Hans Dieter Baroth   Home
Berliner Notizen - 2004 - Dezember
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Der langsame Abschied vom Ostprodukt

Dezember. Selbst die auf Ostdeutsche Kunden zielende „Berliner Zeitung“ machte eine Andeutung: Wer Ostprodukte möge, solle sich den S-Bahnhof Warschauer Straße noch einmal ansehen. Der wurde in klassischer Bauweise der DDR geschaffen und wird nun überwiegend abgerissen und total saniert, weil er früher als Experten berechneten zusammengebrochen wäre. Es ist der übliche Pfusch am Bau. Dieser Bahnhof brachte mir in den neunziger Jahren Depressionen ein. Aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen fuhren die S-Bahnen aus Wartenberg/Hohenschönhausen nur bis zur Warschauer Straße - eine Station vor dem Ostbahnhof. Hier mussten die Fahr“gäste“ mehrere Minuten auf die nächste Bahn warten. Im Winter wurde die Zeit zur Qual: Die Dächer waren undicht. Zudem sind sie so gebaut, dass sich bei starkem Wind der Regen über die Bahnsteige ergoss. Es gab kaum Schutz in Wartehäuschen. Die metallenen Bänke standen meist frei, und jeder merkte, Berlin liegt näher an Sibirien als beispielsweise Düsseldorf. Alle Gebäude schienen grau, auch die aus Ziegelsteinen. Neonleuchten fielen ständig aus. Riesige Pfützen gab es auf den Bahnsteigen, die Reisenden mussten ihnen ausweichen, denn sie waren wegen ihrer Weite nicht zu überspringen. Nur Kinder hatten ihren Spaß, wenn sie da durchstapfen konnten. Später lag über dem vorderen Bereich ein Würstchengestank, weil die Brater wohl minderwertiges Fett verwenden. Auf dem Bahnhof Warschauer Straße sah ich nie freundliche oder gar fröhliche Menschen. Nun steht eine totale Sanierung an. Endlich. Wer nostalgisch für Ostprodukte schwärmt, sollte auf dem Bahnhof eine Besichtigungstour unternehmen. Danach ist er von seinen Irrtümern geheilt.

 

Nachrufe auf einen Fußballclub

Dezember. „Wenn Union absteigt, kommt die Fahne weg“, erklärt die 29-Jährige hinter der Theke der Gaststätte „Bier-Keller“. Die rotweiße Fahne von Union Berlin hängt an die Wand gepinnt über zwei Spielautomaten. Daran könne öfter gewonnen werden als es Union schafft, wird gelegentlich gewitzelt. Das Unionstuch gehört einem Fan des Clubs mit dem Spitznamen Jünne. „Ob Union nun absteigt oder nicht, die Fahne bleibt“, sagt er. Überlegt wurde vor Weihnachten, ob nicht zumindest Trauerflore daran gehörten. Die meisten Gäste leiden seit vielen Jahren mit dem Köpenicker Verein Union Berlin. In der DDR galt er als Sammelbecken für die Oppositionellen, sie waren die natürlichen Feinde des verhassten BFC Dynamo Berlin, dem Mielke-Club. Die Heißsporne im „Bier-Keller“ sprechen den Namen BFC möglichst nicht aus, und wenn, dann mit einem Schimpfwort davor. Der einstige Stasi-Club aus dem Stadtbereich Hohenschönhausen rangiert in der Oberliga nur noch eine Klasse unter Union. Vor wenigen Jahren als Zweitligist noch im DFB-Pokalendspiel gegen Schalke 04, überwintert die Elf nun auf dem letzten Platz der drittklassigen Regionalliga. „Eisern Union, Eisern Union“, ist ihr Schlachtruf. „Ihr seid eisern, wir haben Stahl“, antworteten im Olympiastadion die Schalker vor dem Pokal-Endspiel. Das vergangene Jahr in der 2. Bundesliga war eines der Leiden, am Ende erwischte es die Köpenicker doch, Abstieg in die dritte Liga. In der DDR galt Union Berlin als Fahrstuhlelf, die zwischen der ersten und zweiten Liga im Staat der Arbeiter und Bauern wechselte. „Da pilgerten wir dann auch zu Motor Eberswalde“, erinnerte sich Jünne, „und füllten denen das Stadion“. Rotation Babelsberg war einer ihrer bevorzugten Gegner. Als Union Berlin im Frühjahr 2004 die 2. Bundesliga verlassen musste, bewahrheitete sich in Köpenick eine neue Fußballweisheit: Der Verein steigt ab, die Mannschaft nicht. Viele Kicker verließen Union. Eine neue junge Elf bringt es nicht. Wurden in der Vorsaison noch lange an den Wochenenden mit Rechenbeispielen die theoretischen Möglichkeiten erörtert, zweitklassig zu bleiben, so halten nun schon die glühendsten Anhänger die ersten Totenreden. Sie brächten es nicht, ist nach fast jedem Heimspiel auch von denen zu hören, die auf dem Platz an der „Alten Försterei“ wegen ihrer einseitigen Sichtweise zumindest als halbblind gelten. Union Berlin ist mit elf Millionen Euro verschuldet. Der Club wird nicht professionell geführt. Am Tresen gilt nun der ehemalige VfB Leipzig als Beispiel, der nach einem Konkurs als Lok Leipzig in der untersten Klasse starten musste. Und dort ist er mit Tausenden von Zuschauern Krösus der Kreisliga. Siebzehn Jahre brauchten die Leipziger, um nach Aufstiegen wieder im bezahlten Fußball zu sein, wurde dort errechnet. Union Berlin brauchte mehr, weil es in Berlin eine untere Kreisklasse mehr gibt als in Leipzig. Einige rechnen inzwischen hinter ihrem Bier stehend aus, ob sie das noch erleben würden. Und dann kommt trotzig: „Einmal Union, immer Union“. Oder Männer behaupten: „Ich bleibe treu“. Was sich auf den Club bezieht.

Inzwischen hat Union Berlin den dritten Trainer. Er ist „Spezialist“ für die Oberliga. Weil der Kinowelt-Besitzer Kölmel dem Club eine Schuldenlast von neun Millionen Euro gestundet hat, bekamen die Unierten die Lizenz für die dritte Liga. Deshalb wird auch gewitzelt: Was ist der Unterschied zwischen Union Berlin und Karstadt? Beide sind pleite, aber Karstadt hat die bessere Sportabteilung.

 

Ein Tag vor den Anstürmen

Dezember. „Die Berliner jammern über die Wirtschaftskrise, aber ihre Weihnachtsvorbereitungen zeugen nicht von Misere“, schreibt die „Neue Zürcher Zeitung“ am 14. Dezember. Im „Café Einstein“ an der Straße Unter den Linden sind um 16 Uhr bis auf einen kleinen Zweiertisch alle Tische besetzt. Aber wenige Gäste lesen in den ausgehängten Zeitungen. Das „Einstein“ ist ein Treffpunkt für Politiker, Medienmenschen und Geschäftemacher sowie auffallend viele junge Frauen, die meist zu zweit an Tischen sitzen. Entweder haben die Servierfrauen ein sehr gutes Personengedächtnis oder sie lächeln jeden Gast so an, als würden sie ihn erkennen. Dann wären sie die freundlichsten Serviererinnen von Berlin. Am Nebentisch werden Geschäfte beschlossen. Am anderen reden zwei schwarzhaarige Girls sehr laut über ihre untreuen Freunde. Beide müssen einige haben. Dabei lausche ich nicht einmal, sie reden so laut. Touristen sind an diesem Tag wenige im „Einstein“. Wohl deshalb, weil es bitterkalt ist an diesem 14. Dezember und sie sich draußen nicht an den Tischen präsentieren können. Berlin erlebt die Anstürme von Touristen an den Wochenenden. Die Prachtstraße Unter den Linden ist mit vielen Lichtern an den Bäumen illuminiert. Ein beeindruckendes Bild, wenn es um 18 Uhr wegen der vielen Lichter so hell ist, dass Vögel irritiert um die Bäume flattern. Stefan Liebich betritt kaum beachtet das „Einstein“. Er ist Vorsitzender der PDS in Berlin. Bei den Demonstrationen gegen Hartz IV galt er laut Medien als bestgekleideter Teilnehmer. Er trägt eine bräunliche dreiviertellange Kunststoffjacke und sieht eher aus wie in der Vergangenheit, als er noch FDJ-Funktionär im Mecklenburgischen war. Der Gründer des Senders n-tv betritt das Cafe. Er ist schlanker geworden. Mit ihm lässt sich sachkundig über die niedersächsische Stadt Diepholz parlieren; es ist zu fürchten, er stammt daher. Der ehemalige Pressesprecher des DGB, Dr. Hans-Jürgen Arlt, liest sehr vertieft Zeitungen. Viele Politiker sind nicht im „Einstein“, es wird wenige Meter weiter im Reichstag und in den Ministerien sowie Parteizentralen eifrig gestrickt an der Föderalismusreform. Nicht einmal Rezzo Schlauch ist gekommen.

 

Die Anwesenden drängten zum Büfett

Dezember. Die Atomlobby lädt ein ins Haus der FDP. In dem dortigen Forum diskutieren über die Umweltpolitik die Abgesandten der Bundestagsparteien. Der Saal ist gut mit Experten und Medienmenschen gefüllt. Die Reihenfolge der Darbietung: Diskussion „Im Spiegel der Parteien: Die Zukunft der deutschen Umwelt- und Klimaschutzpolitik im Energiebereich“, danach Büfett und ein weites Angebot an Getränken. Moderator Heinz Jürgen Schürmann vom Düsseldorfer „Handelsblatt“ erklärt zu oft, er sei Ökonom. Ein rheinischer Dialekt wirkt meist simpel. Ulla Schmidt weiß davon ein Lied zu singen. Heinz Jürgen Schürmann soll aber ein guter Schreiber sein. Sein Hinweis auf Ökonomie soll heißen, es werde kurz und zielgerichtet diskutiert. Falsch, allein er und vier Parteivertreter verbrauchen für ihre „kurzen“ Statements exakt 55 Minuten. Ulrike Mehl trägt einen grünen Dritte-Welt-Pullover, ist aber Vertreterin der SPD. Sie klagt über die nahende Klimakatastrophe. Peter Paziorek vertritt die CDU/CSU, er ist gut hörbar Münsterländer, kritisiert Rot/Grün, sie hätten kein Konzept und klagt über die nahende Klimakatastrophe. Der Tübinger Winfried Hermann von den Grünen erzählt, außerhalb des Bundestages habe er schnellere Reformen gefordert. Nun in der Realität angekommen, musste er lernen, dass alles langsamer läuft als gewollt. Und er beklagt die nahende Klimakatastrophe. Birgit Homburger von der FDP ist bissiger als der politisch schwarze Münsterländer – und reaktionärer. Ihr südwestdeutsches Idiom benachteiligt sie, denn in der Sprache wirken auch scharfe Angriffe weich. Die Koalition habe kein Konzept. Ob die FDP eins habe, verschweigt sie, aber auch sie beklagt die nahe Katastrophe. Im Grunde sind sie sich einig. Auch darüber, dass Öl nie mehr billiger werde wegen des weltweiten Verbrauchs. Noch einmal erzählen die Politiker langatmig in zweiter Runde das Gleiche. Nur zwei Personen aus dem „Auditorium“ fragen etwas. Sonst ist es lebhafter bei Veranstaltungen des Informationsforums Kernenergie. Draußen wird das Büfett aufgetragen. Dahin drängt es wohl das Publikum. Im Grunde waren sich die Parteivertreter doch einig – die Katastrophe kommt, da gilt es vorher noch üppig zu essen und genüsslich zu trinken.

 

Vor 40 Jahren: Dichter werden aktiv

Dezember. „Von der Kantstraße, die unter dem Hochhaus hindurchführt, quietscht der Feierabend der Linksabbieger.“ Gemeint waren wohl deren Autos. So stand es vor 40 Jahren in der alten publizistischen Tante „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Willy Brandt war Berlins Bürgermeister. Junge Schriftsteller engagierten sich vor 40 Jahren in Berlin erstmals im Bundestagswahlkampf und gründeten 1965 das „Berliner Wahlkontor“. Sie arbeiteten Politikern zu, entrümpelten deren Sprache – für zehn Mark die Stunde. Über die Arbeit vor vier Jahrzehnten diktierte eine namentlich nicht genannte Dichterin dem Reporter der FAZ in den Block: „Wir redigieren nur, wir glätten. Und meistens sind die Texte so versubstantiviert, da setzen wir Verben ein.“ Zu den Engagierten stößt Klaus Born aus Duisburg, der sich Nicolaus Born nennt. Er gilt als großes literarisches Talent. Laut dem Frankfurter Blatt mit den Edelfedern: „Ein weiterer Wahlhelfer ist eingetreten. Nicolaus Born, der im Frühjahr seinen ersten Roman ‚Der zweite Tag‘ vorgelegt hat. Er sei noch gar nicht lange in Berlin, erst ein paar Wochen, aber gleich in den ersten Tagen hätten ihn Freunde angesprochen auf dieses Wahlkontor, schon lange fühle er sich der SPD verbunden.“ Auch Günter Grass machte mit. Nicolaus Born wurde 1937 in Duisburg geboren, er starb vor 25 Jahren in Breese/Wendland. Grass machte auch nach der Bundestagswahl 1965 weiter und warb für die SPD. Gebracht hat das „Berliner Wahlkontor“ vor 40 Jahren nicht viel – Ludwig Erhard gewann klar für die Union die Bundestagswahl.

 

Neben den Opfern der SED

Dezember. In dem ersten Raum mit Blick auf die Bölschestraße von Berlin-Friedrichshagen und einen Verbrauchermarkt gegenüber befinden sich wenige Zweiertische. Aber hinten im „Ristorante TRESOLI“ gibt es einen saalgroßen Raum für Gäste. Den kleinen Bereich vorn betrete ich kurz vor 12 Uhr. Als Tagesgericht für 5.50 Euro wird ein Steak in Käsesoße mit Nudeln angeboten. Eine junge Servierfrau, die ansonsten hinter der Theke die bestellten Getränke für die Kellner einfüllt, begrüßt den Gast mit einem freundlichen Lächeln. Die Speisenkarte hält sie an der Brust, legt sie auf den Tisch, ich setzte mich soeben. Während der Bestellung blickt sie dem Gast voll in die Augen. Cappucino und eine Flasche Pellegrino möchte ich, das Wasser aber erst, wenn das Essen aufgetragen wird. Wo immer es möglich ist, teste ich Spaghetti mit Knoblauch und Chili in Olivenöl. An der Wand des Lokals hängt eine Urkunde, wonach Hörer eines Senders in Berlin das „TRESOLI“ zum besten Pizzabäcker der Hauptstadt ernannt haben. Ich bleibe bei der Bestellung – und bereue es nicht. Zuvor bekommt jeder Gast grüne Oliven mit Weißbrot gereicht. Inzwischen ist kurz nach 12 Uhr ein Kellner eingetroffen. Er serviert die Spaghetti, die Serviererin punktgenau dazu das Mineralwasser. Sie lächelt erneut, es wirkt keineswegs geschäftsmäßig. Offensichtlich arbeitet sie gern. Wer hier die angeblich beste Pizza isst, sollte sich auf seinen Teller konzentrieren. Ansonsten sieht er auch schon mal Opfer der SED. Denn der Partei ist es gelungen, in den vier Jahrzehnten ihrer Herrschaft die bürgerlichen Umgangsformen fast auszurotten. Da sitzt schon mal einige Tische weiter ein Gast in Trainingshose und einem karierten Hemd. Dass es seiner Frau schmeckt, ist gut zu hören. Einen Tisch weiter geht konsequent der Kopf zum Löffel, nicht einmal wird der Löffel ohne Herunterbeugen zum Mund geführt. So schmackhaft scharf habe ich „Spaghetti aglio olio“ sehr selten gegessen. Sie schmecken hervorragend. Würden Noten verteilt, sie bekämen ein sehr gut verbunden mit der Warnung – nichts für Raucher, denn wegen des scharfen Essens schlügen Flammen aus dem Mund. Den Kellner freut mein Lob. „Vom Hause“ serviert er dem Gast einen Grappa. Er rechnet ab und kassiert das Trinkgeld. Ich unterlasse es zu sagen, die Frauen arbeiten, die Männer kassieren. Trotz einiger Tischnachbarn ist das „TRESOLI“ eine empfehlenswerte Adresse.

 

„Hier schreibt Berlin“

Dezember. Das Buch mit dem irreführenden Titel „Hier schreibt Berlin“ fiel mir in Gelsenkirchen auf. In einem Antiquariat. Na ja, 1,50 Euro für eine neue Erkenntnis! Dass „Berlin“ schreibt, war mir neu. Selbst wenn es Berliner schreiben“ geheißen hätte, wäre ich behutsam herangegangen. Die meisten Autoren und Journalisten in Berlin kommen nicht aus Berlin. Und unter Berlinern gibt es bestimmt prozentual so viele Analphabeten wie in Haselünne oder Sindelfingen. Herbert Günther heißt der Herausgeber, verlegt wurde die Fährtenlegung im Ullstein-Verlag. Dem mit der Eule. Herbert Günther ist überzeugt, Berlin schreibe, nicht Berliner schrieben. In seinem Vorwort versteigt er sich in die leicht widerlegbare Behauptung: „Hier schreibt Berlin. Die Stadt Berlin schreibt. Die Stadt diktiert.“ Gilt die Eule nicht als Symbol für Klugheit? Der Herausgeber hat eine sichere Hand für Kollegen mit Stilblütenprosa. In einem Beitrag von Heinrich Mann: „Die Szene der Frau Direktor erhält endlosen Beifall.“ Endlos? Immerhin bekam Angela Merkel auf dem Parteitag acht Minuten, und der galt als lang. Aber endlos? Autor Fred Hildenbrandt: „Zwischen den Weitergehenden brach der Platz langsam wieder auseinander mit Grün, Blumen, Sonne, hohen Häusern ...“ Das wäre eine Sensation gewesen, wenn alle dort überlebten, als der Platz auseinander brach! Bei Hans Siemsen heißt es in „Kurfürstendamm am Vormittag“: „Der Bolle-Wagen hält an der Ecke und rechnet ab.“ Welch ein technischer Fortschritt in Berlin. Ein Wagen hält selbständig und rechnet ab. Das kostete aber damals schon Arbeitsplätze. Es ist ein alter Text, aber er hat Visionen in sich: „Ein grün lackierter eleganter Kastenwagen vom Bezirksamt Wilmersdorf fährt Akten spazieren.“ Ohne Fahrer? Akten haben es in Berlin gut, merkten sie es denn. Ernst Lassauer sah „Das Haus der Kindheit“ wieder und erlebte eine dramatische Überraschung: „... dass das uralte Haus der Kindheit noch immer an seiner Stelle steht, und noch verwunderlicher, dass es gar kein altes Haus ist.“ Geliftet? Immerhin ist das Haus nicht abgehauen, es steht ja noch an derselben Stelle. Er hat es mit den tiefschürfenden neuen Erkenntnissen. Einige Seiten weiter ist zu lesen: „In späteren Jahren, als höchst erwachsener Mensch, habe ich dann mit ihm über Wertpapiere verhandelt.“ Zumindest äußerlich blieben wir „in späteren Jahren“ alle keine Kinder. Und Kinder verhandeln auch nicht über Wertpapiere. Berlin ist eine wundersame Stadt. So erlebte die Metropole auch Hans Bethge: „...und hinter den großen Scheiben der Läden erhoben sich schweigende und doch unendlich beredte Werke der besten Kunst.“ Hätte er doch geschwiegen. Hier beendete ich die Lektüre. Denn der nächste Teil der Anthologie ist betitelt mit „Satire“. Unfreiwillige Satire reichte. „Hier schreibt Berlin“ aus dem Verlag Ullstein – nicht kaufen!

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