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April 2005

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Mittwoch in der Metropole

April. In der S-Bahn zwischen den Bahnhöfen Hirschgarten und Köpenick am grünen Rand der Metropole wird eine Obdachlosenzeitung angeboten. Die Menschen fahren zur Arbeit und reagieren nicht. In der U 1 meldet die Zeitung B.Z. auf Monitoren den Reisenden: Oskar Lafontaine wird nach der Wahl in NRW die SPD verlassen. Die Menschen schauen kurz hoch, die Nachricht reißt keinen vom Sitz. Die Sozialdemokraten beraten in ihrer Zentrale über ein neues Grundsatzprogramm. In das Parteihaus kommt nur, wer eingeladen ist, sich anmeldete und seinen Pass vorlegt. In meinem befindet sich auch der Impfausweis, für alle Fälle. Die Kontrolleurin interessiert sich für ihn, schaut genau hinein und moniert lachend: „In diesem Jahr aber noch nicht geimpft.“ Danach darf ich trotzdem in den fünften Stock fahren. In einen rechteckigen Saal dort wird das Rednerpult eingeleuchtet. Wer in der Rangordnung des Fernsehens ziemlich unten steht, tritt gern so auf, als sei er oben. Ein Beleuchter steht im T-Shirt hinter dem Rednerpult und hält ein weißes Blatt Papier in die Höhe wie Moses die zehn Gebote. Fast alle Kameras sind wegen des Weißabgleichs auf ihn gerichtet. Das scheint die Erfüllung eines Traums zu sein, so im Mittelpunkt zu stehen. Als einer der ersten bekannten Sozis betritt Klaus Uwe Benneter den Beratungsraum. Wie einst Jochen Vogel trägt er eine Büromappe angewinkelt in der linken Armbeuge, aber anders als bei Vogel ist das keine Klarsichthülle. Fotos von Benneter ohne diese Mappe sind rar wie die Blaue Mauritius. Bonns Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann weiß, dass zu ihrem Amt das Schütteln von Händen gehört, was sie bei jedem sehr freundlich macht. Provinzfunktionäre lassen sich in Pixels festhalten. Um Benneter und Dieckmann scharen sich immer wieder Gruppen zu Fotos für die Heimatzeitung. Reinhard Klimmt von der Saar bemerkt aus den Augenwinkeln eine auf sich gerichtete Pressekamera, sofort verändert er seine Armstellung, stellt sich als leger dar. Ute Vogt, die Landesvorsitzende aus Baden-Württemberg ist so gekleidet, als sei sie mit dem Wohnwagen vorgefahren und reise direkt nach der Tagung ab nach Pforzheim. Die insgesamt nicht mehr so junge Garde der Partei ist versammelt. Der Vorsitzende Franz Müntefering betritt den Saal. Sein grauer Zwirn sitzt hervorragend, die braunen glänzenden Schuhe sind ziemlich frisch gekauft, ob der Sauerländer altershager oder aus anderen Gründen so knochig geworden ist, bleibt unklar. Neben Joschka Fischer stehend müsste Franz Müntefering wie der lebende Armutsbericht wirken, auf die Leibesfülle bezogen. Er tritt ans Rednerpult. Nun sind die Kameras nicht wie vorher auf ein Blatt Papier gerichtet. Von einem Referentenmanuskript verliest der Vorsitzende stockend, monoton, ungeübt seinen Text. Mir fällt die so genannte Kapitalismuskritik nicht auf. Was er sagt, das ist doch so. Eher registriere ich, dass er Gefahr für die Demokratie auch in einem Teil der Presse sieht. Da ist er sich mit dem früheren Vorstandsvorsitzenden des Springerkonzern Jürgen Richter einig, der Tage vorher gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ sagte, einige Leute in der Bild-„Zeitung“ wollten „eine andere Republik“. Nach der Rede des von vielen nur Franz gerufenen Müntefering bauen die Kamerateams rücksichtslos ab. Allen anderen im Saal wird herzlos demonstriert, was sie nun sagen werden, interessiert die Medien nicht. So entgeht ihnen ein Versprecher von Dr. Eva-Maria Stange, der Vorsitzenden der GEW. Die engagierte Ostdeutsche redet sich positiv in Rage, sie will überkommenes Familienbild sagen und es sprudelt der Versprecher „verkommenes Familienbild“ heraus.

 

Preisverfall bei Union

April. Zwei angesehene Berliner Zeitungen berichteten, schon in der DDR habe es Hooligans gegeben, insbesondere bei Dynamo, Union Berlin und Chemie Leipzig. In der Gegenwart sei das Hooliganproblem ein ostdeutsches Phänomen. Also auf in die Alte Försterei, das Stadion von Union Berlin. „Fahrstuhlelf“ war der Club in der DDR, sie stiegen mal auf, mal ab. 2001 war Union im Endspiel um den Pokal des DFB, in der vergangenen Saison in der 2. Bundesliga, gegenwärtig steht sie abgeschlagen auf dem letzten Platz der Regionalliga. Auf dem Weg zum S-Bahnhof, der zwei Stationen von Köpenick entfernt ist, begegne ich einem Berufskollegen vom „Kurier“. Er werde sich das Spiel gegen Fortuna Düsseldorf nicht ansehen. Der Tag sei für ihn super verlaufen, da wolle er sich „das“ nicht antun. Auf dem Gelände einer früheren Tankstelle befindet sich nun die „Union-Tanke“ mit Bierausschank, Würstchenbraterei, Kartenverkauf. Der Betreiber Frank, über zwei Meter hoch gewachsen, überblickt den mäßigen Andrang. Bei ihm kostet die Bratwurst einen Euro. Hier kaufe ich die Stehplatzkarte für neun Euro. Auf der Eintrittskarte aufgedruckt steht der Preis von 8.50 Euro. Das Flüsschen Wuhle wird überschritten. Erreicht sind das Vereinslokal „Abseitsfalle“ und der Fanshop. Hier registriere ich einen dramatischen Preisverfall. Schals und T-Shirts des ostdeutschen Kultclubs sind bis zu 50 Prozent reduziert. Zu sehen ist eine Marktsättigung: Kaum ein Zuschauer vor dem Stadion Alte Försterei ist nicht kostümiert. Ich habe mich „sportlich“, also schlipslos, gekleidet und fühle mich sehr zivil. Trotzdem falle ich auf. Es ist wie im rheinischen Karneval, bei dem es gelegentlich Kostümzwang gibt, hier sind sie durchweg freiwillig kostümiert. Im Fanshop liegt ein Prospekt. Für 75 Euro kann sich der Fan in einem Fußgängertunnel des Stadions seinen Namenszug auf eine Steinplatte meißeln lassen. „Der Zuschauertunnel ist wie die altehrwürdige Anzeigetafel bereits heute legendär. Der Geist der Geschichte weht buchstäblich hindurch. An diesem für Unionfans fast schon heiligen Ort wird nun eine Wand aus Steinscheiben entstehen, auf der du deinen Namen und deine persönliche Widmung verewigen kannst.“ Die Abbildung gleicht einem italienischen Friedhof, bei dem an den Mauern Grabgehäuse mit Namensplatten daran stehen. Das Publikum ist sehr jung. Viele Fans kennen die DDR nur von Erzählungen ihrer Eltern. Sicherlich auch oft aus Schilderungen, wie schön damals alles war. Die Polizei ist mäßig präsent. Fünf Männer vom Bundesgrenzschutz stehen abseits und schauen fast gelangweilt. Nach dem Passieren der Kartenabreißstelle bin ich im engeren Ring. Hier kostet das Würstchen 1.80 Euro. An zwei Ständen werden Pins von Fußballvereinen angeboten. Neben mir kauft ein ostdeutscher Fan die Anstecker von Alemannia Aachen und Mainz 05, mich interessieren die Pins von der BSG Aktivist Glückauf Brieske Senftenberg oder Wismut Aue. Die von Vorwärts Frankfurt sind ebenso im Angebot wie Stahl Brandenburg. Brieske Senftenberg „kostet aber fünf Euro“, warnt der Verkäufer. Wer Ostprodukte kauft fällt auf, ich spüre kritische Blicke von der rechten Seite. Im Stadion wird gesungen. Fünftausend Menschen wollen den sicheren Absteiger sehen. Fortuna Düsseldorf spielt in schalkeblauen Trikots. Ein ungewöhnlicher Anblick. Die bisherigen Rituale sind angesichts des Tabellenstandes schwächer geworden. Werden die Spieler des Gegners genannt, kommt ein schwaches „na und?“ aus Hunderten von Kehlen; früher beteiligten sich Tausende Fans daran. Auf dem Rasen steht eine Art Entertainer. Im Ruhrgebiet heißt der Stadionsprecher. Er brüllt die Vornamen der Spieler hinaus, die Zuschauer rufen die Nachnamen. Aber es sind wenige. Das Publikum ist dankbar. Gelingt ein Zuspiel, bricht frenetischer Beifall aus. „Eisern Union, eisern Union, eisern Union“, das wird meist drei Mal gerufen, Fäuste fliegen nach vorn in den warmen Berliner Aprilhimmel. So mancher Anhänger von Union sieht nichts von dem Spiel, die glasigen Blicke verraten ihn. Union spielt leidenschaftlich, aber schlecht, Fortuna Düsseldorf cool und sachlich, aber auch mies. Die Stimmung auf den Rängen ist wie im rheinischen Karneval. Das Flutlicht wird eingeschaltet, die gefüllten Bierbecher aus Plastik kreisen. Rechts oben neben mir auf dem Stehplatz liest ein Mann während der ersten Halbzeit das Stadionmagazin des Clubs. Er hält es nahe vor seine Augen. „Wie kann der denn ausrutschen“, ruft empört ein Mittdreißiger vor mir. Gemeint ist ein Stürmer der Union, der eigentlich über den Ball stolperte. Seine Frau und er sowie der mutmaßliche Sohn sind rotweiß kostümiert. „Wieso?“, fragt das Söhnchen. „Es hat doch wochenlang nicht geregnet“, wird der Steppke über die Kritik vom Alten aufgeklärt. Nach einem Abpraller fällt das 1:0 für Union. In der Halbzeitpause steigt der Bierkonsum wie eine Sintflut. Auf Fotohandys zeigen sich die Anhänger das seltene Ereignis – ein Tor für den Platzverein. Nach dem Wiederanpfiff ist zu sehen, die Elf aus der piekfeinen Landeshauptstadt Düsseldorf will sich nicht vorführen lassen. Weil ich bisher nur Niederlagen hier sah, glaube ich inzwischen, die hätten was mit meiner Anwesenheit zu tun. Ich wohne doch nur zwei Stationen vom Stadion entfernt, und möchte dort in Frieden wohnen bleiben. Ich befürchte, das Spiel könnte kippen und verlasse eine halbe Stunde vor dem Abpfiff das Stadion. Die Fans der Düsseldorfer sind klar ausgegrenzt wie in Quarantäne. Aus ihrem „Block“ starten Leuchtraketen. Die wenigen Berliner Polizisten sind aber zu weit von ihnen entfernt, sie hielten bisher die Unierten im Blick. Die Pinhändler sind abgezogen. In den Bratwurstbuden warten sie auf den Ansturm danach. Leere in der Gaststätte „Abseitsfalle“. Nur das Personal sitzt vor der Theke. Je nach Spielausgang haben sie zu tun. Franks Würstchenbude an der „Union-Tanke“ ist schon geschlossen. Aber die Bierhähne sind einsatzbereit. Fünfzehn Minuten vor Schluss bin ich in der Gaststätte „Bier-Keller“. Über den Spielautomaten hängt die Fahne von Union. Im Fernsehen läuft Eishockey. Ich erläutere meinen zu frühen Abgang. Sie sollen gewinnen. Ich rede im Nebenzimmer mit einem Ehepaar. Plötzlich nebenan ein Aufschrei. Einer hatte umgeschaltet vom Eishockey auf den rbb mit den aktuellen Ergebnissen im Videotext. Fortuna Düsseldorf gewinnt mit 1:2 in den Schlussminuten. Aufatmen bei mir – ich bin nicht schuldig. Die Information, dass Schals und Pullover der Union um die Hälfte reduziert seien, interessiert nicht. Nun sind sie sicher, in der Oberliga können die meisten Auswärtsspiele mit der S-Bahn erreicht werden. Lukrativer für den Verein wäre, die Mannschaft abzuschaffen und die Fans in die Alte Försterei zu Bier, Buletten und Bratwürstchen einzuladen. 

 

B – für Bettlerstadt

April. Das polizeiliche Kennzeichen B könnte auch für Bettlerstadt stehen. Wer in der Hauptstadt öffentliche Verkehrsmittel benutzt, muss abstumpfen. Donnerstag der 14. April: In der S-Bahn zwischen Ostbahnhof und Alexanderplatz – das sind nur zwei Stationen – spricht ein Obdachloser mit professioneller Jammerstimme die Fahrgäste an, sie möchten ihm die Zeitung „Motz“ abkaufen oder eine „kleinere Spende“ geben. Vor dem Bahnhof am Alex kniet auf einer Tasche ein Osteuropäer und hält bettelnd die Hand nach vorn. Auf dem Platz will mir ein junger Mann religiöse Bücher andrehen. Am Eingang der U-Bahn Linie 2 sitzt ein Musikant. Er spielt sehr schön und bekommt 50 Cent. Das waren in fünf Minuten drei Bettler plus ein Verkäufer. Die U-Bahn verlässt den Alex in Richtung ehemaliges Westberlin. Der nächste Obdachlosenblattverkäufer hält direkt nach dem Start in der Bahn eine Rede, er will die „Motz“ verkaufen oder eine kleine Spende. Am Märkischen Museum hat er nach zwei Stationen den Waggon verlassen. Einen Halt weiter steigt eine blonde Frau zu. Die Sonnenbrille steckt hoch im Haar. Auch sie hält eine Rede und will die Motz verkaufen oder eine kleine Spende. Die U-Bahn schaukelt durch die unterirdische Strecke und die Frau rutscht auf einen leeren Sitz. „Aber nicht, dass Sie meinen, ich wäre besoffen.“ Es ist 11.30 Uhr. Aus ihrer Tasche nestelt sie einen Behindertenausweis und zeigt ihn denen, die ihn nicht verlangt hatten. Mein Ziel ist der Bahnhof Wittenbergplatz. Dort sitzt ein junger Mann in der Hocke auf dem Boden, neben sich einen riesigen Köter, vor ihm steht eine Schale mit einigen Cents darin. Auf dem rechten Bürgersteig kniet wie am Alex ein Mann und hält die Hand auf. Zweimal wurde gebettelt in der Bahn, ebenso oft am Bahnhof. 

 

In memoriam Hilde Reiter

April. Angriff auf Angriff wurde vor 60 Jahren auf Berlin geflogen. Der Schauspieler Günter Lamprecht beschreibt in seinen Kindheitserinnerungen die Bunkerzeit. In der Köpenicker Straße mussten er, seine Mutter, Untermieter und Nachbarn ständig in einem unsicheren Bunker „Schutz“ suchen. „Mit unseren neuen ‚Untermietern‘ waren wir sieben Leute, die hier Unterschlupf fanden. Die Frisörfrau Reiter mit ihrer kleinen Tochter Hilde ... blieb gleich im ersten vorderen Raum, wir fanden im mittleren unseren Platz. Ich war eigentlich froh, dass die kleine Hilde und ihre Mutter vorne blieben, denn die Kleine war in ein lautes Dauerweinen geraten und ging ganz schön auf die Nerven.“ Es erfolgte Einschlag auf Einschlag, die Köpenicker Straße schien zu beben. Nach dem Hauptangriff warf offensichtlich eine „Feindmaschine“ ihre Reste an Bomben ab und traf das Haus. Eine Sprengbombe durchschlug die Mauern, Günter Lamprecht und Mutter wurden von der Wucht der Detonation in den hinteren Raum geschleudert. Beide hatten Glück – nur Hautabschürfungen. „Es brauchte nicht viel Zeit, die Trümmer wegzuräumen, und der Blick in den zerstörten Raum da drüben war frei. Die Menschen waren zerfetzt, der böllernde Alte mit seinem Radio, Frau Reiter, ihre kleine Hilde, die anderen, alle waren tot, verstümmelt, zur Unkenntlichkeit zerrissen. Hier war nichts mehr zu helfen. Auf allen vieren kriechend, erreichten wir das Draußen, bekamen wieder Luft, verbrannte Luft, egal, uns hatte es wieder mal nicht erwischt.“ So schreibt er in „Und wehmütig bin ich immer noch.“
Köpenicker Straße

Die Köpenicker Straße lag nach der Teilung Berlins im Grenzgebiet. In der DDR wurde ihre Zerstörung durch Plattenbauten geheilt. Aber zwischen den Kästen der Arbeiterintensivhaltung blieben bis in die Gegenwart riesige Ruinen aus dem Krieg stehen. Einige sind von so genannten Hausbesetzern bewohnt, andere sind wegen des Zerfalls nicht zu besetzen. Zwischen Spree und Köpenicker Straße liegt die Hauptverwaltung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Von der 6. Etage des Zweckbaues ist der Einblick in die ehemalige Grenzstraße möglich. Der Verkehr ist meist intensiv. Einige Betriebe unterhalten hier ihre Verwaltungen. Eine Kirche erhebt sich zwischen den unterdessen wohnlicher gestalteten Plattenbauten. Lediglich in dem Buch von Günter Lamprecht wird an die kleine Hilde Reiter erinnert, die vor 60 Jahren hier starb.

Köpenicker Straße

„Das ist für Stalingrad“

April. „Schon gegen Abend erreichte unsere Batterie die Höhen, und wir erblickten die riesige Stadt. Freude und Jubel ergriffen uns: Wir standen vor der letzten feindlichen Linie. Die Stunde der Abrechnung war gekommen“, schreibt der sowjetische Marschall Georgi K. Schukow in seinen „Erinnerungen und Gedanken“ über die Schlacht um Berlin vor 60 Jahren. „Wir merkten nicht einmal, wie ein Auto stoppte und unser Kommandeur, General Bersarin, ausstieg. Er begrüßte uns und befahl unserem Kommandeur: Auf die Faschisten in Berlin – Feuer! Wir waren noch nie so eifrig bei der Sache gewesen wie in diesem Augenblick.

Unsere Sanitäterin M. Jurtschenko malte folgende Worte auf die Geschosse: Für Stalingrad, für das Donez-Becken, für die Ukraine, für unsere Waisen und Witwen, für die Tränen der Mütter!“

Die Angriffe galten dem Raum Köpenick und Karlshorst. In dem zu diesen Kiezen gehörenden Ortsteil Mahlsdorf an der Grenze zu Brandenburg wurde der jüdische Junge Michael Degen von einem HJ-Burschen versteckt. Unfreiwillig erlebte der von den Nazis verfolgte Jugendliche die Angriffe. „Am 22. April ging es dann los. Die Katjuschageschosse hagelten zu Tausenden auf Berlin herunter. Wie glühende Pfeile jagten sie über den Himmel. Der Geschosshagel war so dicht, dass er manchmal wie eine dunkelrote Decke über uns lag.

Aber das schlimmste an dem Beschuss war die Geräuschkulisse. Die Raketengranaten heulten, jaulten und explodierten pausenlos. Wir konnten uns nur noch schreiend verständigen. Eine ganze Nacht und einen ganzen Tag hämmerten sie auf uns herunter.“

Mahlsdorf

Sechzig Jahre später sind Mahlsdorf in Berlin und das angrenzende, in Brandenburg gelegene Waldesruh eine kleinbürgerliche Idylle. Einige Straßen wurden noch nicht asphaltiert, aber von dem früheren Verfallgrau der Häuser aus dem Sozialismus ist nichts mehr zu sehen. Viele Bewohner verkauften nach dem Zusammenbruch der DDR einen Teil ihrer Grundstücke und machten damit einen beachtlichen Schnitt. Von dem Geld wurden die Häuser saniert, nah daneben stehen neue. Die Bebauung ist erheblich dichter geworden. Nutzgärten sind nicht mehr gefragt. Vor den Häusern geparkte Autos werden von Männern mit viel Hingabe auf Hochglanz gebracht. Es könnte sein, dass hier einige Männer Autos mehr lieben als Frauen. Der Fußballverein Blau-Weiß Mahlsdorf ist der einzige Berliner Club, der auch bei Heimspielen auswärts spielt. Seine sehr gepflegte Sportanlage liegt in dem Ort Waldesruh, der zu Brandenburg gehört. Die Wälder hier im Grenzgebiet sind ein bevorzugtes Gebiet für Radler und Wanderer. Vor 60 Jahren versteckte sich hier der spätere Schauspieler Michael Degen vor den Nazi-Schergen. Als große Teil Berlins schon erobert waren, streifte Degen mit seinem ehemaligen HJ-Freund Rolf durch die Gegend. Sie sahen im Wald einen an einen Baum gelehnten deutschen Fallschirmjäger „sitzen“. Die beiden Jungen robbten sich heran und erblickten bei ihm einen Rotarmisten. Zunächst glaubten die Burschen, die einstigen Feinde hätten sich versöhnt. Doch der Fallschirmjäger war erschossen worden und der Sowjetsoldat „plünderte“ ihn. Die beiden Jungen krochen auf dem Bauch zurück. Nach einer kurzen Strecke erhoben sie sich wieder. Michael Degen schaute sich noch einmal um, plötzlich gab es einen Knall. Sein Freund Rolf rief „Aua“. Degen forderte ihn auf, sich erneut flach zu legen, „der Ruski macht Scheibenschießen auf uns“. Rolfs Hose war nass. Er hatte sich nicht, wie angenommen, vor Schreck eingenässt, es war Blut. Freund Rolf konnte sein Bein nicht mehr bewegen, er wollte in dem Wald liegen bleiben und auf die Hilfe seines Vaters warten. Michael Degen bugsierte seinen früheren Helfer auf seinen Rücken und schleppte ihn durch die stillen Straßen. Endlich war das im Krieg zerstörte Haus von Rolfs Vater namens Redlich zu sehen. Der Mann sah die Beiden kommen. „Er schaute zu uns rüber und schien erst verdutzt zu sein. Dann rannte er mir entgegen. Ich hörte nicht mehr, was er rief, fühlte nur, wie mir Rolf vom Rücken genommen wurde, und lag keuchend am Boden.
Langsam kam ich wieder hoch. Redlich hatte sich tief zu Rolf hinuntergebeugt und hielt seinen Kopf dicht an den seines Sohnes.
Warum schafft der den nicht wenigstens in die Küche, dachte ich.
Dann stand er auf und kam zu mir. Er war wachsbleich. ‚Die Mühe hättest du dir sparen können‘, sagte er und ging ins Haus zurück.
Du hast nicht geholfen, lieber Gott, dachte ich und sah auf Rolf hinunter. Sein Gesicht, das mir so vertraut war, sah jetzt fremd, abwesend aus, ein toter Mensch, den ich genau so gut kannte wie mich.
Redlich kam mit einer Bettdecke wieder zurück und breitete sie über Rolf aus. ‚Ich kann ihn nicht ins Haus bringen‘, sagte er leise, ‚ich hab‘ die Kraft nicht dazu.‘ Dann setzte er sich neben seinen toten Sohn auf den Boden.“

Sechzig Jahre nach dem Tod des Jungen ist der Grenzbereich Mahlsdorf/Waldesruh eine Idylle. In einem Biergarten lärmen Kinder einer Schulklasse. Der gepflegte Rasen von Blau-Weiß Mahlsdorf wird um die Mittagszeit mit einer technischen Anlage bewässert. Ein kräftiger Mann an die 30 lässt seinen beachtlich großen Hund von der Leine. „Der tut keinem was“, versichert er mir. Das sagen alle, denke ich. Der Hund schnuppert nur kurz an meinem Fahrrad und läuft dann zum Wasser des Fußballplatzes. Ein Mann haucht einige Meter weiter ein Staubkörnchen von der Kofferhaube seines schwarzen Mercedes. Überwiegend sind hier Autos aus deutscher Produktion geparkt. Die Sonne steht strahlend am Himmel. In keinem der kleinen Gärten wird um diese Zeit gearbeitet.

„Sehr erfolgreich war beim Sturm auf Berlin am 22. April das 9. Schützenkorps unter dem Helden der Sowjetunion Generalmajor I. P. Rosly. Seine Soldaten nahmen durch einen entschlossenen Vorstoß Karlshorst, einen Teil von Köpenick, erreichten die Spree und überquerten sie ohne Aufenthalt.“ So Marschall Schukow.

Sechzig Jahre später quält sich zu fast jeder Tageszeit der Autoverkehr über die Treskow-Allee von Karlshorst. Zwischen dem Haupteingang der Pferderennbahn Karlshorst und dem S-Bahnhof liegen 50 Meter. Auf diesen wenigen Metern stehen rechts drei Asia-Imbissbuden, auf der linken Seite der Straße befindet sich eine solche in einem kleinen Center. Umgerechnet kommt auf 12,5 Meter jeweils ein Imbiss. Der S-Bahnhof zeigt noch Verfallsgrau aus der DDR. Am Ausgang steht ein verlassenes Büdchen mit einem gebleichten Firmenzug über der Eingangstür: „Blumenhaus Karlshorst“. Der bunte Zeitschriftenkiosk daneben bildet einen auffälligen Kontrast; er wird schon um 18 Uhr geschlossen – Provinz in der Metropole. Wer als Bahnreisender den historischen Ort erreicht, sieht vor sich eine „Havanna Bar“. An den Tischen im Freien aalt sich die Ortsschickeria. Wer hier sitzt, will gesehen werden. Geworben wird an dem Gebäude der „Bar“ für den „Sonntags-Brunch“, Preis 6.50 Euro. „1 Erwachsener, 1 Kind frei 9 –15 Uhr.“ Daneben erhebt sich ein Theatergebäude, in dem früher Stücke in russischer Sprache aufgeführt wurden. Am 8. Mai 1945 unterzeichneten in Karlshorst oberste Militärs Hitlers die bedingungslose Kapitulation. Der Stadtteil wurde, wie Berliner sagten, bis 1990 eine Russenstadt. Der Havanna Bar folgt eine Filiale der Berliner Volksbank. Direkt dahinter am Bürgersteig das, was die Stadt auszeichnet – eine sehr geruchsintensive Imbissbude. Die an der Spree so beliebte Bulette kostet einen Euro, die Bockwurst 0,95 Euro, die Tasse Kaffee bekommt der Gast für 50 Cent. Direkt dieser Bude gegenüber steht auf der anderen Seite der Treskow-Allee wiederum ein Würstchengrill. „Bratwurst Thüringer Art“ ist in weißen Buchstaben auf die Stirn der Bretterbude geschrieben. Von der Treskow-Allee führt die Rheinsteinstraße zu der Stätte der Kapitulation. Auf einem Hinweisschild in beachtlicher Höhe heißt es: „Museum Berlin-Karlshorst“. Darunter steht wohl der gleiche Text in kyrillischen Buchstaben. Ich fotografiere die Abzweigung. „Kann ich helfen“, fragt mich ein Mann. Er wird Ende vierzig sein, seine braunen Augen signalisieren trotz der freundlichen Frage eine leichte Aggressivität. Ich wisse Bescheid, es ginge um das Kapitulationsmuseum. So der Name in der DDR. Er hat noch nie davon gehört und das Schild ist ihm bis zu diesem Hinweis von mir unbekannt. Ob ich ihm nicht „50 Cent für eine Tasse geben“ könne, fragt er sehr ruhig. Der Mann lebe im „betreuten Wohnen“, und „gestern Abend musste ich beim Pfarrer was essen“. Ich suche Hartgeld. „Du kannst mir auch nen Euro geben.“ In Berlin geduzt zu werden ist nicht unüblich. Er bekommt einen Euro auf die Kralle. So wird das an der Spree gesagt. „Danke, mein Kleener.“ Er ist fort über die Ehrenfelsstraße.
Havanna Bar

„Am 2. Mai gegen 15 Uhr war der Gegner endgültig erledigt. Die Überreste der Berliner Garnison – mehr als 70.000 Mann, die Verwundeten nicht mitgerechnet – ergaben sich.“ So Marschall der Sowjetunion Georgi K. Schukow in seinen „Erinnerungen und Gedanken.“ Erschienen 1969 in der Deutschen Verlags Anstalt Stuttgart.

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