Hans Dieter Baroth   Home
Berliner Notizen - 2004 - August
Sie sehen die Druckversion

 

Wenn „das Volk“ gespalten ist

August. Am Ausgang des Bahnhofs Alexanderplatz steht ein Bedürftiger. Er hat ein Schild gegen Hartz unter dem Arm geklemmt und telefoniert ausgiebig über sein Handy. Als er merkt, dass ich ihn fotografieren will, wendet der Mann sich ab. Eine Menschenschlange schiebt sich gegen 17.30 Uhr durch die Baustellen auf dem Alex. Zunächst ergibt sich der größte Teil der Menge dem nun in Ostberlin seit 15 Jahren anhaltenden Konsumterror; den scheinen die Leute aber gut zu ertragen. Mit fröhlichen Gesichtern drängen die meisten Menschen in die Filiale von SATURN. „Geiz ist geil.“ Abseits davon hat unter Führung der Marxistisch-Leninistischen Partei (MLDP) eine Gruppe zu ihrer Montagsdemo aufgerufen. Ein Mann kreischt ins Mikrofon, in 150 Städten werde demonstriert. „Wir sind das Volk“, heißt es wiederholt. Es mögen 200 Personen sein. Eine Polizistin grinst. Trunkenbolde rufen vom Rande der Gruppe Unverständliches in die Mitte. Die Organisatoren haben wie auf einem Scheiterhaufen viele Protestplakate gesammelt, aber das Gegenteil vom Zerstören ist gewollt, die Menschen sollen sie von dem Haufen nehmen und dann tragen. Eine Frau begeht Kindesmissbrauch: Ihre etwa achtjährige Göre hält ein Plakat in die Höhe. Das Kind konnte nicht entscheiden, ob es das wollte. Von einem Lastwagen, der als Podium hergerichtet ist, spricht eine Frau von „Kolleginnen und Kollegen.“ Sie trägt nach der gegenwärtigen Angebermode ihre Sonnenbrille hoch ins Haar gesteckt. Die modisch gekleidete Rednerin ist Mitglied einer Songgruppe. Sie und die Männer der Truppe müssten vom Alter her mit Egon Krenz bei der FDJ begonnen haben. Zu bekannten Melodien aus der Songbewegung der DDR singen sie neue, auf Gerhard Schröder zielende Texte. Ein junger Redner stellt Bedingungen: Wenn Schröder bis zum 1. September die Gesetze nicht zurückgenommen hat, „muss er zurücktreten. Und der Scheiß-Bürgermeister auch.“ Bei solchen Sprüchen müsste CDU und FDP das Wasser der Macht im Munde zusammenlaufen. Ständig wird gelogen – die Menschen „müssen für einen Euro arbeiten“. Das entscheidende Wort „zusätzlich“ fehlt. Wolfgang Clement habe heute eine Bundespressekonferenz abgehalten. Gelogen. Ein Schriftsteller wird angekündigt. Seinen Namen habe ich noch nie gehört. Nach wenigen Sätzen weiß ich, warum das so ist. Er verliest mit sich überschlagender Stimme seinen Text. Die Hände zittern. Er ist ärmlich gekleidet. Aber der Schriftsteller merkt nach dem Verlesen der ersten Seite, dass die nächsten beiden eng beschriebenen Blätter die Protestler langweilen würden. Er überschlägt sie und kommt zum Schluss. Beifall bekommt hier jeder, er muss nur wild schimpfen und Elend beschreiben. Um 18 Uhr behauptet der kreischende Veranstalter, in 200 Städten protestierten zurzeit 200.000 Menschen. Da hat „das Volk“ von 82 Millionen aber wenig Repräsentanten auf die Straßen geschickt. Warum sich innerhalb von 30 Minuten die Zahl der Veranstaltungsorte um 50 erhöht hat, bleibt unklar. Im Hintergrund stehen einige junge Männer: Schwarz gekleidet, schwarze Stiefel, schwarze Fahnen. Sie entscheiden sich, an einer anderen Veranstaltung des in Berlin gespaltenen Volkes teilzunehmen – dazu haben wenige hundert Meter weiter vor den Roten Rathaus die PDS und einige Gewerkschaften aufgerufen. Die Führung liegt in der Hand der PDS. Berliner Gewerkschafter begehen einen zweiten Sündenfall in der Verbandsgeschichte. Es war bisher ehernes Gesetz im DGB, dass Gewerkschaften sich nicht anderen Veranstaltern anschließen. Das ist eine Lehre aus der Geschichte, die Berliner Ur-Enkel der DGB-Gründer kennen sie wohl nicht mehr. In der Weimarer Republik war der 1. Mai ein unbezahlter Feiertag. Die Nazis erklärten ihn im Frühjahr 1933 zum bezahlten Feiertag. Für den 1. Mai 1933 rief die NSDAP zum Demonstrations“marsch“ auf. Im April 1933 entschied die Mehrheit des Vorstandes der freien Gewerkschaften sich anzuschließen. Von den Nazis wurden die Teilnehmer aus den Gewerkschaften gedemütigt, sie durften am Ende der Aufzüge dabei sein. Seitdem gilt in den Gewerkschaften dieses ungeschriebene Gesetz: Keine Teilnahme „unter“ anderen Veranstaltern. In Berlin und Ostdeutschland wird es gebrochen.

Am Alexanderplatz höhnen die Redner von der MLDP über die „gewerkschaftlichen Oberbonzen“. Männer mit Fahnen der IG Metall und von ver.di gehen an ihnen vorbei in Richtung Rotes Rathaus. Von dort ziehen die Demonstranten zur Parteizentrale der Grünen. Ungefähr 2.000 Vertreter des Volkes unter Führung der MLDP marschieren unter Polizeischutz erneut zum Parteivorstand der SPD. Über die CDU fiel hier kein Wort. Von der Fläche des Lastwagens triumphiert einer durch sein Mikrofon: „Bei uns sind mehr als bei der PDS nebenan.“ Es ist 18.20 Uhr. Durch das Bahnhofsgebäude Alexanderplatz schiebt der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) sein schwarzes altes Fahrrad. An der Theke der „Wiener Feinbäckerei“ betrachtet er sehr lange das Gebäckangebot. Er kauft aber nichts.

 

An der Regierungsrennstrecke

August. Berlin, Bezirk Weißensee. Der Name ist schöner als der Anblick hier an der Berliner Allee. Von ihr zweigt die Indira-Gandhi-Allee ab. Zu sehen ist die Verwahrlosung von Wohnhäusern. Sie sind grau, Fenster blind, trotzdem wohnen noch Menschen darin. Hinter der Imbissbude schlägt der Inhaber in einem Gebüsch sein Wasser ab. Er eilt zurück in den Verkaufsstand, ohne sich die Hände zu waschen. Davor stehen ansonsten bei der BVG Beschäftigte in ihrer Dienstkleidung. Sie rauchen gierig, reden laut, trinken Mineralwasser oder schlingen ihren Imbiss hinunter. „Grillhähnchen 4 Euro“. Vor 15 Jahren brausten über die Berliner Allee fast täglich dunkle großvolumige Limousinen der DDR-Führung in die Stadt zum Dienstbeginn. Sie kamen aus Wandlitz im heutigen Brandenburg, wo sie abgeschottet von der herrschenden Klasse, den Arbeitern, mit sehr viel Dienstpersonal DM verbrauchten. Kurz vor der Stadtgrenze soll einst auf Honecker ein Anschlag versucht worden sein. Der Täter hatte sich in die Fahrzeugkolonne gedrängt. Die geknebelte Parteipresse durfte darüber wie über vieles andere nicht berichten. Die Berliner Allee und die ihr folgende Greifswalder Straße wurden intern in der DDR Regierungsrennstrecke genannt. Ein Rudel von Volvos zischte in Richtung Innenstadt und am Nachmittag hinaus. Das Staatsoberhaupt mochte anders als sein Vorgänger Walter Ulbricht Westwagen. Das Honecker-Gen muss sich verbreitet haben, denn die ehemaligen Untertanen brausen in der Gegenwart oft mit überhöhter Geschwindigkeit, glücklich in ihrem Westwagen, über die Regierungsrennstrecke von einst.

Es ist eine Gegend mit vielen sozial Schwachen. Die Straße führt vorbei an dem Kulturhaus „Hans Ebel“. In dieser inzwischen morbiden Villa soll einst Bertolt Brecht gewohnt haben. Die einen Befragten bestätigen es, die anderen bestreiten das. Das Publikum auf den breiten Bürgersteigen sind alte Leute oder Frauen mit mehreren kleinen Kindern. Ausländer sind in diesem Teil des Ostens so selten wie Europäer in einer chinesischen Kleinstadt. Die Männer tragen durchweg kurze Hosen, dazu oft nur Unterhemden. Bisher wusste ich nicht, dass alte Männer derart von Krampfadern geplagt werden. Viele von ihnen kleiden sich in beigefarbene Westen, die der Oberbekleidung von Großwildjägern nachgeschnitten scheinen. Für 15 bis 25 Euro verwirklichen sie den Traum vom großen weiten Afrika in der einst so kleinen stickigen DDR, ein Hauch von Abenteuer erfrischt den Alltag, ein Ausdruck der vierten Jugend. Viele Frauen sind wohl genährt. Auf sie passt der Begriff, sie scheinen aus den Nähten zu platzen.

Die Geschäfte sind überwiegend Filialen von Ketten. Ein Fotolabor heißt „o. k.“, die erste Pizzeria aus Richtung Wandlitz „Rimini“. Der Bestatter Münzel bietet Urnen neben der Buchhandlung Albertinen. Wegert, Citi-Bank, Rossmann, Schlecker, auf die Länge von jeweils einem Fußballfeld folgt eine Apotheke. Der Weg zu einem Geldautomaten ist  nicht weiter. Ich stehe vor einem und mache Notizen. Eine wohlbeleibte 40-Jährige drängt sich heran, schaut mir unsensibel und ungeniert über die Schulter und möchte mitlesen. Der öffentliche Gebrauch von Handys ist auffällig. „Butter Lindner“, ein Geschäft für den gehobenen Bedarf, gibt es aber auch. In dem „Kino Toni“ soll der erste Tonfilm in Deutschland gelaufen sein. Sicher ist aber, dass 1945 von dieser Stelle die Rote Armee mit ihren Geschützen in die Innenstadt schoss. Später zur Zeit der Regierungsrennstrecke sollen alte Häuser entweder lediglich an der Vorderfront gestrichen worden sein oder nur in halber Höhe unten. Die Sicht auf den oberen Teil des Hauses bedeckte das Autodach des Staatsratsvorsitzenden. In den Geschäften soll mehr angeboten worden sein, so dass Honecker einen guten Eindruck von der Versorgungslage hatte. Insbesondere Orangen aus Kuba wurden vor die Schaufenster gestellt. War der Staatsratsvorsitzende vorbeigerauscht, sollen sie wieder eingesammelt worden sein. So wird es erzählt. Der Begriff Kaufkraft gehörte nicht zum Sprachgebrauch.

Es folgen die ersten Häuser einheitlicher sozialistischer Bauweise, später in der frei gewählten ersten und letzten Volkskammer Arbeiterschließfächer genannt. Die Plattenbauten sind farbig saniert und ansehnlicher als einst. In einem „Ankauf Verkauf“ liegt in einem Wühlkasten „Der Sturz“. Das Buch enthält die Aufzeichnung eines Gespräches mit Erich Honecker nach der Absetzung. Nach dem Preis frage ich nicht.

Im Foyer des S-Bahnhofes „Greifswalder Straße“ werden Bücher als Ramschware angeboten. Das Bedürfnis der Menschen, möglichst preiswert zu kaufen, sitzt so tief, sie wühlen sogar in den Bücherkästen. Daneben liegt „Die Schaubude“. Dieses Puppentheater hat die DDR überlebt. Aber nun mit einem anderen Programm als vor 15 Jahren. Märchen wurden zu der Zeit im „Neuen Deutschland“ gedruckt.

Erreicht ist der Thälmann-Park mit Plattenbauten. Seit Lenné scheinen Parkgestalter keine Einfälle mehr zu haben. Er ist schematisch angelegt, ideenlos – vielleicht sogar lustlos. Den Park teilt eine riesige freie Fläche, auf die im Hintergrund ein überdimensional gestalteter Kopf von Ernst (Thäddi) Thälmann gehievt wurde. Er konkurriert in seiner Klobigkeit und Wucht mit dem von Karl Marx im ehemaligen Karl-Marx-Stadt. An seinem Sockel liegen Kränze und Blumen. Graffitis verunzierten ihn zuvor. Zum 60. Jahrestag der Ermordung des früheren KPD-Führers Thälmann im KZ Buchenwald bei Weimar entfernten Berliner den Schmutz. Die Regierungsrennstrecke ist nun nahe der Ostberliner City, dem Alexanderplatz. Hier gibt es an der Greifswalder Straße sogar einen Bioladen. Das Lokal „Schnitzel-König“ liegt in der Nähe. Es riecht darin nach Küche wie mittags in der Bergmannskolonie. Das Lokal ist satt gefüllt. Meist mit Rentnern, die zum Dessert über ihre schlechte Lage lamentieren. Einige lesen den „Berliner Kurier“. Der ist auf Ostleserschaft ausgerichtet. „Weine nicht, Franzi: Für uns bist du GOLD.“ So die Schlagzeile. Wegen ihrer Kundschaft würden die Redakteure nie schreiben, die van Almsick sei zu dick. Gekonnt ist die zweite Schlagzeile formuliert: „Schröder: Papa mit 60.“ Und darunter steht objektiv und sprachlich falsch: „Ganz Deutschland diskutiert.“ Gemeint sind die Deutschen. Ein Land kann nicht diskutieren. Aber auch die Bewohner diskutieren nicht alle darüber. Nahe dem Alex häufen sich die Läden mit der typisch deutschen Küche im Angebot: Döner, Döner, Döner.

 

Eine Nachlese zum Juli:

Bewegung in Berlin

Juli. Samstag in der Hauptstadt. Mit der S-Bahn Linie 3 will ich von Friedrichshagen zum Savignyplatz fahren. Das wäre eine Fahrzeit von 45 Minuten. Ich will den Zug benutzen, der nach dem Fahrplan um 12.49 Uhr abfahren soll. Auffällig viele Menschen stehen an der Bahnsteigkante. Zufällig fällt der Blick auf die Abfahrttafel. Statt Ostbahnhof steht dort als Ziel Karlshorst. Die Informationen sind dürftig. Statt sechs Zügen in der Stunde fahren an dem Samstag nur drei Bahnen. Die nächste S-Bahn rollt nicht um 12.49 Uhr, stattdessen um 12.57 Uhr. Der arme Reisende, der um 12.59 Uhr abfahren will, um 12.58 Uhr pünktlich hier wäre, und einen Anschlusszug der DB am Ostbahnhof erreichen möchte! Die S-Bahn wäre weg, die nächste rollte erst um 13.17 Uhr. Die Reise könnte er sich abschminken. Ab Karlshorst gebe es bis zum Ostbahnhof einen Schienenersatz-Verkehr, heißt es. Das ist der Berliner Ausdruck für Busse. Die Reisezeit verlängere sich wegen Gleisbauarbeiten um 30 Minuten. Ab Karlshorst könnten auch Regionalbahnen in Richtung Innenstadt benutzt werden. Wer in das Häuschen der Bahnhofswärterin etwas fragt, hat ein Erlebnis wie vor einer Hundehütte mit einem scharfen Wachhund darin. Nach jeder Frage folgt wütendes Gekläff der Uniformierten. Zum Beispiel bellt sie, über Fernsehen und Rundfunk sei über die Reparatur berichtet worden. Über Gekläff ist zu erfahren, dass die S-Bahn um 13.07 Uhr in Karlshorst eintreffe, die Regionalbahn fahre um 13.05 Uhr ab Karlshorst. In Berlin-Karlshorst starten entgegen den Angaben keine Busse, von hier pendelt die S-Bahn bis zum Ostkreuz. Am Ostkreuz heißt es erneut umsteigen für zwei Stationen bis zum Ostbahnhof. Eine Fahrt von sonst 45 Minuten dehnt sich aus auf 90.

 

Die Neugierigen von Berlin

Juli. „Die Berliner sind neugieriger als die Menschen im restlichen Deutschland“, meldete die „Berliner Zeitung“. Nach einer Umfrage von Emnid sprachen sich 57 Prozent der Berliner diese Eigenschaft zu. Weniger aufgeschlossen für Neues zeigten sich die Bayern mit nur 34 Prozent, knapp darüber die Baden-Württemberger mit 36 Prozent. Nun wissen Berliner, warum die da unten CSU oder CDU wählen. Die Schwarzen haben mit der FDP zusammen in der Hauptstadt keine Chancen auf eine Mehrheit. „Und das ist gut so.“

 

Lange lebt die DDR

Juli. Am 12. Juli benötige ich in Düsseldorf zwei Briefmarken für Postkarten. Kleingeld für den Automaten habe ich nicht. Nahe der Kö kaufe ich die Marken in einer Filiale der Post. Ab nächsten Monat, sagt freundlich die Frau hinter dem Verkaufstresen, gebe es einzelne Briefmarken nur noch an einer Ausgabe rechts. Einen Tag später bei der Post in Berlin-Friedrichshagen, deren Personal wiederholt wegen Ruppigkeit auffiel. Eine Frau möchte einige Briefmarken. Im Tone der DDR wird ihr erklärt, einzelne Briefmarken gebe es nur am Automaten. Wenn sie die Briefe aber in der Filiale abgebe, bekomme sie die Marken. Als Ostgeborene leistet sie keinen Widerstand gegen diese Willkür. Die „Kundin“ (?) muss mit den Briefen kommen, sich erneut anstellen, um sie frankieren zu lassen. Lange lebt die DDR!

 

Vom alltäglichen Charme

Juli. „Lange dachte ich der Kiez wäre eine von Berlins Stadtlegenden, wie der sagenhafte Sprachwitz (in Wahrheit verbale Bulldozerei) oder die Berliner Lust am Leben (studieren Sie mal die joi de vivre auf der U2 von der Eberswalder Straße!)“, schreibt Roger Boyes von der angesehenen britischen „The Times“ über sein Leben in der deutschen Hauptstadt. Er hat es noch gut im Stadtteil Grunewald. „In meiner Straße ... ist das eine Mischung aus Porsches, Witwen und Hundekot (was im alten Berliner Kiez die Straßengang war, ist heute die Gassi-Mafia). Ihre Labradore und West Highland Terrier fest im Griff, führen diese Grunewalder Gassigänger eine Informationsbörse über unseren kleinen reichen Kiez.“ Die City durchleidet der Bürger nur in Ruppigkeit. Wieder einmal sind auf dem Ostbahnhof mehrere S-Bahnen ausgefallen. An der Bahnsteigkante stehen die Menschen wie bei den Hamsterfahrten der Nachkriegszeit. Endlich läuft eine Bahn Richtung westliche City ein. Die Menschen drängen in den Waggon. Eine Handbreit schräg rechts hinter mir will eine nicht mehr sehr junge Frau in den Wagen. Ich bitte sie mit einer Handbewegung und einem Lächeln, als Frau vor mir durch die Tür zu gehen. Sehr heftig bellt sie mich an, ob ich nicht sehe, dass links noch eine Mutter ihren Kinderwagen in den Wagen schieben will und sie deshalb hier stehe. So viel Frechheit oder ein so intensives Missverständnis macht mich sprachlos. Ich bleibe stehen und bitte sie trotzdem vor mir die S-Bahn zu betreten. Ein wütender Blick, sie rauscht hinein. Wir sitzen uns in der überfüllten Bahn schräg gegenüber. Wütende braune Augen taxieren mich ungeniert von oben bis unten. Menschen so zu betrachten ist im Osten der Stadt nicht unüblich. Ihr Mund bewegt sich leicht, sie schimpft vor sich hin. Und meint mich. Am Bahnhof Jannowitzbrücke trifft mich erneut der strafende Blick. Nach nur zwei Stationen am Alexanderplatz verlässt die Frau die Bahn. Dame möchte ich sie nicht nennen. Sie hat mir noch immer nicht verziehen, dass ich höflich war. Doch ich werde weiter Frauen den Vortritt geben. Über eine Fußgängerbrücke am Bahnhof Friedrichstraße überquere ich die Spree in Richtung des Lokals „Ständige Vertretung“. Zwei Burschen hocken auf einer Wolldecke. Ein riesiger Köter liegt ruhend neben ihnen. „Hast du mal ein paar Euro oder Scheine.“ Von fremden Menschen geduzt zu werden ist hier Alltagsleben.

 

Ein zunächst normaler Tag

Juli. Es ist ein Sonnentag. In der Frühe sind in Berlin-Friedrichshagen am Müggelsee die ersten Touristen zu besichtigen – Rentner und einige Männer auf Fahrrädern. Frauen sind optisch in der Minderheit. Am Ufer des Müggelsees dümpelt ein Schiff der Weißen Flotte. Offensichtlich wartet der Schiffsführer noch auf weitere Fahrgäste. Wegen des Sonnenscheins sitzen seine Fahrgäste im Freien. Sie sind fröhlicher Stimmung, was zu hören ist. Es ist so, wie Helmut Kohl einmal sagte, Deutschland präsentiert sich zumindest hier als Freizeitparadies. In Friedrichshagen ist die Spree für Fußgänger untertunnelt. Den Fluss zu unterqueren empfinde ich immer wieder als Abenteuer. Die Tunnelröhre ist auch tagsüber halbdunkel. Zu wissen, dass bei einem Bruch der Betondecke niemand sich hier vor den einstürzenden Wassermassen retten könnte, löst ein gruseliges Gefühl aus. Gebaut wurde der Spreetunnel in den dreißiger Jahren der Weimarer Republik. Ein Film nach einem Drehbuch von Bertolt Brecht wurde damals hier gedreht. Das andere Ufer der Spree ist bewaldet. Eine schmale Betonstraße führt durch den Wald linealgrade nach Köpenick. Einige Senioren werden in Rollstühlen über den Beton durch die erwartete frische Luft geschoben. Kindergruppen erobern lärmend ein Freibad am Ufer des Flusses. Gegenüber dem Bad liegt eine Brauerei mit Biergarten. Die ersten Gäste sonnen sich. Daneben in dem Haus wurden einst Ruderer zum Ruhme der DDR gedrillt. Nur einmal übertönt die Schiffsglocke an der nahe gelegenen Abfahrtstelle das Lachen der Kinder. Sie bespritzen sich mit dem Wasser der hier noch sauberen Spree. Es heißt, an dieser Stelle verlasse der Fluss als sauberer Schwan den Müggelsee, um sich dann als schmutziges Schwein in die Havel zu ergießen; die Spree fließt durch die City und wird Meter für Meter schmutziger. Ich radle über die Betonpiste Richtung Köpenick. Rechts zwischen den Bäumen blitzt immer wieder das Wasser des Flusses auf, in dem sich die Sonne spiegelt. Diese Idylle hätte an dem Tag ein dramatisches Ende finden können. Am Abend in der Gaststätte „Bier-Keller“ erzählen die ersten Gäste, „was im Radio durchgesagt wurde.“ Wenige Stunden nach meiner Radfahrt fanden Taucher nahe dem Freibad und der Anlegestelle drei „scharfe“ Bomben aus dem Krieg. Vier weitere wurden Minuten später gefunden. Sieben nicht entschärfte Bomben nahe dem Biergarten, den schwimmenden Kinder, den voll besetzten Ausflugschiffen ... Bomber klinkten im Krieg gelegentlich ihre todbringenden Waffen über Wasser ab, weil eine Landung mit ihnen zu gefährlich war.

 

Der Juli unsers Missvergnügens

Juli. Ende Juli amüsierten sich Reporter des rbb in der lokalen „Abendschau“ über die Anhäufung von Touristen in der Hauptstadt. Sie höhnten in einem Bericht, Touristen träten meist nur in Rudeln auf. Auf dem Bildschirm waren Gruppen zu sehen: Männer vermummt in Regenumhängen, missmutige Kinder hinter sich, verärgerte Ehefrauen am Ende des Rudels, Familien unter Schirmen versammelt vor Sehenswürdigkeiten. „Ausgeladen“ würden sie „immer an derselben Stelle“, hieß es in der „Abendschau“. Zu sehen war ein Bus der Linie 100 vor dem Reichstag, Touristen stiegen aus und reihten sich geduldig an das Ende einer Schlange Wartender, es dauerte Stunden, bis sie sich den Aufgang in die Kuppel des Reichstages erstanden hatten. Direkt hinter der ehemaligen Mauer im Westteil deshalb ein Hauch von DDR: Menschenschlangen. Die Missgelaunten versammelten sich während der kalten und verregneten so genannten Sommertage stets an denselben Stellen: Friedrichstraße, Kulturkaufhaus Dussmann, Checkpoint Charly, Kanzleramt, Brandenburger Tor, Potsdamer Platz, Alex, im Westen an der Gedächtniskirche, im Europa-Center, KaDeWe, Kurfürstendamm – der große weite Rest der Metropole gehörte den Einheimischen. Dank des schlechten Wetters kamen sie nicht zum Wannsee, stürmten nicht die Liebermann-Villa dort, ließen den Müggelsee ein stilles grünes Kleinod sein, gingen auch nicht über die Knesebeckstraße von Charlottenburg. Wer in Berlin Touristen meiden möchte, muss multikulturelle Gebiete aufsuchen oder seinen Kiez kennen. Ende Juli waren in den Reisebüros Ziele in klassische Sonnengebiete ausgebucht. Wer es schaffte, war Berlin entflohen – nicht (nur) wegen der Zusammenrottungen von Touristen, wohl eher wegen des Wetters. Es war ein Juli unsers Missvergnügens.

Verwendung nur mit Zustimmung des Autors