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Berliner Notizen - 2004 - September
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Fahrradständer vor Ministerien

September. Alexanderplatz 6. Es gibt mit A und B bezeichnete Eingänge in das Haus, einen Plattenhochbau aus der DDR, inzwischen aber saniert und farbfreudiger. Auffällig viele Fahrräder stehen vor einem Eingang, durchweg betagte Drahtesel, viele haben keine Gangschaltungen, die meisten sind dunkelfarbig. Ich zähle 25 geparkte Fahrräder in dieser belebten Gegend vor dem Eingang des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dienstsitz Berlin. Das ist die Außenstelle, das Ministerium hat seinen Hauptsitz noch in Bonn. Zehn Meter weiter, am anderen Eingang des Hauses mit der Postadresse Alexanderplatz 6, sind genau 11 Fahrräder abgestellt. Das Schild an der Tür weist aus: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

 

Wilhelmstraße – Hitlers Reichskanzlei

September. Hinter der Spitzenadresse Hotel Adlon am Berliner Pariser Platz folgt die futuristisch gebaute britische Botschaft. Sie liegt an der geschichtsträchtigen Wilhelmstraße. Das Botschaftsgebäude ist von der Polizei gesichert. Noch immer, wegen der Beteiligung Großbritanniens an dem Irakkrieg. Autos dürfen das Gebäude mit dem Union Jack davor nicht passieren. Auch nicht die Busse der BVG. Betonwürfel verhindern die Zufahrt. In dem Bereich des Hotels und der Botschaft lag einst der so genannte Führerbunker, Hitlers letzte Befehlsstelle. Der Bereich sollte völlig unkenntlich gemacht werden, so wollte es die Regierung der DDR. Es sollten nie mehr Touristen dieses Bauwerk sehen. Ebenfalls an der Wilhelmstraße lag Hitlers Reichkanzlei. Auf deren Gelände ließen die Mächtigen des Staates der Arbeiter und Bauern Plattenwohnhäuser bauen, solche der besseren Art, nicht sehr hoch, unten mit Geschäftsräumen, anders als in den Arbeiterschließfächern von Marzahn oder Hellersdorf. Denn hinter den Häusern an der Wilhelmstraße lag der von ihnen so genannte antiimperialistische Schutzwall, die Mauer. Weil nur überzeugte Parteileute so nahe am Westen wohnen durften, lebte hier auch Günter Schabowski. Er wurde mit einem Versprecher bekannt. Am 9. November 1989 sagte er irrtümlich, die Bewohner könnten „ab sofort“ die DDR verlassen. Was so nicht geplant war. In dem früheren Ossiluxuswohnbereich gibt es ein Lokal für Vegetarier. Asiatische Küche, alles frisch, aber auch teuer. Um die Mittagszeit sehe ich wenige Gäste. In einem größeren Kiosk mit Boulevardmedien gibt es Linsensuppe für drei Euro. Bauarbeiter verbringen darin ihre Mittagspause.

Am „Alten Berliner Wirtshaus“ einige Meter weiter werden auf einer Schiefertafel Sauerbraten mit Klößen und Rotkohl sowie Rosinen für 5.95 Euro angeboten oder Bouletten mit Beilagen für 4.95 Euro. Die Berliner Küche gilt nicht als ausgefeilt. Es wird behauptet, neben den Bouletten sei auch der Döner in dieser Stadt kreiert worden. Das Lokal ist dekoriert, als wäre es ein Bierlokal aus der Kaiserzeit. Die Möbel mit vielen Verschnörkelungen sind braun. Auf einigen Regalen steht verstaubter Nippes. An einer Wand hängt ein schlechter Druck von einer Alpenlandschaft. Berlinern wird nachgesagt, sie behaupteten, hätten sie die Alpen, wären sie höher. Entgegen den Lebenserfahrungen in der Hauptstadt ist die Servierfrau freundlich. Sie sieht aus wie die Eiskunstläuferin Kilius – als die noch jung war. Der Sauerbraten ist reichlich. So wollen ihn die meisten Gäste. Das „Alte Berliner Wirtshaus“ ist gut gefüllt. Ob die Gäste wissen, dass tief unter ihnen die Keller der Reichskanzlei sind?

Das türkische Café „Efendi“ ist geschlossen. Der Besitzer hat aufgegeben. Auf einem Zettel an der verstaubten Tür bedankt er sich für die frühere Treue seiner Stammgäste. Nach einem weiteren Kiosk voller Blätter mit großen Buchstaben und wenig Inhalt, folgt das Lokal „porta“, ein teures italienisches Restaurant. Porta heißt im Lateinischen Pforte. So wird es in der DDR nicht geheißen haben, denn hier war sie räumlich am Ende. Hinter dem Restaurant wachten einst die Scharfschützen der NVA. Eine Einbuchtung vor den Plattenbauten auf der Hitlerschen Reichskanzlei ist zu einer winzigen Grünanlage gestaltet. Ein paar Bäumchen, Bänke bilden einen Kreis, der Mittelpunkt ist ein Stück Grenzanlage von einst. Das Mauerstück ist ein Original, wie es am Sockel heißt. Aufgestellt wurde es am 3. Oktober 2003. Auf der Seite Richtung Osten wurde darauf ein modernes Kunstwerk geschaffen, die andere Seite zeigt noch immer die Hässlichkeit dieses Bauwerkes. Immerhin ist die DDR der einzige Staat in der Geschichte, der nicht einen Schutzwall vor Feinden baute, er sperrte seine Bürger ein. In dem Haus hinter dem Park befindet sich eine kleine Buchhandlung mit dem Aufschriften Buch, book und kyrillischen Buchstaben, die wohl das Gleiche bedeuten. Die Regale sehen noch so aus wie in der DDR. Das Angebot scheint auf den ersten Blick schmächtig. Einige Bücher sind in russischer Sprache verfasst. Das Geschäft daneben ist leer. „Mieter gesucht“. Zwischen Buchhandlung und leerem Laden ermöglicht eine Durchfahrt einen Blick nach Westberlin. Wo einst die Mauer stand, grenzt ein Drahtzaun die Grundstücke im Westen ein. Einige Neubauten „drüben“ sind die Vertretungen von Bundesländern. An Hitler erinnert nichts mehr.

 

Folgenloser Irrtum

September. An der Friedrichstraße steht an einer Hauswand eine Menschenschlange. Die DDR gibt es hier seit 14 Jahren nicht mehr, der Andrang muss einen anderen Grund haben als die Anlieferung von Waren. Die Wartenden stehen geduldig, die Schlange setzt sich fort um die Ecke. Dort quert Unter den Linden die Friedrichstraße. Ein kritischer Blick: Keine Touristen, keine Kulturbürger, eher Anwohner aus der Umgebung. Flick lässt die ersten Kunstwerke seiner Sammlung ausstellen, das kann es aber wegen des Publikums nicht sein. Endet die MOMA- Schau und hier werden die letzten Eintrittskarten verscherbelt? Kunstliebhaber sehen anders aus. Ich biege ein Unter den Linden. Ein folgenloser Irrtum: Ein T-Punkt wird eröffnet und Auslaufmodelle von Handys gehen preisniedrig über die Theke. Ein leichter Hauch von DDR.

 

Berliner Charme

September. Berlin endet im Südosten in Rahnsdorf. In der DDR war der Vorort eine intensiv verschlafene Gegend. An der Ausfallstraße ins Brandenburgische wurde ein Einkaufszentrum angelegt. Die Straße heißt Fürstenwalder Allee. Sie führt nach Fürstenwalde/Spree. In der Bäckerei „Dr. Lehmann“ sind einige Tische und Stühle aufgestellt. Aber an diesem Samstag bleiben sie um die Mittagszeit unbesetzt. Die Kunden haben es eilig – ab ins Wochenende, scheint die Devise zu lauten. Das Warenangebot ist schon knapp. Fast jeder Zweite bekommt zur Antwort: „Ham wa nich.“ Vielleicht kennen die Kunden die Antwort noch aus der DDR und reagieren deshalb mit Schweigen und Demut. „Haben Sie noch Schrippen“, fragt herrisch eine Mittdreißigerin. Brötchen heißen in Berlin Schrippen. „Nein, ham wa keine mehr.“ „Scheiße“, ruft die schlanke Blonde und scheint mit dem Fuß auf den Boden zu stapfen. Sie stürmt hinaus und ruft: „Ich wollte am Abend eine Party machen.“ Noch in Hörweite der Enteilenden bekommen die anderen Kunden von der Verkäuferin zu hören: „Die Schrippen gibt es morgens ab sechs Uhr ganz frisch. Dann soll sie mal eher aufstehen, wenn sie welche will.“ Kein Anwesender empört sich.

 

Auch Ex-Minister kaufen ein

September. Freitagabend am Alexanderplatz. Es riecht nach Bratwürstchen, über den Alex hastenden Menschen werden Handzettel hingehalten – es sind Tierschützer oder Parteien, die Blättchen verteilen lassen. In gelbe Umhänge gekleidete junge Männer trommeln und singen einschläfernd Texte mit ständig sich wiederholenden Lauten. Sie sind als tibetische Mönche verkleidet. Eine osteuropäische Musikgruppe lärmt wenige Meter weiter. Einige junge Bettlerinnen wollen ohne jede Leistung Euro in ihre Blechdosen geschenkt bekommen. In das Kaufhaus Kaufhof Galeria am Alexanderplatz – in der DDR Kaufhaus Centrum – eilen Kunden. In der Lebensmittelabteilung wird hastig eingekauft, noch am Abend soll es wohl in die Datsche gehen. Ein Mann geht genau das Angebot taxierend an den Regalen vorbei. In der linken Hand trägt er den Einkaufskorb des Kaufhauses. Er fällt nicht auf. Ob er vor zwei Jahren auch hier eingekauft hätte, bleibt unklar. Walter Riester ist unauffällig gekleidet, ob die Kunden ihn deshalb nicht erkennen? Der Bundesminister a. D. und ehemalige Gewerkschafter hat seinen politischen Abgang wohl überwunden – er genießt das Leben ohne Stress. Der geborene Franke lebte Jahrzehnte in Baden-Württemberg. Verständlich, dass er sich nach südwestdeutscher Ware umsieht. Im Ministerium erlebte er Unverständnis, als er mal nach seinem schwäbischen Leibgericht „Kutteln“ gefragt hatte. Kutteln sind Innereien, sauer angemacht, dazu gibt es Klöße. Walter Riester scheint nicht verbittert. Gern hätte er seine gewerkschaftliche Karriere als Vorsitzender der IG Metall beendet. Aber Klaus Zwickel klebte an seinem Sessel. „Mit über 60 wollte ich nicht mehr kandidieren“. Und er geht mit seinem halb gefüllten Warenkorb zur Kasse.

 

Gewerkschafter im Museum

September. Am Tag nach der Wahl im Saarland wirkt der Bundeskanzler aufgeräumt. Er betritt federnd das Rednerpult und eröffnet seinen Vortrag launig: Es sei eine Veranstaltung des DGB und es werde nicht demonstriert. Dass dieses Treffen mit Gewerkschaftern in einem Museum stattfinde, sei Zufall und ohne Bezug.

Im Museum für Kommunikation, früher Postmuseum an der Leipziger Straße, sind viele ergraute Gewerkschafter zusammen. Da fällt der früh ergraute Michael Sommer während dieses Altweibersommers nicht auf. Ernst Breit, Vorsitzender des DGB von 1982 bis 1990, ist 80 Jahre alt. Das Ereignis wird gefeiert. Der Dithmarscher hat den Dachverband in schweren Krisenzeiten geführt. Der Bundeskanzler lobt den Jubilar. Klaus Murmann, Ehrenpräsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, lobt Ernst Breit. Michael Sommer, nach Heinz-Werner Meyer und Dieter Schulte Breits Nachfolger, lobt seinen Ex-Ex-Vorgänger: Ernst Breit lebt. Würde nicht jeder Redner sich auch um heitere Geschichten bemühen, es klänge wie auf dessen Beerdigung.

Sic transit gloria mundi – politische Größen von einst spielen keine auffällige Rolle mehr. Klaus Zwickel thront nicht mehr am herausgehobenen Tisch beim Bundeskanzler. Er ist irgendwie auf das geschrumpft, was er immer schon war – auf seine Unauffälligkeit. Jürgen Peters, jetziger Vorsitzender, ergreift fast jede Hand zum Gruße. Sein Vize Berthold Huber übersieht in seiner Arroganz so manchen Nachbarn. Der frühere Finanzminister Hans Matthöfer ist nicht mehr für alle eine Person, die auf Anhieb erkannt wird. Auch Herbert Ehrenberg, Bundesarbeitsminister im Kabinett Helmut Schmidt, lebte einst vom Glanze des Amtes. Erst auf den dritten Blick erkenne ich die zurzeit blonde Monika Wulf-Mathies. Einer der sie auch nicht mag, beschreibt sie als Korken. Erst habe sie als Vorsitzende die Gewerkschaft ÖTV in die finanzielle Ermattung geführt. Als EU-Kommissarin sei sie gestürzt, und der Mann lacht. Nun arbeite die Frau für die Deutsche Post AG als Lobbyistin. Was sie da genau mache, sei nicht bekannt. Aber Monika Wulf-Mathies habe ein üppiges Büro in Bonn, eines im Ostteil von Berlin, ein Domizil in Manhattan.

Von den aktuellen Vorsitzenden der einstigen Arbeiterbewegung fällt Frank Bsirske auf – durch eine gesunde Urlaubsbräune.

Nach seiner Dankesrede auf Ernst Breit verlässt der Bundeskanzler das Gebäude. Zu dem Essen hier fehlt ihm die Zeit. Er bekommt zum Abschied sogar Beifall von einigen Gewerkschaftern. Stunden später sehe ich Hans Matthöfer leicht unsicher wirkend die Treppen zum Ausgang hinab steigen - allein, unbeachtet. Selbst die schwere Tür des Hauses muss er allein aufdrücken.

 

Thüringen liegt vor Nordkorea

September. Es ist die kleinste Demonstration des Tages in Berlin. Eine auf einem Gartenstuhl sitzende Frau hält ein Transparent, ein Mann betrachtet derweil einen Schaukasten. Die Glinkastraße liegt im Osten. In dem Plattenbau mit den Nummern 5/7 befindet sich hermetisch gesichert die „Botschaft der koreanischen demokratischen Volksrepublik.“ Auf dem hellen Leinentuch der Demonstrantin steht: „Freiheit für alle aus politischen und religiösen Gründen Gefangenen in Nordkorea.“ Auf dem Gelände der Botschaft ist es still. Darauf geparkt steht ein postgelber VW-Bulli mit der Nummer B-CD 2167. Der cremefarbene daneben gehört laut Reklameschrift der Installationsfirma Frank Biedermann. Wie im realen Sozialismus sind Arbeitende nicht zu sehen – und zu hören. Der Bereich der koreanischen Botschaft ist ein Platz der Stille. An dem Stahlzaun hängt ein Schaukasten. Sicherlich heißt er intern Sichtagitation. Darin befinden sich einige farbige Fotos, die Aufmärsche und moderne Betriebe zeigen. Auf dem obersten Foto ist der verblichene Präsident Kim Il Sung zu sehen, so als stehe er noch prall im Leben. Sein etwas pummeliger Sohn Kim Jong Il ist auf einem daneben abgebildet. Die wenigen Passanten hasten an dem Kasten vorbei. Nur ein Mann betrachtet ihn intensiv – er ist der Demonstrant. Das metallene Tor ist verschlossen. Ein Klingelknopf befindet sich links. Und ein Briefkasten für Zeitungen. Die Botschaft der koreanischen demokratischen Volksrepublik bezieht vier: Die Frankfurter Allgemeine, die Berliner Zeitung, Neues Deutschland und Die Welt. Wenn die Botschaftsangestellten zumindest in dreien der Blätter täglich lesen, wie an der Regierung gemäkelt wird, werden sie froh sein, dass es bei ihnen anders ist. Unbekannt bleibt von draußen gesehen, wie die Werbebeilagen betrachtet werden. Die Botschaftsangehörigen wohnen innerhalb ihres abgeschlossenen Geländes. Einige der Plattenbaubalkone sind mit Topfblumen geschmückt. Plötzlich öffnet sich die Tür im Tor. Ein Summer wird von innen betätigt. Heraus tritt eine Asiatin Ende dreißig. Sie schaut nur flüchtig auf das Transparent der beiden Demonstranten. Dann geht sie weiter. Ich spreche die Frau an, ob man in ihrem Lande auch in den Urlaub fahren könne. „Ha“ knurrt sie statt bitte. Das gibt mir die Sicherheit, dass sie in der DDR ausgebildet wurde. Denn bitte, danke, Entschuldigung gehörten nicht zum Sprachgebrauch. „Weiß ich nicht“, brummt die schlecht geschminkte Frau und steigt hinab in den Untergrund von Berlin – den U-Bahnhof Mohrenstraße. Dem zeigt das Botschaftsgebäude die Rückseite. Die ist uniform mit einheitlichen Gardinen an den Fenstern ausstaffiert. Einige müssten gereinigt werden.

Hinter dem U-Bahnhof mit Blick auf die Rückfront des Hauses der Nordkoreaner steht der helle schmucke Neubau der „Vertretung des Freistaats Thüringen beim Bund“. Anders als in der ausländischen Botschaft dürfen Berliner zumindest das Restaurant „Der Thüringer“ betreten. Es ist modern eingerichtet. Um Gäste wird geworben. Auf einer Tafel steht mit heller Kreide groß geschrieben: „Zwiebelkuchen und ein Glas Federweißer“ für 3,50 Euro. Thüringen gehört zu den Südländern. Denn dies ist meist das Angebot für Schwaben. Als Brotzeit servieren die Menschen hinter den Bergen hier an der Spree „Linsen mit Thüringer Rotwurst“ zu 5,10 Euro. Das allseits bekannte „Rostbrät’l mit Bratkartoffeln und Röstzwiebeln“ ist für 6,10 Euro zu haben. „Hühnerfrikassee mit Reis“ kostet 5,50 Euro. Nach einem Ondit ist das ein Lieblingsgericht von Thüringerinnen.

 

Im drogenfreien Café

September. „Karuna Café-Pavillon – alkohol- und drogenfrei“, so präsentiert sich am Boxhagener Platz im Stadtbereich Friedrichhain eine neu erbaute Einrichtung. Leider ist sie nicht handyfrei. Ein Gast prahlt laut vor den Zwangszuhörern über seine vermeintlichen Kontakte zu den Berliner Medien. „Karuna“ ist ein Treff der Szene um den Platz. Aus dem Haus mit großen Glasflächen kann das Leben auf dem grünen Geviert des Boxhagener Platzes betrachtet werden. Auf den Bänken sitzen am Morgen gegen elf Uhr die sozial Abgestürzten. Die Bierflasche neben sich auf der Bank, stieren sie meist zu Boden. Auf dem Gelände spielen sozialschwache Halter mit riesigen Kötern. Dieses Gebiet im neuen Ostberliner Szenebereich ist ein altes Arbeiterviertel. Die riesigen Mietskasernen wurden zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts hochgezogen. Wegen der schlechten Qualität sahen sie zur Kaiserzeit schon so verfallen aus wie später fast alle Gebäude in der DDR. Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Friedrich Ebert wohnte hier von 1905 bis 1909. Am Boxhagener Platz hatten die Kommunisten in der Weimarer Republik ihr größtes Berliner Versammlungslokal. Im Staate der Arbeiter und Bauern standen hier nur noch bewohnte Ruinen. Das Gebiet ist optisch aufgerüstet worden. Der Berliner Senat lässt den Boxhagener Platz von einem Quartier-Management betreuen. Soziale Einrichtungen für Jugendliche wurden geschaffen. Ein Mitteilungsblatt liegt im „Karuna“ aus. Die Gäste des Lokals scheinen meist Studierende, Künstler und Medienmenschen zu sein. An ein Brett darf jeder Mitteilungen heften, zum Beispiel für seine Ich-AG werben. Die Preise im „Karuna“ können neusprachlich moderat genannt werden. Eine Tasse Kaffee gibt es für 1.10 Euro, der Milchkaffee kostet 1.70 Euro, die heiße Milch mit Honig 1.30. Die Angestellten hinter der Theke sind durchweg freundlich und kommunikationsbereit. Die Muffeligkeit der DDR ist erfolgreich vertrieben worden. Hier ist Aufbruchstimmung spürbar. Das metallene grüne Toilettengebäude in der Nähe ist eine Rarität. Es scheint noch aus der Gründerzeit vor hundert Jahren zu stammen. Aber in seinem Innern ist es zeitgerecht mit Wasserklosetts und Handwaschbecken umgerüstet worden.

Das regionale Fernsehen in Berlin übertrug eine Bürgerdiskussion über den neuen Boxhagener Platz. Neubewohner lobten die Erfolge des Senats wegen der Sanierung und der Einrichtung für die Jugendlichen. Ein ostgeborener Anwohner mäkelte in die Kamera, „früher war die Nachbarschaft besser“. Leider fragte der Moderator nicht, wer den Ossis denn verboten habe, weiterhin gute Nachbarn zu sein.

 

Beobachtungen bei einer Beisetzung

September. Dem modernen Krankenhaus gegenüber liegt der alte St. Georgen-Friedhof. Er erstreckt sich zwischen ehemaliger Lenin-Allee und früherer Stalin-Allee; nun Frankfurter Allee und Landsberger Allee. Auf dem Gelände steht eine der ältesten Leichenhallen der Metropole. Sie wurde zwischen 1865 und 1867 erbaut. An der Friedhofsmauer verfallen über hundert Jahre alte Grabaufbauten. Die reichen Berliner ließen sich an den Rändern der so genannten Gottesacker protzige Grabkapellen oder Monumente bauen. Direkt hinter der Mauer werden gerade moderne lichtdurchlässige Wohnhäuser hochgezogen. Die laut auf den Gerüsten redenden Bauarbeiter sind hier ein auffälliger Kontrast zu der Stille des Ortes. Von der Ferne klingt wie wütendes Gebrumm abgeschwächt der Verkehrslärm. Genau gegenüber, hinter der anderen Friedhofsmauer verfallen Hochbauten. Sie waren schon in der DDR Trümmer. Weil ich muss, suche ich die Toilette. Auf vielen Friedhöfen gibt es sie in der Bestattungshalle. Die liegt im Zentrum der großen Anlage. Ein weiter Weg. Der fast 140 Jahre alten Kapelle liegt die moderne Einsegnungshalle gegenüber. In einer der Hallen leuchtet Licht an der Decke. Eine Tür ist weit geöffnet. Eine Flügeltür dahinter ist verschlossen. „Nicht stören. Trauerfeier.“ Was die wohl zu feiern haben, schießt es mir durch den Kopf. Vielleicht gibt es zwischen diesen beiden Türen rechts und links das Klosett. Links in einem kleinen Raum sitzt ein junger Mann in einem kargen Büro. Er liest eine Boulevardzeitung. Seine Kleidung ist dunkelgrau, dazu trägt er als Berufserkennung einen schwarzen Binder. Freundlich erläutert er mir die Lage der Toilette. Um sie zu erreichen, umkurve ich fast das gesamte Gebäude. Eine kleine Seitentür steht weit auf. Auf einem Schild unter der Schrift „Toilette“ steht noch der Hinweis, wohin Särge zu liefern seien. Durch diese Öffnung zumindest nicht. Ich komme zurück zum früheren Eingang. Ein Profi trägt eine mit roten Blumen geschmückte Urne. Er geht gemessenen Schrittes vor einem hoch gewachsenen und gut genährten Mann im Talar. Viele evangelische Pfarrer tragen einen Bart. Der auch. Hinter ihm kommen drei ältere Frauen aus der Leichenhalle. Ich glaube, nun folgten die weiteren Verwandten, die Bekannten, die Nachbarn des Verblichenen. Es folgt keiner mehr. Den Verstorbenen betrauern drei Personen. Eine Witwe? Die Tochter und eine Verwandte? Ich mag nicht genau hinsehen. Der Gang dieser fünf Menschen zum Urnengrab wirkt bedrückend – eine so kleine Gruppe auf dem riesigen Friedhof dieser großen Stadt. Einige ältere Frauen starren aus angemessener Entfernung auf die Beerdigungsgruppe. Es ist ein schöner sonniger Herbsttag.

 

Freitags bei Liebermann

September. „Ich dachte, da kämen mehr Menschen“, sagt enttäuscht der Rucksacktourist. Der junge Mann in Pullover und intensiv gebrauchten Jeans steht mit vier anderen Interessierten am Wannsee vor dem Tor der einstigen Villa des Malers Max Liebermann (1847 – 1935). Es ist 13.59 Uhr. Mit preußischer Pünktlichkeit wird um 14 Uhr das Seitentor geöffnet. Für drei Euro pro Eintrittskarte darf der Kunstinteressierte den Garten und die Villa besuchen. „Herzlich willkommen“, sagt der Mann an der Kasse unberlinerisch freundlich. Einige sind so irritiert, dass sie nicht antworten. „Herzlich willkommen, Sie sind der Erste“, säuselt eine Buchhändlerin in der Eingangshalle der Villa. Sie verkauft Literatur über den Urberliner Maler.

Max Liebermann ließ sich 1909 die Villa neben anderen Reichen am Ufer des Wannsees bauen. Er nannte das Haus mit einem Gartenauslauf von 7.000 Quadratmetern ironisch „Malheimat“. Der schon zu Lebzeiten als Klassiker geltende Max Liebermann verbrachte hier jeweils die Sommerzeit. Im Winter lebte es sich in der nahen Großstadt bequemer. Über 200 Gemälde entstanden hier. Nachbar des Malers war der Chirurg Ferdinand Sauerbruch. Als der bei einer Porträtsitzung den Maler zur Eile mahnte, er müsse in die Stadt fahren, um zu operieren, sagte der mit Berliner Humor gesegnete Liebermann: „Ihre Fehler bedeckt der grüne Rasen. Meine hängen im Museum.“ Der Malerfürst war Präsident der Preußischen Akademie der Künste. Aus Ablehnung der braunen Horden legte er 1933 das Amt nieder. Überliefert ist seine Einschätzung: „Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.“ Auf der Terrasse der Villa bestätigt ein Arbeiter, der Tische und Bänke für die Besucher aufstellt, er habe „fressen“ und nicht essen gesagt. Zurückgezogen und als jüdischer Mitbürger von früheren Kollegen geschnitten, lebte der alte Mann zuletzt hier. Hoch betagt starb Max Liebermann im Jahr 1935. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee beigesetzt. Einziger Nachbar unter den Trauergästen: Der Arzt Professor Ferdinand Sauerbruch. Die meisten Villen rechts und links waren schon in die Hände der Nazis gefallen. Im Jahr 1940 wurde Liebermanns Witwe gezwungen, das Anwesen an die Deutsche Reichspost zu verkaufen. Als sie 1943 abgeholt werden sollte zum Transport in ein Vernichtungslager, vergiftete sie sich mit Schlafmitteln.

Liebermanns einstige Villa ist im Sommer an den Wochenenden einschließlich Freitag sowie an Feiertagen zu besuchen. Im Winter ist sie auch freitags geschlossen. Es ist Freitag. Der Rucksacktourist hoffte auf eine Führung. Führungen gibt es nur am Samstag und am Sonntag. Die meisten Besucher haben sich vorbereitet. Mit sachkundigem Blick wandern sie durch den Garten zum See. Auf Tafeln sind die Gartengemälde Liebermanns an den Stellen zu sehen, wo er sie einst schuf. Die Besucher vergnügen sich mit den Vergleichen. Einiges ist noch oder wieder bepflanzt wie zu seiner Zeit. Auf einem Gartenweg wachsen Birken wie auf einem berühmten Bild von ihm. An der Villa trifft sich die Minderheit des Bildungsbürgertums. Ehepaare, gepflegte ältere Witwen, der Typ Kunstlehrerin mit fortschrittlicher Gesinnung. Diese Frauen sind meist zu zweit. Männer kommen eher einzeln. Auf der Terrasse sitzen sie nun wie einst der Alte. Kaffee und Kuchen gibt es zur Selbstbedienung. Die Frau hinter der Kuchentheke ist eine Ausländerin. Das Atelier im ersten Stock wurde wieder so karg eingerichtet wie es früher war. Ein Videofilm informiert in einem Raum über das Leben des Max Liebermann.

Die Villa des berühmten Malers wird von einer privaten Stiftung unterhalten. Zurzeit sind umfangreiche Bauarbeiten angesagt. Nach dem Krieg war sie bis 1970 ein Krankenhaus des vornehmen Bezirks Zehlendorf. Im einstigen Atelier wurde operiert. Im Jahr 1951 wurde sie im Rahmen der Wiedergutmachung mit Grundstück an die Tochter Liebermanns zurückgegeben. Ihre Erben verkauften beides 1958 an die Stadt Berlin. Die verpachtete das Juwel 1972 an einen Taucherclub, der es beachtlich verhunzte. Als der Pachtvertrag mit den Sportlern bis 2015 verlängert werden sollte, gab es Proteste der Max-Liebermann-Gesellschaft. Seit 1997 wird die Villa „museal“ genutzt. Und seit August 2002 werden Garten und Haus rekonstruiert. Weitere Informationen: www.im-netz.de/liebermann.

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