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Januar 2005 (Druckversion)

 

Erlebte Geschichte in der Wallstraße

„Der Spittelmarkt ist durch massive Penzersperren blockiert, und eine Kette zerstörter T 34 macht das Durchkommen der russischen Infanterie zur Leipziger und weiter zur Wilhelmstraße unmöglich.“ Das war vor 60 Jahren. Als letzte Reserve des Regimes stand am Spittelmarkt bewaffnet Günter Lamprecht, in seinen Memoiren berichtete er darüber. An der U-Bahnstation Spittelmarkt biegt die Leipziger Straße ab in Richtung Alexanderplatz, die Wallstraße zieht sich parallel entlang der Spree bis zum Märkischen Museum. Von einigen Berlinern wird sie auch gern Wallstreet genannt. Der gute Kilometer ist ein Ort dramatischer Ereignisse der deutschen Geschichte. Günter Lamprecht erlebte hier als Jugendlicher beim Judenpogrom den Überfall auf ein Zigarrengeschäft, vor 60 Jahren war er zur aussichtslosen Verteidigung aufgerufen: „Die Panzersperre in der Wallstraße ist meine Anlaufstelle, Verwundete abzuholen. Es war ein Sanitäter, auf dessen Befehl hin ich mich mit ihm von dem schützenden Bunker in der Kurstraße zur Sperre durchschlagen sollte. Vereinzelte Rotarmisten hatten es geschafft, die Linie zu durchbrechen, und eröffneten nun als Heckenschützen aus dem Hinterhalt aus zerstörten Häusern das Feuer. Wir bekamen von ‚unseren‘ Maschinengewehren Feuerschutz und rasten, rasten um unser Leben. Der Sani schleppte eine zusammengerollte Trage mit sich. Aber dann zurück. Die Trage beladen, rannten wir mit halbem Tempo in gebückter Haltung zurück. Während wir rannten, konnte ich plötzlich beten, laut beten, der verwundete Landser auf der Trage wimmerte und winselte vor Schmerzen. Sein rechtes Bein war zertrümmert, bestand nur noch aus einer leblosen Masse, zerquetscht und blutig. Der Sani, der vorne rannte, brüllte uns beiden über die Schulter zu: ‘Haltet die Schnauze, verdammt noch mal, ihr seid ja schlimmer als die Stalinorgeln.‘ Wir sind in unserem Bunker gelandet, und ich blutete unter dem rechten Arm.“ Günter Lamprecht beschreibt das Erlebnis in dem Buch: „Und wehmütig bin ich immer noch.“

Sechzig Jahre nach dem sinnlosen Einsatz des später erfolgreichen Schauspielers sind die Häuser um den Spittelmarkt nach Zerstörung im Krieg und Verfall durch den Sozialismus wieder aufgebaut. Wer genau hinsieht, kann an einigen Fassaden noch wenige Einschusslöcher sehen. Vor dem Eingang zum U-Bahnhof verkauft eine Frau in einem kleinen Stand ein Lieblingsessen vieler Berliner: Thüringer Rostbrat- oder Currywurst. Hinter ihrem Stand erheben sich helle Häuser sozialistischer Hochbauweise, Plattenbauten der besseren Art. Hier befand sich vor 15 Jahren der bevorzugte Wohnbereich von Edelgenossen.

Die Wallstraße ist gerade und wenig belebt, weil an ihr fast nur Verwaltungsbauten liegen. Zwischen den Häusern ist gelegentlich links die Fischerinsel zu sehen. Die kleinen Katen der einstigen Fischer und die schmalen Gassen darauf wurden im Krieg zerstört. In der Gegenwart ist sie durch Plattenbauten verhässlicht. Vom Spittelmarkt aus gab es zu Beginn der Wallstraße bis vor einiger Zeit einen größeren Bäckerladen mit Stehtischen darin. Am Ende saß seit den 20er Jahren bis 1933 der Vorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB). Der war der größte gewerkschaftliche Dachverband in der Weimarer Republik. Dessen Vorsitzender Theodor Leipart ging an der Wallstraße gern in die Reichsbäckerei. Ob sie die Vorgängerin war, konnte nicht erforscht werden. Zum Ende des Jahres 2004 war der Bäckerladen geschlossen, Nachmieter wurden gesucht. Ich hatte eine klammheimliche Freude, weil Kunden hier mit feindseliger Unfreundlichkeit behandelt wurden. Das Personal grüßte grundsätzlich nicht, den Kaffee goss es mit muffeligem Gesicht auf und das Gebäck schob man lieblos über die Theke. Die Bäckerei schien mir das letzte Refugium der DDR.

 

Auf, auf in die Rotlichtbestrahlung

Nach wenigen Metern ist eine Querstraße Richtung Fischerinsel und Alex erreicht. An der Ecke lag in der DDR eine Unterkunft für Parteileute, die den Namen Hotel nicht verdiente. Viele Meter weiter Richtung Märkisches Museum unterhielt in einem kastenförmigen Haus die SED eine Parteischule. Wer dort geschult wurde, kam zur „Rotlichtbestrahlung“, wie die Bürger in der DDR höhnten. Die einstige Unterkunft der Parteistrammen ist umgebaut worden zu einem sehr feinen Hotel. Nicht einmal zu ahnen ist, wie hässlich die Bleibe bis in die neunziger Jahre war.

Wolfgang Leonhard kam Ende April 1945 mit der so genannten Gruppe Ulbricht nach Berlin. In einer sowjetischen Maschine wurden Kommunisten unter Leitung von Walter Ulbricht aus Moskau eingeflogen. Diese Vorhut sollte die Machtbasis der deutschen Kommunisten aufbauen. Wolfgang Leonhard flüchtete später über die Tschechoslowakei nach Jugoslawien, dann in den Westen und schrieb dort sein Standardwerk „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Die DDR zu betreten war für ihn von da an lebensgefährlich. Nach ihrem Ableben suchte er 1990 die Stätten auf, die er viele Jahrzehnte nicht sehen durfte. „Spurensuche“ heißt das Werk darüber. Verlegt wurde es 1992 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln.

„Am 21. März 1990, nur wenige Wochen nach der Wende in der DDR, fuhr ich erstmals zum Gebäude Wallstraße 76-79, in dem sich von Juli 1945 bis April 1946 das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands befand. Nach der Gründung der SED im April 1946 wurden die Abteilung Werbung und Schulung und der Dietz-Verlag hier untergebracht. In diesem Hause war ich vom 10. Juli 1945 bis September 1947 tätig. ...

42 Jahre später nähere ich mich dem Gebäude; auch hier der Befund: Von außen hat sich das Haus kaum verändert; es wirkt inzwischen heruntergekommen. Selbst hier, am früheren Sitz des Zentralkomitees, waren Renovierungsarbeiten nur begrenzt erfolgt.

Gleich links neben dem Eingang fand ich die obligate Gedenktafel:

‚Hier befand sich von Juli 1945 bis April 1946 der Sitz des von Wilhelm Pieck geleiteten Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands.‘

Auf der Höhe der ersten Etage, über die Breite mehrerer Fenster hinweg, las ich die Aufschrift ‚Dietz-Verlag‘. Offensichtlich gehörte das frühere ZK-Gebäude nunmehr allein dem SED-Verlag. Bereits bei meinem nächsten Besuch, nur wenige Wochen später, war die Aufschrift entfernt. An ihre Stelle trat im Haupteingang eine wachsende Zahl von Schildern, die auf Büroräume privater Firmen hindeuteten: Selbst in das Zentralkomitee-Gebäude zog die Marktwirtschaft ein.

Ich wollte hineingehen, wurde daran aber beim ersten Besuch vom Pförtner gehindert: ‘Hier findet eine wichtige Sitzung statt. Niemand darf herein.‘ Die Szene erinnerte mich an vergangene Zeiten in Moskau und Ost-Berlin.

Das änderte sich rasch. Bereits bei den folgenden Besuchen - am 29. August und 12. September 1990 -  gab es keine Schwierigkeiten mehr. Der Pförtner erkannte und grüßte mich; er führte mich zum Fahrstuhl: Tatsächlich, der mir schon damals, 1945 bis 1947, alt erscheinende Fahrstuhl war noch immer in Funktion.

Wie früher fuhr ich zum zweiten Stock, kannte mich sofort wieder aus und ging in ein am Ende der Etage gelegenes Bürozimmer: Hier residierte einst Fred Oelssner, Leiter der Abteilung Agitation und Propaganda. Ich wurde von Herrn Fiebig, dem neuen Leiter des Dietz-Verlages, begrüßt. Liebenswürdig und freundlich zeigte er mir das ganze Gebäude. ‚Und wo haben Sie damals gearbeitet?‘ Ich zeigte ihm mein früheres Arbeitszimmer in der zweiten Etage, am anderen Ende des Flures. Einiges war zwischenzeitlich modernisiert, die Veränderungen hielten sich jedoch in Grenzen. Besonders überrascht war ich: Die Silhouette hatte sich seit meiner Tätigkeit von Juli 1945 bis September 1947 kaum verändert.“

Optisch hat sich in der Wallstraße viel geändert: Es gibt dort neue Fassaden, mehrere Hotels, moderne Fronten an den Häusern; wo einst die allein führende Partei herrschte, wurde die Fassade aufgefrischt und im unteren Teil kontrastreich verändert. Neben dem Eingang heißt es: Botschaft Australiens. Vor einer verschlossenen Seitentür steht eine Dralle und raucht. Sie ist unmodisch gekleidet. Was in dem Haus nun sei, frage ich sie. „Die Botschaft Australiens“, das sagt sie so, als müsste es jeder wissen. Ich zeige ihr aus dem Buch von Wolfgang Leonhard einige Fotos von dem Haus direkt nach dem Krieg. „Hierin war mal die Zentrale der Kommunistischen Partei.“ Mich trifft ein ungläubiger Blick, zwischen ausgeblasenem Zigarettenrauch sagt sie: „Ach ja?“ Dass hier Wilhelm Pieck einst Reden hielt, berichte ich ihr nicht. Sie wird nicht wissen, wer er war. Auch Otto Grotewohl wird ihr wohl unbekannt sein. 1946 hielt er in dem jetzigen Haus der Botschaft eine Brandrede. Wolfgang Leonhard erinnerte sich, dass der spätere Ministerpräsident der DDR die Teilnehmer einschwor, in 130 Kreisen „unverzüglich“ Kreisschulen der Partei auf Internatsbasis zu schaffen: „‘Wir haben uns die Aufgabe gestellt‘, erklärte Grotewohl mit einer an ihm bis dahin nicht gekannten schneidigen Stimme, ‚im Verlaufe eines einzigen Jahres 180.000 SED-Mitglieder in vierzehntägigen Kursen in den Kreisschulen auszubilden. Diese Aufgabe muss und wird durchgeführt werden.‘“ Die kompakte Raucherin verschwindet hinter einer Tür wieder in der Botschaft. Sie stand unter der gemeißelten Hausnummer 76/79. 

Die Schule im einheitlichen Plattenbausystem schräg gegenüber wurde geweißt. Anders als einst in der DDR befinden sich an den Fenstern farbfreudige Scherenschnitte und Collagen, mit denen Schüler das Haus schmücken.

 

Trinkstätte der Fernfahrer

Einige Häuser von der Botschaft Australiens entfernt gab es in der DDR und noch einige Zeit nach ihrem Zusammenbruch ein uriges Berliner Lokal. „ Zum Fernfahrer“, so ihr vielleicht irreführender Titel. Vor dem Haus standen nie Lastautos. Sie hätte als Kulisse für eine Berliner Arbeiterkneipe herhalten können. Der kräftige Wirt hinter der Theke war im Ton rau wie ein Kapitän der Landstraße, er zapfte seine Mollen wie am Band. Auch die in der Region so beliebten Buletten waren schmackhaft wie von einer Arbeiterfrau gebraten. Zu Zeiten der DDR galt die Fernfahrerkneipe in der Wallstraße als Tipp, insbesondere von Künstlern aus West-Berlin, die hier das „Miljö“ aus der Zeit Zilles besichtigen wollten. Es hätte an der Tür noch stehen können: Der Umgangston ist garantiert ruppig. 

Die Malerin Sarah Haffner musste als Westberlinerin für jeden Besuch in der Hauptstadt der DDR 25 DM Eintrittsgeld zahlen; im Westen Zwangsumtausch genannt. Da es für sie im Osten kaum was Interessantes zu kaufen gab, hinterlegte die das Geld bei ostdeutschen Freunden. Hatte sich eine erkleckliche Summe angesammelt, kam es zu Treffen zwischen Ost- und Westberlinern und das Geld wurde auf den Kopf gehauen. Im Jahr 1987 war die erste Begegnung in den „Offenbach-Stuben“ am Prenzlauer Berg angesagt, das selbst für Sehbehinderte erkennbar von der Stasi belauert wurde. „Wir ließen uns davon aber nicht verdrießen. Die Fete war ein Riesenerfolg, und es sind daraus Freundschaften entstanden, die bis heute bestehen. Noch 1987 machte ich eine zweite Ost-West-Fete, diesmal in dem Lokal ‚Zum Fernfahrer‘ in der Wallstraße am Märkischen Museum.“ So Sarah Haffner in ihren Lebenserinnerungen „Eine andere Farbe“, erschienen 2001 im Berliner Transit-Verlag.

Offensichtlich konnte bald der Wirt die Miete nicht mehr bezahlen. „Zum Fernfahrer“ wurde verlegt in eine Seitenstraße der Wallstraße. Aber auch dort bestand das Lokal nicht mehr lange die Marktwirtschaft. An einem grauen Haus sind die verblassten Schriftzüge noch zu sehen.

 

Überfall im Haus an der Wallstraße

Vor dem Eingang in die U-Bahnstation Märkisches Museum in der Wallstraße ist eine Kamera aufgebaut. Scheinwerfer erhellen den taghellen Bereich zusätzlich. Ein Filmteam arbeitet an einer wohl eher belanglosen Szene. Eine junge Frau stürmt die Treppen hoch und läuft nach rechts davon. Immer und immer wieder hastet sie nach oben. Ein Epos wird produziert, auf der Straße aber produzieren sich die Filmschaffenden, besonders die Beleuchter.  Dem Aufnahmeort gegenüber liegt ein Bürogebäude. Es wurde in den 20er Jahren nach den Entwürfen von Max Taut gebaut. Das Haus steht unter Denkmalschutz und wurde nach dem Zusammenbruch der DDR restauriert. Unter dem sachlich-nüchternen Komplex fährt die U 2 in Richtung Alexanderplatz. Es ist das erste Bürohaus Europas in Leichtbauweise. In einem Eckbereich befindet sich der Landesbezirk Nordost der IG Bergbau, Chemie, Energie. Der Eingang liegt an der Inselstraße. Die führt zur Fischerinsel. In dem Gewerkschaftshaus spielte sich kurz nach der Machtergreifung Hitlers ein politisches Drama ab. Zwölf Jahre später musste an derselben Straße Günter Lamprecht sein Leben riskieren.

Am 2. Mai 1933 wurde das Haus des ADGB an der Wallstraße überfallen. Der Augenzeuge H. Schlimme: „Etwa 400 bis 500 SA-Männer, schwer bewaffnet, zogen in das Haus des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Berlin ein, an der Spitze Dr. Ley. Der Unterzeichnende wurde, wie alle übrigen Mitglieder des Bundesvorstandes und deren Mitarbeiter, gewaltsam mit vorgehaltenen Revolvern aus ihren Büros geführt und auf Lastwagen in ein völlig zerstörtes Haus in der Parochialstraße gebracht. Es wurde versucht, die Polizei zu alarmieren. Sie kam auf Autos und fuhr ohne abzusteigen weiter, als sie sah, dass die SA das Haus umstellt hatte.“ Der Vorsitzende Theodor Leipart schreibt 1945 über den 2. Mai 1933: „Ich wurde in mein Zimmer zurückgetrieben mit dem Befehl, mich zum Fortgehen fertig zu machen. Auf meine Frage nach dem Wohin war die brüllende Antwort: ‚Fragen Sie nicht so viel.‘ ... Ich will hier über die tatsächliche Behandlung durch die SA-Buben kein Wort verlieren.“ Der Peiniger Dr. Robert Ley war Chef der NS-Organisation DAF – Deutsche Arbeitsfront; freie Gewerkschaften wurden verboten. Hoch betagt starb Theodor Leipart am 23. März 1947. Im Sitzungssaal des Gewerkschaftshauses an der Wallstraße wurde die Trauerfeier abgehalten. Wilhelm Pieck kam, auch Jakob Kaiser von der CDU, der unter Konrad Adenauer Minister für Gesamtdeutsche Fragen wurde. In das frühere Haus des ADGB zog später der Bezirksvorstand des FDGB für (Ost)Berlin. Annelis Kimmel war die letzte Bezirksleiterin. Für wenige Wochen wurde sie 1989 Bundesvorsitzende des FDGB als Nachfolgerin des gestürzten Harry Tisch.

Das Haus war am Ende der DDR verwohnt bis zum Rande der Verwahrlosung. Ein Neubau daran mit Blick aus den Büros auf die Spree war bedrückend hässlich und dunkel im Innern. Die Sanitäranlagen durften als unter aller Sau bezeichnet werden. Drückte der Wind vom Wasser blasend auf das Haus, drang er durch die geschlossenen Fenster, so schlecht waren die eingesetzt worden. Das geschichtsträchtige Gewerkschaftshaus fiel kurzfristig in die Hände der Treuhand. Büros wurden vermietet. Der DGB, Rechtsnachfolgerin des ADGB, zahlte an die Treuhand Miete. In dem Haus baute der ehemalige Redakteur der FDGB-Zeitung „Tribüne“, Reiner Fischer, mit zwei Frauen eine Presseagentur auf. Er begründete die Wahl mit dem ironischen Satz: „Es war schon immer mein Traum, einmal an der Wallstreet zu arbeiten.“ Der Bundesvorstand des DGB zog 1999 von Düsseldorf nach Berlin – aber nicht in das alte restaurierte Gewerkschaftshaus an der Wallstraße. In der Gegenwart befinden sich darin ein gewerkschaftlicher Verlag und eine Wirtschaftseinrichtung des DGB. Die vielen Schilder weisen aber auch kleine Unternehmen als Mieter aus. Dem Bau gegenüber liegt ein Kinder- und Jugendclub, der Zustand dieses Hauses ist ein drastischer Beleg, dass dem Land Berlin Geld fehlt.

 

Wo die Funktionäre prassten

Auf der Höhe des Märkischen Museums endet die Wallstraße. Die weitere Strecke bis zur Jannowitzbrücke ist das Märkische Ufer. Von hier starten im Sommer Schiffe zu Ausflügen durch Berlin, von dem die Fremdenführer behaupten, es habe mehr Brücken als Venedig. Das letzte Gebäude vor der Abfahrtstelle war im Staate der Arbeiter und Bauern eine feine Herberge für die Führung des Proletariats – das „Gästehaus des ZK der SED“. Kein normaler Bürger der DDR war hier Gast. In den Räumen labten sich die Oberfunktionäre an Westwaren. Nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes war es schon 1945 eine Herberge für heimgekehrte Emigranten, die überzeugt waren, die DDR sei eine Alternative, für die es Freude mache zu arbeiten. Ruth Seidewitz in „Alle Menschen haben Träume“, ohne Datum, versehen mit der Lizenz-Nr. 48/9/76, verlegt im Verlag „Der Morgen“: “Berlin, das wir 1933 verlassen mussten, sah 1946 grausam aus. Vergeblich suchten wir die letzte Wohnung am Wedding und die Stätten unseres früheren Wirkens in der Nähe des Alexanderplatzes. Wir fanden überall Trümmer, nichts als Trümmer. Die in Schweden publizierte Nachricht über das wieder aufgebaute Hotel Adlon erwies sich als irreführend. Nur der zufällig nicht ganz zerstörte Personaltrakt konnte notdürftig wieder hergestellt werden. Wer von den Heimkehrern statt des Gästehauses des Zentralkomitees das Adlon gewählt hatte, musste ungeheizte Zimmer und Ungeziefer in Kauf nehmen. Unser Zimmer in der Wallstraße war den damaligen Möglichkeiten entsprechend warm und so groß, dass viele unserer Freunde des Abends meist bei uns saßen. ... Schön war das alles nicht, und nach der Enttäuschung über den auf der langen Anreise noch vielfach zu spürenden Nazi-Ungeist mussten wir in Berlin Ähnliches erleben.“

Auch dieses Haus wurde nach dem Untergang des Staates der Arbeiter und Bauern der Treuhand zugeschlagen. Unterhalten wurde darin das „Spree-Hotel“. Wo die Gäste des ZK genächtigt hatten, wohnten Touristen. Das Restaurant war allen zugänglich. Direkt nach der Privatisierung war ich darin. Das Personal war entgegen den Gewohnheiten aus der DDR sehr freundlich und hilfsbereit. Auch da genossen die Genossen vorher Besseres. Nach einigen Jahren wurde das Hotel abgerissen. Auf dem historischen Gelände entstand die Botschaft Brasiliens, im hinteren Bereich residiert die der Republik Angola. Ihnen gegenüber steht in Metall gegossen der alte Zille mit einem Notizbuch. Ein typischer Berliner Arbeiter, ebenfalls aus Metall geformt, schaut ihm über die Schulter. Beide stehen im Schatten des Märkischen Museums. Das könnte von unkundigen Touristen für ein wehrhaft gebautes Kloster gehalten werden. In dem Keller des Museums liegen die Metalltafeln, die bis 1990 an dem Haus Wallstraße 76/79 Auskunft gaben, dass hier Wilhelm Pieck gearbeitet habe und die KPD ihren zentralen Sitz hatte.

 

Tod und Liebe in der Wallstraße

Vor 60 Jahren überlebte Günter Lamprecht in einem Bunker an der Wallstraße. „Zwanzig bis dreißig Schwerverletzte lagen am Boden aufgereiht auf Matratzen. Der Sani besorgte zwei Becher Pulverkaffee, besah sich meine kleine Verletzung und sagte: ‘Glück gehabt, Streifschuss.‘ Es war wirklich nicht der Rede wert. Und dann sagte er noch: ‘Det Beten is anscheinend jar nich so falsch, et hilft.‘

In den nächsten Tagen brauchte ich nicht mehr mit raus, nur noch im Innenhof sollte ich zusammen mit einer jungen Krankenschwester die auf dem Hauptverbandsplatz Verreckten in einen Bombentrichter ‚verbringen‘, manchmal waren es an einem Tag bis zu dreißig Soldaten. Mit Gerda, der jungen Krankenschwester, ist mir dann etwas bis dahin noch Unbekanntes passiert; etwas Schönes, etwas alles-um-uns-herum-vergessen-Machendes, ein minutenlanges Versinken in Wonne."

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