkt? Mit Sicherheit nicht Rotkäppchen. An der Spitze des Zuges Michael Sommer volkstümlich ohne Jackett und schlipsfrei. Es wäre falsch zu meinen, die Jacke trage sein Büroleiter. Der läuft ebenfalls ein mit einer Fahne auf der Schulter. Mit in der ersten Reihe marschieren die neue Berliner Bausenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) und der designierte örtliche Parteivorsitzende Michael Müller. Der aber trägt ein dunkelblaues Jackett. Im ersten Pulk, aber nicht in der ersten Reihe Walter Momper, der treu Jahr für Jahr am 1. Mai zu den Gewerkschaftern vor das Rote Rathaus kommt. Wer Mitglied der Berliner Regierung ist, bringt Leidensfähigkeit und ein Übermaß an Toleranz mit: Mit überschwappender bis verzerrter Stimme beschimpft zur Eröffnung Bernd Rissmann den Berliner Senat und die Koalition. Bernd Rissmann ist stellvertretender Vorsitzender des Bezirks Berlin/Brandenburg im DGB. Der Rauch von Würstchenständen verstärkt sich. Auch der Geruch. In den Nachrichten wird gemeldet, die FDP habe sich für die Abschaffung des Maifeiertages ausgesprochen. Warum? Die Kundgebungen sind die preiswertesten Beschimpfungen ihres politischen Gegners Rot/Grün. Schwarz/Gelb kann mit Hilfe der Gewerkschaften im Schlafwagen an die Macht kommen. Rhetorisch und sprachtechnisch ist Michael Sommer in guter Verfassung.

Mit der roten Nelke des DGB am Revers fahre ich mit der S-Bahn zum Treptower Park zu einem Volksfest. Auf den Bahnsteigen und in der S-Bahn ernte ich bei den Ostgeborenen wegen der Nelke entweder überraschte Blicke, meist aber feindliche. Vierzig Jahre Argumente für die Arbeiterklasse sind in der DDR verpufft.  Am Alexanderplatz trafen sich früher um die Mittagszeit einige tausend Anhänger der PDS, um den politischen Entertainer Gregor Gysi witzeln zu hören. Der Platz ist leer. Auch die PDS ist nicht mehr, was sie mal war.

Der Treptower Park liegt am Ufer der Spree gegenüber der Halbinsel Stralau. In der DDR war der Bereich Stralau eine Kultgegend wegen Karl Marx. Vielleicht hat er dort mal in einer Gartenwirtschaft Kaffee getrunken. Auf dem diesseitigen Ufer schiebt sich an Kirmesbuden, Grillgeräten, Verkaufsständen für Bier und Tischen mit Tand im Angebot die Arbeiterklasse am Ufer der Spree entlang. Viele essen mit Gier. Für gute Manieren sind einige Territorien von Berlin Entwicklungsgebiete. Einige Frauen haben um die fleischige Taille die dickste Körperstelle. Zu viele sind zu weit entkleidet, zu dürftig ist Fleisch bedeckt. Männer tragen Kartoffel- oder Bierbäuche wie Trophäen vor sich her. Das Treptower Fest gab es am Feiertag der Arbeit schon in der DDR. Es wird damals nicht anders gewesen sein, nur die Essensangebote waren knapper. Auch die Berliner SPD beteiligt sich mit Ständen, einer Musikbühne und ausgelegtem Info-Material. Das bleibt liegen. Der künftige Vorsitzende Michael Müller ist hier volkstümlicher gekleidet als vorher beim DGB: Das blaue Jackett ist abgelegt. Am Abend sehen im regionalen Fernsehen und der folgenden Tagesschau Hauptstädter dokumentarische Unterhaltungsfilme aus Berlin: Die Faschos marschierten im Plattenbaugebiet auf. „Kreuzberg brennt“ bekommt sehr viele Sequenzen. Gewerkschaftsvorsitzende erklären, wenn alles so bleibt wie bisher, dann geht es vorwärts. Ich reime: Der Bsirske spricht, die Merkel lacht, er schimpft sie an die Macht.

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