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Berliner Notizen - 2004 - November
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In der Parteizentrale

November. Die Parteizentrale der SPD ist gut gesichert. In einem Vorraum sind die Einladungen vorzulegen. Bei der Personenkontrolle werden Taschen penibel durchsucht. An einer Art Rezeption prüft eine freundliche Angestellte der Partei den Ausweis und vergleicht die Angaben mit Daten im PC. Ein entwarnendes Lächeln, und sie überreicht eine Karte zur Befestigung am Jackett. Mit dieser Dekoration aus Plastik bin ich vor weiteren Kontrollen sicher, aber jeder Schritt wird streng von kritischen Männern an den Rändern des Saales beobachtet. Die alte Tante SPD zieht viele junge Frauen und Männer an. Überwiegend Studentinnen und Studenten sind es, die sich eine Promi-Diskussion zum Thema Politische Gleichheit anhören. Ihr Obertitel ist „Philosophie und Politik“. Der Lichthof in der Zentrale ist derart gefüllt, dass einige Interessierte stehen müssen, andere sitzen auf Treppen. Über allen ragt die Denkmal-Figur des Patriarchen Willy Brandt, die auffällig große Hände und einen riesigen Kopf hat. Von der Arbeiterbewegung hat sich die SPD entfernt, denn die zeichnete proletarische Pünktlichkeit aus, Schichtarbeiter konnten sich Verspätungen nicht leisten. Doch das akademische Viertel gilt auch nicht. Zwanzig Minuten nach dem ausgedruckten Beginn schwebt Gesine Schwan in einem gläsernen Aufzug aus dem fünften Stock in die Tiefebene des Lichthofes. Nach 25 Minuten hastet der Eröffnungsredner Wolfgang Thierse ans Mikrofon. „Berlin ist eine lebendige Stadt“, versucht er lustig zu sein. „Es gab wieder eine Demonstration. Ich fragte, worum es gehe? Heute war es die Elfenbeinküste.“ Er nennt den Grund für die Verspätung, bittet jedoch nicht um Entschuldigung. 

Julian Nida-Rümelin gibt sich fortschrittlich – er trägt keinen Schlips. Professor Michael Scanlon von der Harvard University lobt nicht nur Berlin als interessante Stadt, er komme auch deshalb gern nach Deutschland, „weil es hier eine Sozialdemokratie gibt“. Heiterkeit. Für die Übersetzung seines Vortrages in englischer Sprache gibt es gegen Hinterlegung eines Pfandes – bei mir ist es der Reisepass – ein Gerät mit Kopfhörer. „Deutsch auf Kanal vier“. Es ist nicht mehr die alte Arbeiterpartei – eine Minderheit benötigt so ein Gerät. Weil die meisten Menschen an der richtigen Stelle lachen, verstehen sie ihn wohl. Er sagt, zum Abschluss habe er noch zwei Beispiele. Zehn Minuten später sagt er wieder, zum Abschluss habe er noch zwei Beispiele. Und er sagt nach 20 Minuten, er habe noch zwei Beispiele. Es vergehen 35 Minuten von der ersten Ankündigung, nun enden zu wollen, bis zum tatsächlichen Schluss. Gesine Schwan ist schwer erkältet. Sie redet frei. Was ihr US-Kollege an Redezeit überzog, holt sie durch Verkürzungen wieder ein. Am Ende ihrer Ausführungen ist die Partei im Plan. Sie wäre eine gute Bundespräsidentin geworden. Besser als dieser Sparkassenangestellte Horst Köhler, der sich immer nur breit lachend freut, dass er unverdient zu diesem Amt gekommen ist.

In der Mittagspause können sich die Teilnehmer Essen kaufen. Ein Teller Soljanka, intensiv gewürzt, ist für 2.30 Euro zu haben. Eine modisch überkandidelt gekleidete Endvierzigerin stellt sich zu mir an den Tisch und klagt: „Bei der CDU gibt es die Brötchen kostenlos.“ Auch nach dem Urteil, wonach die Schwarzen für Schwarzgeld über 20 Millionen Euro zurückzahlen müssen.

Am Nachmittag ist Brigitte Zypries anwesend. Sie trägt einen breiten hellrosafarbenen Schal, der vorn rechts und links bis zur Taille reicht. Sie wirkt auf mich wie ein Kardinal, der eine ähnliche purpurfarbene Stola trüge, als Symbol der (kirchlichen) Macht. Während sie redet, klingelt ihr Handy. Ich fühle mich wie in der S-Bahn. „Entschuldigung“, sagt sie zu allen Anwesenden, beugt sich nach unten, mit dem Daumen stellt die Bundesministerin das Klingeln ab. Der erste Diskussionsredner klagt an, nach den Hartz-Verordnungen dürften Arbeitslosengeldempfänger nicht ins Ausland fahren. Er fordert das Menschenrecht auf Reisefreiheit ein. Ich frage mich, wie sie das von knapp über 300 Euro im Monat finanzieren wollen. Weil auch Berlin ein Dorf ist, kenne ich den Redner. Der Mann war bis vor 15 Jahren am Kulturinstitut der DDR in Paris beschäftigt. Als 150-Prozentiger der SED, denn auf einen solchen Posten ließ die Partei nur ihre Standfesten. Er wird vor 15 Jahren vehement, eifernd und leidenschaftlich begründet haben, warum 15 Millionen Ossis dieses Menschenrecht nicht hatten. Er aber hatte es. Nun lebt er in Treptow.

Die SPD arbeitet seit Jahren an einem neuen Grundsatzprogramm. Joseph Roth (1894 – 1939) schrieb vor 80 Jahren: „Mögen die Litfasssäulen die gedruckten Bekenntnisse der Parteien, die bewusst übertriebenen Versprechungen, die agitatorisch ausgebeuteten, die in farbiges Bild heimgekehrten Phrasen und Metaphern über die Straße rufen. Keinen einzigen sah ich, der Geduld, Zeit und Lust gehabt hätte, ein Programm zu lesen.“ Frankfurter Zeitung vom 29.04.1924.

 

Gesprächige Kellner

November. Das Service war schlechter geworden, deshalb besuchte ich das indische Lokal „AMRIT“ in der Kreuzberger Oranienstraße zwei Jahre lang nicht. Inzwischen fiel mir auf, dass es nicht mehr so frequentiert ist wie damals. Es scheint wohl nicht mehr „in“ zu sein. Nun sollte es wieder eine Chance bekommen, zur Mittagszeit an einem Samstag. An einem Tisch sitzt eine gemischte Szene-Gruppe, aus deren Mitte eine Frau ihre schrille Stimme derart laut einsetzt, dass sie auch am äußersten Ende des Raumes noch so zu hören ist, als säße sie direkt neben einem. Sie prahlt, wo sie überall schon hingereist ist. Wo es nicht gut war, die Lufthansa sei auch nicht mehr, was sie mal war. Sicherlich meint sie, dass der kleine Moritz meint, so etwas beeindrucke den anderen kleinen Moritz.

Der Kellner legt die Speisenkarte auf den Tisch. Ein kundiger Blick, die Preise sind beachtlich gestiegen. Ob es am Euro liegt, das kann ich nicht (mehr) überprüfen. Der Kellner ist leutselig – er unterhält sich mit dem Büfettier. Laut und lustig sind die beiden. Dass auch Gäste im Lokal sitzen, mögen sie vergessen haben. Ihre Geschichten müssen amüsant sein. Nach fast 15 Minuten nimmt der Kellner die Bestellung auf. Und danach haben die beiden Angestellten erneut Spaß. Zwei Frauen betreten das Lokal, sie setzen sich nach hinten. Wohl wegen der lauten Frau vorne im Restaurant. Zum Glück wird bei ihr aufgetragen, sie ist/isst endlich still.

Nach einer durchschnittlichen Wartezeit trägt der Kellner das Essen auf. Darin sind laut Speisenkarte Krabben. Ein Vergrößerungsglas für die Suche danach legt er nicht auf den Tisch. Es wäre aber praktisch. Das Glas Tafelwasser kostet 2,10 Euro. Bestellt war zusätzlich ein Batura. Das ist ein dünnes Brot, das heiß aufgetragen wird. Gemieden hatte ich Restaurant „AMRIT“ auch, weil die Lieferung des Batura immer angemahnt werden musste. Erheblich zu spät wird es nun doch serviert. Es ist mit 1,60 Euro preiswerter als das Glas Wasser mit Eiswürfeln darin. Erinnerungen verschönern die Vergangenheit – deshalb bin ich mir nicht sicher, ob das Essen hier vor zwei Jahren besser war. Aber die Toilette ist sehr sauber. Ich will bezahlen. Es ist sehr schwer, den Kellner, der vor der Theke steht und mit seinem Kollegen dahinter angeregt redet, dazu zu bewegen.

 

Wo es statt Herren Gents heißt

November. „Guten Appetit“, ruft auf der Karl-Liebknecht-Straße ein kostümierter Mann einer mampfenden jungen Frau zu. Ob es Ironie wegen ihres schlechten Benehmens war? In keiner mir bekannten Stadt wird so ungeniert in Bahnen oder auf Bürgersteigen derart gierig gegessen wie in Berlin. Der Mann mit einem grauen Zylinder und mit einem gleichfarbigen Umhang, gekleidet wie ein Postkutscher einstiger Zeit, ist der

Portier des Hotels „Radisson SAS“ nahe dem Dom. Hier stand in der DDR das „Palast-Hotel“, aus dem die Arbeiter und Bauern verbannt waren. Nur Devisenbringer waren Gäste. Das neue Haus gehört zu den Spitzenadressen der Hauptstadt. Obwohl sich die Drehtüren automatisch öffnen, steht der Mann in seiner Verkleidung vor dem Haus. Er reißt die Wagenschläge auf, lässt sich ein Gast im Auto vorfahren. Die hohe lichtdurchflutete Hotelhalle kann mit dem Kirchenschiff des Doms nebenan durchaus in Größe und Höhe konkurrieren. Im Tempel der gepflegten Gastlichkeit gibt es keine Rezeption in gewohnter Form – an einzelnen schmalen Terminals wird der Gast bedient. Diskret, kein weiterer Angereister kann ihm von nebenan über die Schulter sehen. Das Personal ist in unterschiedliche Uniformen gekleidet. Es herrscht dezente Ruhe in der riesigen Halle. Obwohl das Haus auch eine Attraktion für Touristen aus Bildstock, Großbreitenbach oder Celle ist: Wie eine riesige gläserne Säule erhebt sich in der Mitte ein Aquarium kerzengleich nach oben. Darin schwimmende Fische der verschiedensten Größen bilden einen Blickfang. Nach Zahlung einer Summe fährt ein Aufzug mit den Provinzlern darin durch die Wassersäule langsam nach oben, so als führen sie in einem Unterseeboot aus Glas durch das Meer. Die Hotelgäste benutzen schnellere gläserne Aufzüge, um in ihre Zimmer zu kommen. Zum Ende der Halle wird es für Gäste problematisch, wenn sie müssen. Hieß es in vielen Gaststätten der DDR noch proletarisch über den Toilettentüren „Männer“ oder „Frauen“, folgten mit dem Anschluss an die Bundesrepublik überall „Damen“ und „Herren“. Für viele suchende Männer ist ein kleines stilisiertes Männchen neben einer Tür der Wegweiser, denn an der Herrentoilette heißt es „Gents“. Für die Gents befinden sich die Handwaschbecken aus edlem Material im Vorraum. Gedämpftes Licht. Die Reihe der Bottiche will ich fotografieren. Ständig betreten Gents den Raum. Und es ist sehr missverständlich, wird man auf der Toilette mit einem Fotoapparat angetroffen. Aber kein Gent mokiert sich. Ein Gent ist wohl mehr als nur ein Mann!

Im hinteren Teil des Hotels befinden sich Kongressräume. Der Hotelgast betritt zunächst eine schmale hohe Halle mit einem Glasdach, die Wände sind weiß gehalten, die Halle ähnelt dem berühmten Altenberger Dom im Bergischen. Würde hier Orgelmusik erklingen, es wäre kaum einer irritiert. Die riesige Kuppel des Berliner Doms nebenan ist aus dem Glasdach zu sehen. Das Büfett lässt kaum Wünsche offen. In diesem Hotel tagt die Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall. Die als politisch links etikettierte Andrea Nahles diskutiert auf dem Podium. Nie fiel mir vorher auf, dass sie einige Laute nicht sauber aussprechen kann. Statt Mischkalkulation höre ich Michkalkulation. Sie hat an dem Tag eine schwache Blase oder starken Termindruck, denn wiederholt verlässt sie eilig das Podium und verschwindet aus dem Saal. Sie könnte auch telefonieren.

 

Mutmaßungen über eine Gruppe Kinder

November. Der S-Bahnhof Wuhlheide nahe Köpenick garantiert Kindergeschrei. Dort wird eine riesige Fläche aus der Zeit der DDR als Kinderunterhaltungsstätte fortgeführt. Als Erich noch Parteichef war, hieß der Bereich Park der jungen Pioniere. An den Wochenenden fährt eine Schmalspurbahn den Nachwuchs durch den Park. Jugendliche sind als Bahnhofspersonal dekoriert. Wuhlheide heißt auch die Kinderbahn-Station. Eltern zerstreuen ihre Sprösslinge dort, die Oma führt ihr Enkelkind dahin, Schulklassen besuchen den Park. An dem regnerischen Novembermittag drängen verhalten zwei Blöcke Kinder zurück in die S-Bahn Richtung Ostbahnhof. Die beiden Gruppen werden von sauertöpfisch blickenden Frauen eher in Schach gehalten als begleitet. In Misslaunigkeit und grober Ausdrucksweise ist die Stadt schon lange vereint. Das höchste Lob in Berlin heißt: „Man kann nicht meckern“. Das wird bedauernd ausgesprochen. Die beiden Rudel der Heranwachsenden im Vorschulalter bewegen sich preußisch diszipliniert zu den noch freien Sitzplätzen. Ungewöhnlich still sind sie dabei. Demnach müssten sie aus dem Osten sein, so mein Tipp nach dieser Beobachtung. Sollte Personal aus der einstigen DDR die so im Griff haben? Der Blick wandert auf die wie eingeschüchtert in den Sitzen hockenden Ausflügler. Es sind zwei Farbige darunter, zwei Asiaten, ein anmutig wirkendes Mischlingskind fällt noch auf. Die können nicht aus dem Osten sein, so meine neue Mutmaßung. Auslandsstämmige Deutsche oder gar Ausländer wohnen dort kaum. Die Ahnung bestätigt sich. Am S-Bahnhof Warschauer Straße verlassen sie in Zweierreihen die Bahn, wandern hinüber zu einem weiteren Bahnhof, der auch Warschauer Straße heißt. Von hier fahren die Bahnen zur Krummen Lanke. Nach nur einer Station hinter der Spree sind die Kinder in Kreuzberg. Hier fallen ihre unterschiedlichen Hautfarben nicht auf.

 

Am längeren Ende der Sonnenallee

November. „Die haben das wegen Reichtum nicht nötig.“ Die Frau im Hotel Estrel ist leicht ärgerlich. Sie sitzt über Gebühr lange in der großen Halle des Hauses, die Serviererin übersieht sie konsequent. Die Sorbin aus der Lausitz reist oft. Sie hat sich informiert: Das Estrel ist wohl das größte Hotel in Deutschland. Parteitage und Gewerkschaftskongresse finden hier statt. „Sogar Boxkämpfe in der Halle mit 5.000 Zuschauern“, erzählt die Frau. An der Zimmereinrichtung bemängelt sie einiges, die Matratze des Bettes sei „durchgelegen“. Kein Wunder, denn wer relativ kurzfristig eine Bestellung rückgängig mache, zahle keine Stornogebühr, weiß der Gast aus einem Dorf nahe Hoyerswerda. Also ist das Hotel gut ausgebucht. Das Gebäude erhebt sich auf einem Gelände in der früheren Grenzödnis zum Osten der Stadt, nach der Vereinigung wurde es hochgezogen. Es steht an der Sonnenallee, dessen kürzeres Ende „drüben“ lag. Hinter dem Haus erhob sich sperrig die Mauer. Davor dümpelt ein Kanal. Er wurde im kalten Krieg nicht befahren. Nun schippern in der warmen Jahreszeit sogar Ausflugsdampfer darauf. Der Schriftsteller Tomas Brussig hat der Straße ein literarisches Denkmal gesetzt. „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ schrieb er, das Epos wurde auch erfolgreich verfilmt. Seine erfundene Story: Stalin wollte die Straße mit dem schönen Namen Sonnenallee nicht den US-Amerikanern überlassen. Harry S. Truman aber dachte nicht daran, auf sie zu verzichten. Sie stritten sich heftig. Churchill sah zu, sein Stumpen im Mund war erkaltet. Stalin gab ihm Feuer. Als der Brite den ersten Rauch in den Konferenzraum blies, wollte er sich Stalin gegenüber dankbar zeigen. Der Engländer zog am kürzeren Ende der Sonnenallee einen Strich, dieser Bereich fiel nach Ostberlin. Von den vier Kilometern Länge bekam der Osten 60 Meter der Straße. Kein Wunder, dass hinter der Mauer die niedrigste Hausnummer 379 war. Brussig erfand die literarische Figur Michael Kuppisch. Der gewöhnte sich am kürzeren Ende der Sonnenallee nicht „an die tägliche Demütigung, die darin bestand, mit Hohnlachen vom Aussichtsturm auf der Westseite begrüßt zu werden, wenn er aus seinem Haus trat – ganze Schulklassen johlten, pfiffen und riefen ‚Guckt mal ein echter Zoni!‘ oder ‚Zoni, mach mal winke, winke, wir wolln dich knipsen!‘“

Der S-Bahnhof Sonnenallee im Westen war vor 15 Jahren stillgelegt. Nun ist er dann gut besucht, wenn Touristen mit Übernachtungen im Estrel von hier aus als lärmende Gruppen über den Ring in die City fahren. Die Sonnenallee gehört zum Bezirk Neukölln. Neukölln wurde vor vielen Jahren in einer beeindruckenden Reportage im „Spiegel“ als die Bronx von Berlin beschrieben. Es gibt Nebenstraßen der Sonnenallee, in denen der Anteil an ausländischen Mietern bei über 70 Prozent liegt. Linealgerade führt sie in das Zentrum von Neukölln. Zwei Buslinien befahren sie, die S-Bahn überquert die Sonnenallee. Rechts und links der breiten intensiv befahrenen Straße erheben sich Sozialbauten. Sie sind verwohnt. Es gibt einen Verbrauchermarkt, viele verrauchte Kneipen, Billigläden, Tele-Cafés, von denen aus die Bewohner preiswert in ihre frühere Heimat telefonieren können, überraschend keinen Pornoshop. Die Besitzer von Chinalokalen betreiben einen ruinösen Preiswettkampf nach unten. Familienbetrieb heißt bei Asiaten auch, dass die Großmutter in einem Kleinstzimmer untergebracht wird und ohne Bezahlung in der Küche hilft. Die Tochter des Pächters serviert, er kocht. Über die lange Strecke der Sonnenallee erhärtet sich der Eindruck, die Gegend sei ein Hort von griesgrämigen leidenden Menschen. Die Armut hat sich hier verfestigt. Armut und Vernachlässigung bei der Kleidung gehören oft zusammen. Schon zur Mittagszeit dringt aus den Pinten der Gesprächslärm von Zechern. Am längeren Ende der Sonnenallee liegt der Fußballplatz des Sportvereins Neukölln von 1895. Unter Berlins Kickern ist der Club bedeutungslos. Die Polizeiwache befindet sich in einem Gebäude aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Damals war Einschüchterungsarchitektur in Mode. Die in Bayern geborene Dorothea Kolland ist Leiterin des Neuköllner Kulturamtes. Doch sie wohnt in Charlottenburg. 

In einem Interview mit einem Hauptstadtblatt bezeichnet sie den Bezirk als kulturell „spannend“. Angesprochen auf Spannungen unter einigen Volksgruppen, sagt Dorothea Kolland: „Nachdem dieser Bronx-Artikel im ‚Spiegel‘ erschienen war, wurden dort, wo ich wohne, am Savignyplatz, morgens um 9 Uhr zwei Leute erschossen. Mitten in Charlottenburg, nicht in Neukölln. Wenn schon, dann ist Gewalt ein Berliner Problem. Ich glaube aber, dass Gewalt gar nicht so ein Problem in dieser Stadt ist. Weder Berlin noch Neukölln liegen über dem Durchschnitt europäischer Großstädte.“ Sie wohnt in Charlottenburg, weil ihr Sohn in Neukölln von Arabern angegriffen wurde.

 

Wo einst der Westen endete

November. U-Bahnhof Schlesisches Tor. Vor der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften endete hier auf Westberliner Gebiet die legendäre U 1. Auf einer hoch gebauten Trasse rumpeln die U-Bahnen über diesen Teil von Kreuzberg. Wie eine Landzunge reichte der Bereich Kreuzberg in die Hauptstadt der DDR. Wenige Meter hinter dem Bahnhof war die Spree Grenzfluss, rechts und links endete die Querstraße nach rund 300 Metern am antifaschistischen Schutzwall. An einer Stelle war der Landwehrkanal die Grenze. Noch immer wirkt dieser Bereich vernachlässigt. Die Bausubstanz ist alt. Investiert wurde auch nach dem Mauerfall kaum. Der Bereich um das Schlesische Tor ist Multikulti pur. Blonde Frauen sind so selten zu sehen wie ein weißer Rabe unter schwarzen auf einem westfälischen Acker. Nicht nur optisch setzt sich dieser Bereich von der Mitte Berlins ab: Kaum Touristen, ein großes Angebot an kleinen Läden und preiswerten Cafés, die meisten Menschen sind freundlicher als in vielen anderen Bezirken der Hauptstadt. Lächelnd hilft im Presseladen die Inhaberin dem Kunden, der verzweifelt in dem bedruckten Überangebot sucht und nicht auf Anhieb sein ausländisches Blatt oder die viel gelesene „taz“ findet. Dem Bahnhof gegenüber befindet sich ein riesiger Obstladen. Wohl ein Familienbetrieb. Seit Jahren sehe ich bei Wind und Wetter den ergrauten und leicht gebeugten Seniorchef draußen vor dem Angebot stehen. Er empfiehlt Obst, hilft beim Wiegen, tütet ein, im Inneren arbeiten Enkel oder Söhne, eine junge Frau mit einem gebundenen Kopftuch, dunklen Augen und einem schwachen Lächeln sitzt an der Kasse. SALUT-Backwaren, das Geschäft daneben, hat wegen seines Gebäcks Kunden in der gesamten Stadt. Sie kommen aus den Randbezirken, weit aus dem Westen Berlins, um hier einzukaufen. Gebacken wird vor den Augen der Käufer. Die Backstube ist auch von der Straße einsehbar. Die Frauen an der Kasse, die das Gebäck nach Wunsch des Kunden zusammenstellen, tragen keine Kopftücher. In der zweiten Novemberwoche traf ich dort einen Käufer aus der Schweiz. Er war durch Zufall auf das Geschäft gestoßen. Die übliche Eile, miesepetrige Gesichter, ruppiges Kläffen, kommen sich die Menschen auf dem Bürgersteig aus Versehen zu nah, hier fiele es unangenehm auf.

Hundert Schritte weiter verläuft die Wrangelstraße quer durch den einst so schmalen Westkiez. Der Laden in dem Haus 43 ist Bäckerei und Kleincafé. Ab 5.30 Uhr ist beides geöffnet, am Abend wird zur Tagesschauzeit geschlossen. Samstags und sonntags ist zwischen 6.00 und 19 Uhr offen. Eine Theke mit Gebäck, dahinter das Regal gefüllt mit Broten, an den Rändern des Raumes stehen vielleicht zehn Tische. Ein türkischstämmiges Ehepaar betreibt das Café. Das Zeitungsangebot ist beachtlich. „Financial Times Deutschland“ liegt neben „Neues Deutschland“, die „taz“ gibt es in zwei Exemplaren, zur „Welt“ wird sehr selten gegriffen, die ist am späten Nachmittag noch so gefaltet wie sie geliefert wurde. „Bild“ und „B.Z“ gehören dazu, sicherlich weil Bauarbeiter hier gern eine Pause einlegen. Am Nebentisch sitzen türkische Frauen in knöchellanger Kleidung, das Kopftuch ist fest gebunden und lässt nur das Gesicht frei. Sie treffen sich außer Haus zu einem Plausch. Ein Rentner redet laut mit einem Schwarzen, der gerade Brot kauft und auf den Namen Paul hört. Handys klingeln kaum. Passiert es mal, läuft der Angerufene hinaus und spricht draußen. Gegenüber dem Café liegt das Chinalokal „Goodfriend“, daneben ist der Eingang zum „Otto-shop“, eine Tür weiter liegt der Frisörladen „Free Styling“. Eine blonde Studentin liest die „Berliner Zeitung“. Gelegentlich schnorrt sie bei Gästen Tabak, sie dreht sich eine Zigarette. Aber nur eine am Nachmittag. Die Tasse Milchcafé kostet 1,60 Euro. Bei meinem dritten Besuch goss ihn die türkischstämmige Frau hinter der Theke wie selbstverständlich ohne zu fragen ein. Ist das kleine Café sehr stark besucht, rücken die anderen Gäste zusammen, schnell ist ein Stuhl an einen Tisch gedrückt, der/die Neue setzt sich dazu.

Hundert Meter von der Spree entfernt kreuzen sich die Wrangel- und die Oppelnerstraße. Eine Parfümerie bietet dort Haarspray an. Auf dem handgeschriebenen Werbeplakat steht „Haarspree“.

 

Die „Berliner Vergnügungsindustrie“

„Manchmal in einem Anfall heilloser Melancholie trete ich in eines der üblichen Berliner Nachtlokale, nicht etwa, um mich zu erheitern, sondern um die Schadenfreude zu genießen, die mir der Anblick des industrialisierten Frohsinns bereitet. ...

In einer großen Stadt wie Berlin sind Aktiengesellschaften imstande, die Vergnügungsbedürfnisse einiger sozialer Schichten gleichzeitig zu befriedigen, die ‚Mondänität‘ im Westen zu pflegen und im anderen Stadtteil die Freuden eines ‚gutbürgerlichen Mittelstandes‘ zu schaffen und im dritten jenen Teil des gehobenen Proletariats mit ‚drittklassigen Etablissements‘ zu versorgen, der auch einmal eine Ahnung von der ‚großen Welt‘ bekommen möchte. ...

... ging ich langsam von den Bars des Berliner Westens in die der Friedrichstraße, von hier in die Bars des Nordens, um schließlich in den Gaststätten zu bleiben, die vom so genannten Lumpenproletariat bevölkert werden. Die Schnäpse wurden immer stärker, das Bier heller und leichter, die Weine saurer, die Musik falscher und die Mädchen dicker und älter.“

Joseph Roth: „Münchner Neueste Nachrichten“ vom 1. Mai 1930

 

Berlin bei Erkner

November. Gerhart Hauptmann wohnte in Erkner. Sein Haus ist als Museum umgewidmet worden. Er soll einmal gesagt haben, an den Sonntagen kämen die Berliner nach Erkner und klauten dort. Berlin und Erkner haben eine gemeinsame Grenze. Am 26. Mai 1889 besucht Frank Wedekind den Literaturtitanen Gerhart Hauptmann. Er notiert: „Ich frage einen Polizisten, wo Erkner liege. – Das existiere gar nicht. Das kenne er selber nicht. Bei Tisch lasse ich mir einen Fahrplan reichen und fahre mit der Stadtbahn hinaus. (...) In Erkner weist mir ein Bahnwärter den Weg zur Villa Lassen. In einiger Entfernung sehe ich hohe Schlote ragen und denke an den bleichen Wärter und die Kalköfen aus Hauptmanns Geschichten. Der Weg ist grauendlos sandig, so dass ich alle Mühe habe, vorwärts zu kommen. Am Ende des Dorfes liegt die Villa...“ In der Gegenwart steht das Museum nahe dem Zentrum. Die Schlote der Kalköfen gehören zu Rüdersdorf.

Bei Erkner im Osten beginnt Berlin. Die Kleinstadt wurde 1945 im Kampf um Berlin zerstört. Ihr Wiederaufbau in der sozialistischen Plattenbauweise verunschönt die erste brandenburgische Stadt hinter Berlin noch in der Gegenwart. Der ostdeutsche Schriftsteller Rolf Schneider schreibt, sogar (!) für die Verhältnisse der DDR sei Erkner eine hässliche Stadt. Wegen der Bauten. In Erkner endet die S-Bahnlinie aus Berlin. Als Berlin noch eine von den Alliierten kontrollierte Stadt war, wurde bei Erkner die Ausfahrt militärisch gesichert. Die Soldaten der Westmächte durften sich in der gesamten Stadt frei bewegen. Aber nicht mehr in Erkner. Zwischen Berlin und Erkner gab es über viele Jahre einen Schlagbaum. Rotarmisten kontrollierten, wer ihre Zone betreten wollte. Auch als es die DDR schon gab, verblieb der Schlagbaum. Die Rote Armee wurde abgelöst, ihr folgten Grenzer der DDR bis in die 70er Jahre. Wer in der Region fünfzig Lebensjahre erreicht hat, erinnert sich an den einst real existierenden Schlagbaum im Osten von Berlin.

Hundert Meter vor der Stadtgrenze Erkner weist ein gelbes Hinweisschild auf Berlin. Rechts an der Straße erhellen Neubauten das Bild. Es gibt kleine Geschäfte, Bürohäuser, Bäckereien und ein preiswertes Kantinenrestaurant. Vor 15 Jahren reichte die Fantasie eines Ossis nicht, um sich diese Häuser vorzustellen. Direkt hinter dem Ortsschild Berlin werben die Inhaber von ebenfalls neu erbeuten Autohäusern um Kunden. Auf einem Podium steht das „Auto der Woche“, gewissermaßen als Schnäppchen gepriesen. Rabatte werden eingeräumt, Kredite versprochen, Lieferzeiten sind unbekannt – vor erst 15 Jahren reichte die Fantasie der Ostdeutschen nicht, um sich das vorzustellen. Warteten sie doch Jahre auf die fahrbare stinkende Pappe aus Zwickau, die über löchrige Straßen hoppelte statt fuhr. Wie zum Kontrast sind gegenüber den Neubauten noch die grauen Staatsbauten der DDR zu sehen. Kasernen lagen am Rande von Berlin, einige versteckt in den Wäldern zwischen Erkner und Berlin. Auch die Stasi unterhielt hinter dem Gebüsch Verwaltungsgebäude und ihre Schulen. Der Autofahrer der Gegenwart rast an dem Berlinschild vorbei, ohne zu ahnen, dass hier vor einem Vierteljahrhundert noch ein Schlagbaum stand zwischen Berlin und Brandenburg, dem damaligen Bezirk Frankfurt (Oder).

Am 23. Juni 1889 besucht Frank Wedekind Gerhart Hauptmann wiederum in Erkner. Auf der Rückfahrt nach Berlin notiert er über das Zusammensein: "... halten uns an den Punsch, während Frau Hauptmann ihre Schwester immer wieder auf unsere leeren Gläser aufmerksam macht. Im übrigen verhalten sich die Damen mehr leidend als aktiv.“

 

Das Geschütz nicht berühren

November. Das Fahrzeug und sein Geschütz sollen nicht berührt werden, heißt es auf einem Schild. Seit Jahrzehnten steht der grün gestrichene Panzer mit kyrillischen Buchstaben an der Seite auf einem Betonsockel. Das Rohr des Geschützes zeigt halbhoch in den Novemberhimmel. Die Schweißnähte auf dem T 34 sind grob. Wahrscheinlich wurde er im damaligen Stalingrad gebaut und schaffte es von dort bis Berlin-Karlshorst. Er gehört zur Dekoration vor dem Haus, in dem am Abend des 8. Mai 1945 uniformierte hoch dekorierte Naziverbrecher die totale Kapitulation der Wehrmacht unterschrieben. Im Mai des kommenden Jahres jährt sich der Tag zum 60. Mal. In dem Gebäude wird beeindruckend an die schrecklichen Jahre des Zweiten Weltkrieges erinnert. 

Zwischen 1936 und 1938 wurde das Haus als Pionierschule der Wehrmacht gebaut. Am Abend des 8. Mai fuhren durch die jetzige Rheinsteinstraße von Karlshorst die Nazi-Offiziere vor. Sie kamen durch ein von Trümmern gezeichnetes Berlin. Erst nach der Wende wurden die Villen rechts und links der Straße saniert, neue Häuser gebaut, in den Jahren nach dem Krieg verfielen sie. Im Kampf um Berlin wurde das Haus ab April 1945 das Hauptquartier der 5. sowjetischen Stoßarmee unter Generaloberst Bersarin, der später Ehrenbürger von Berlin wurde. Nachdem am 7. Mai in Reims erstmals die Kapitulation unterschrieben war, befahl der Sieger Marschall Shukow zur erneuten Unterzeichnung Generalfeldmarschall Keitel, Generaladmiral von Friedeburg und Generaloberst Stumpf in dieses Haus. Die alliierten Sieger stritten sich, ob die Franzosen dabei sein sollten oder nicht. Es wurde spät am 8. Mai 1945. Als erneut unterschrieben wurde, nahmen die Kapitulation entgegen Marschall Shukow als sowjetischer Oberkommandierender und der britische Air-Marschall Tedder für die westlichen Alliierten. Der US-amerikanische General Spaatz und der französische General de Lattre de Tassigny waren die offiziellen Zeugen. Wegen der Zeitverschiebung war es in Moskau der 9. Mai 1945, ein Uhr. Deshalb wird die Kapitulation in Mitteleuropa am 8. Mai, in den heutigen GUS aber erst am 9. Mai gefeiert.

Bis 1949 war das Haus der Sitz der sowjetischen Militäradministration. Deshalb hieß es später in der DDR, alle wichtigen Entscheidungen fielen in Karlshorst. Am 10. Oktober 1949 wurde in dem Gebäude der Regierung der DDR die „staatliche Vollmacht“ übergeben. Ab 1967 bis 1994 trug es den Titel Kapitulationsmuseum. Es ist nach einer Vereinbarung von 1990 nun das deutsch-russische Museum. Träger des neuen Museums ist ein Verein. Der Eintritt ist kostenlos. Wer die Doppeltür öffnet, wird von einem fast unfreundlichen Mann empfangen. Mich fragt er, was ich hier wolle. Logisch – ins Museum. Mantel abgeben, Tasche abgeben! Es riecht, als sei das Haus nie gelüftet worden. Oder die Generalstiefel waren damals derart gewichst, dass der Schuhcremegeruch nie mehr zu vertreiben war. Bei einem Rundgang, der im zweiten Stock beginnt, sind Originale des Militärs und des Mordens zu sehen. Schwarzweißfotos dokumentieren zusätzlich die Grauen dieses Krieges zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion. Die wechselvolle Geschichte der Sowjetunion und Deutschlands seit dem Jahr 1917 wird eindrucksvoll an Schautafeln erläutert. Im Original erhalten sind das Arbeitszimmer des sowjetischen Marschalls Shukow, es wirkt spießig. Der Saal, in dem die Kapitulation unterschrieben wurde, ist mit der damaligen Ausstattung zu besichtigen, nichts wurde darin verändert. www.museum-karlshorst.de

 

Aufgefallen

„Mit dem typischen fahlen Berliner Plattenbau-Teint, aber bester Dinge …“ Beginn eines Artikels der „Süddeutschen Zeitung“ vom 26. November 2004 über den Münchner Stil.

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