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Dezember 2005

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Unverhoffte Freundlichkeit

Dezember. Die uniformierte Frau in der S-Bahnkartenverkaufsstelle des Bahnhofs Friedrichshagen telefoniert. Mit Sicherheit privat, denn sie lacht wiederholt ausgelassen. Sie drückt den Hörer auf die Schulter und schaut mich unwillig an. Ich möchte eine Umweltkarte kaufen. Damit kein Missverständnis entstehen kann, zeige ich ihr die alte vom November. „Auf der können Sie noch einen Tag bis Null Uhr fahren.“ Eine unerwartete Freundlichkeit. Ich möchte aber am nächsten Morgen nicht wieder hier stehen und erkläre, sie nun kaufen zu wollen. „Aber die gilt doch noch einen Tag.“ Ich habe das Gefühl, sie will die 49,50 Euro nicht. Bis ich begreife – sie möchte weiter telefonieren, und ich störte.

 

„Trotzdem: Alles Gute“

Dezember. Die Karl-Marx-Straße in Neukölln gilt als eine Gegend mit viel Armut. Der von Marx beschriebene Niedergang des Kapitalismus ist partiell zu sehen: Nach 53 Jahren schließt zu Weihnachten das letzte Kaufhaus namens Hertie, über 100 Beschäftigte verlieren ihren Arbeitsplatz. Mit riesigen rotweiß beschrifteten Plakaten wird zum Ausverkauf geworben. Rabatte bis zu 70 Prozent werden versprochen. Im Kaufhaus das Bild des Abbruchs: Regale, die überwiegend ausgeräumt sind, Kunden suchen im letzten Angebot wie Ameisen. Viele fahren hektisch mit den Händen durch lieblos aufgehäufte Waren. Die meisten Kassen sind schon geschlossen, auch wohl weil einige Angestellte ihre Resturlaube nehmen. Frauen mit Kopftüchern und knöchellangen Mänteln und plärrenden Kindern an der Seite suchen nach Schnäppchen. Auf Bücher in einem Wühltisch gibt es 70 Prozent Preisnachlass. Es sind derart uninteressante Titel, die meisten wären auch dann liegen geblieben, wenn sie kostenlos mitgenommen werden könnten. In dem Kaufhaus darf fotografiert werden. Das ist ansonsten unerwünscht. In der Endzeitstimmung interessiert es keinen Angestellten, was abgebildet wird. Eine Konkurrenz kann keinen Vorteil mehr davon haben. Doch eine Kundin mit Kopftuch radebrecht, sie möchte nicht fotografiert werden. Wahrheitsgemäß antworte ich, sie sei nicht auf dem Bild. „Aber Sie haben doch fotografiert.“ Sie bekommt die Antwort: „Aber nicht Sie, ich kenne Ihre Rechte am eigenen Bild.“ Sie bleibt misstrauisch. Einige Verkäuferinnen streifen in ihrer Mittagspause durch die Regale. Die Cafeteria von Hertie an der Karl-Marx-Straße, die früher Presse-Café hieß, ist schon abgebaut. Die riesige leere Fläche gähnt den Menschen entgegen. Eine aus Südeuropa stammende Angestellte hat rabattierte Lebensmittel gekauft. Sie zahlt an der Kasse einem Kollegen den nun geringen Betrag. Er sagt: „Trotzdem: Alles Gute.“ Sie nickt nur.

Hertie 1

Hertie 2

Der heiße Reifen

Dezember. Es entsteht in dem Bus 240 mit dem Ziel S-Bahnhof Storkower Straße der Eindruck, sein Fahrer sei unter Zeitdruck. Er fährt recht forsch durch einige Bezirke. Hinter dem Boxhagener Platz erhebt sich während der Fahrt eine dralle ältere Frau, will schon in Richtung Ausstiegstür gehen, plötzlich schlägt sie zwischen den Sitzen rücklings zu Boden. Zunächst rührt sie sich nicht. Eine Ohnmacht? Den Fahrer rührt die Frau nicht, er braust weiter. Eine junge Mutter verlässt ihren Kinderwagenstandplatz im Bus und läuft vor mir zu der am Boden Liegenden. Die rundliche Frau liegt wie ein Käfer auf dem Rücken und versucht wie so einer mit hilflosen Bewegungen auf die Seite zu kommen. Endlich hält der Fahrer an. Die Mutter und ich hieven den Fahrgast hoch. Der Busfahrer schaut von seinem Sitz aus zu. Sie habe sich festhalten wollen, sagt die blasse Frau, deren gefüllte Plastiktüten ich auf einen leeren Sitz stelle. „Sie fahren aber einen verdammt heißen Reifen“, rügt die junge Mutter den Fahrer. „So“, antwortet er und gibt wieder Gas, als fahre er einen Porsche. Vielleicht träumt er von einem. Wie bei der BVG üblich, entschuldigt er sich nicht.

 

Palast in Asbest

Dezember. „... der Palast der Republik war ein monumentales Zitat. Hier war alles, wie es sein sollte“, schreibt Jutta Voigt in ihrem brillant verfassten Buch „Der Geschmack des Ostens“. Es wurde verlegt bei Kiepenheuer in Leipzig. „Auf dem Territorium des Volkspalastes war die Idee zur materiellen Gewalt, das Ideal vom Arbeiter-und-Bauern-Staat Wirklichkeit geworden. Täglich kehrten zwischen sechs- und zehntausend Gäste im Palast ein. Hier fanden großartige Olympiabälle, ruhmreiche Parteitage, langweilige Volkskammersitzungen und die 750-Jahr-Feier von Berlin statt. Das Haus des Volkes ist das teuerste Bauwerk in der Geschichte der Republik gewesen, eine gigantische Gönnergeste. Nicht nur der Bau kostete ein Wahnsinnsgeld, auch sein Unterhalt. Das Wort Mangelware existierte dort nicht. Es gab Südfrüchte, Saale-Unstrut-Weine, Schweinefilets, Tomaten, Bananen und Wernesgrüner Bier. Es gab freundliche Kellner, niedrige Preise, genügend Telefone und den Frühlingsball ‚Knospenknall‘. Alle Blütenträume waren gereift. Unter künstlicher Sonne. Der Palast war ein Geschenk des schlechten Gewissens. Der Ausgleich für Intershops, Delikat-Läden, Genex-Unternehmen und die Mauer.“ Was Jutta Voigt nicht schrieb - und mit Asbest verseucht. Er wurde nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR deshalb entkernt. Der Palast der Republik blieb als Ruine im Zentrum Berlins stehen, direkt dem Dom gegenüber. Seine metallene Außenverkleidung rostet. Wegen seiner üppigen Beleuchtung in den vielen Sälen nannten die Berliner ihn auch Erichs Lampenbude. Es gab in dem Restbau noch einige Kunstausstellungen, aber seine Standzeit ist endlich – der Palast der Republik wird 2006 abgerissen. Gegen den Abriss wurden bisher überwiegend im Ostteil 10.000 Unterschriften gesammelt. Im Bereich Mitte hängen über Straßen gespannte Transparente: „Der Palast bleibt.“ Erst im Jahr 2012 soll an seiner Stelle ein Nachbau des einstigen Berliner Schlosses hochgezogen werden, das heißt: sechs Jahre eine Brache im Zentrum der Hauptstadt.

 

Es kommen immer mehr

Dezember. „Der Boom beim Berlin-Tourismus hält an. Im Oktober wurden 616.000 Gäste gezählt, neun Prozent mehr als im Vorjahresmonat... Sie buchten 1,44 Millionen Übernachtungen (plus 11 Prozent). Rund 424.000 Besucher kamen aus dem Inland (plus vier Prozent), 192.000 Gäste aus dem Ausland (plus 21 Prozent). Die internationalen Besucher buchten 495.000 Übernachtungen (plus 20 Prozent)“, meldet die „Berliner Zeitung“ am 9. Dezember. Am selben Tag schreibt die „Süddeutsche Zeitung“: „Für viele ist Berlin heute die faszinierendste Stadt Deutschlands. Faszinierend sind die Widersprüche der Metropole, der rasante Wandel, die Unstimmigkeiten und die historischen Brüche, deren Spuren Besuchern überall begegnen. Diese Widersprüche haben durchaus ihre ökonomische Komponente. Berlin ist eine Metropole mit einer hochmodernen, glänzenden Fassade, die Stadt selbst ist aber praktisch pleite, es ist eine Stadt der Kultur, nicht der Wirtschaft – und sie weiß nicht mehr, wie sie ihre Kultur finanzieren soll.“

 

Verwandte „polizeibekannt“

Dezember. Einer Lokalzeitung berichtete der katholische Kreuzberger Pfarrer Olaf Polossek vom kirchlichen Leben in einem Kiez mit 40 Prozent Immigranten und 30 Prozent Hartz-IV-Empfängern: Bei drei Taufen war der erste Täufling Sohn einer esoterisch angehauchten Jüdin und eines konfessionslosen Theaterregisseurs, der zweite hatte einen afrikanischen Muslim als Vater und eine bayerische Katholikin als Mutter, und die Verwandten des dritten waren „polizeibekannt“. Die burgähnlich gebaute Kirche St. Marien-Liebfrauen liegt an der Wrangelstraße. KircheDie ist benannt nach dem Generalfeldmarschall aus dem vorvergangenen Jahrhundert. An den Nachmittagen gibt es für Obdachlose ein warmes Essen, auf einem Aushang an der Kirchenwand heißt es, dass zwischen dem 1. November und März „Notübernachtungen“ möglich sind. Der Kiez, einst bildete er die letzten Meter von Westberlin an der Mauer zum Bezirk Treptow, ist kein Anziehungspunkt für Touristen. In der Kita der Kirchengemeinde lärmen deutsche, türkische, indische, vietnamesische, afrikanische, arabische, polnische und iranische Kinder. Auf dem Bürgersteig gegenüber der Kirche schiebt eine altersgebeugte Frau ihren Rollator an den kleinen Läden vorbei. Sie kennt die meisten Menschen in der Wrangelstraße, denn auch in der Winterkälte findet sie nach wenigen Metern jeweils Zeit für ein Gespräch. Meist sind es in knöchellange Mäntel gekleidete Türkinnen mit Kopftüchern. Besonders die Kopftuchträgerinnen schauen misstrauisch, wird ein Fotoapparat ans Auge gehoben. Die Gebrechliche und eine junge Frau stehen vor „Fisch Schmidt“ und reden über die Gesundheit der Älteren. Das unscheinbar wirkende Fischgeschäft mit wenigen Auslagen im Schaufenster gilt in der Gourmetszene als Toppadresse. „Fisch Schmidt“ liefert fast täglich frische Ware aus dem Mittelmeer, heißt es in Fachblättern. Einige Meter weiter hält sich ein Schreibwarenladen, der als Filmkulisse für die fünfziger Jahre dienen könnte. Wer Lokale eröffnete, hat in dieser Straße weniger Glück, denn Aufgaben nach wenigen Monaten sind die Regel. Lange schon hält sich ein Bäckerei-Café mit gemischtem Publikum und einem Zeitungsangebot, das in der Cafészene Berlins keinen Vergleich scheuen muss. Bäckereien, türkische Frisöre, Bioläden, Obstgeschäfte, Lottoannahme, ein Miniladen der Kette Kaiser’s, Zeitschriftenbuden sowie Imbissbüdchen flankieren die Wrangelstraße. In den meisten kleinen Cafés und einer Art von Teestuben sitzen nur Männer. Die Frauen belegen, dass in diesem Kiez noch viele Gespräche auf der Straße geführt werden; selbst bei kaltem Winterwetter. Hundert Meter von der Wrangelstraße entfernt liegt der Bahnhof Schlesisches Tor. Vor über 100 Jahren siedelten sich in diesem Teil Berlins die Arbeiter aus Schlesien an, denn die im industriellen Aufbruch befindliche Hauptstadt brauchte sie. Zur anderen Seite endet der Kiez nach ebenfalls 100 Metern am Landwehrkanal, der einst die innerstädtische Grenze zwischen Ost- und Westberlin bildete. Parallel zu ihm verläuft mit schnellem Wasserlauf ein Flutgraben Richtung Spree. Hinter ihm liegt eine Grünfläche, sie war vor 16 Jahren noch das Schussfeld. Um den verbliebenen Beobachtungsturm auf dem Grenzgebiet zum Bezirk Treptow-Köpenick läuft neugierig ein Tourist. Dieses Bauwerk aus der Zeit der gespaltenen Stadt fotografiert er aus fast jeder Perspektive. Auch in der Gegenwart wirkt der Park wie eine Grenze – die Menschen im Bereich der Kreuzberger Wrangelstraße verlassen ihren Kiez fast nie in diese Richtung, denn Immigranten fühlen sich im Ostteil nicht wohl, manchmal nicht einmal sicher. 

Kreuzberg - Cuvrystraße

Der Abstellbahnhof

Dezember. Nur auf dem ersten Bahnsteig des Bahnhofs Lichtenberg ist Andrang, denn von hier fahren die S-Bahnen in die Plattenbaugebiete von Marzahn und Ahrensfelde und in die City. Die weiteren vielen Bahnsteige sind verwaist. Dort steht kein Reisender, auf den Abfahrttafeln sind keine Angaben, wie symbolisch steht auf einem Abstellgleis ein einst moderner Gliederzug. Im Westen fuhr er in den sechziger Jahren als TEE, bei der Reichsbahn war er Regierungszug. Was vor Jahrzehnten als supermodern bewundert wurde, bekommt nun Aufmerksamkeit als Museumszug. Von Lichtenberg fuhren in der DDR die Züge in den Ostblock mit Anschlüssen an die Transsib, auch die wenigen Reisen nach Schweden begannen hier. Seit dem Fahrplanwechsel im Dezember ist die bis dahin eine Abfahrt nach Göteburg auch gestrichen. In die so genannte weite Welt fährt mittags ein Zug, nach Moskau. Ins nahe polnische Küstrin startet alle zwei Stunden ein Triebwagen. Überwiegend erreicht der Fahrgast von hier nur einige Käffer Brandenburgs. Um 21.48 Uhr kommt noch einmal ein Hauch von Fernweh auf, dann startet ein Zug mit dem Ziel Kiew, daran sind Kurswagen nach Odessa, Kaliningrad, Doneck und Krakau gehängt. Die Bahngesellschaft Connex setzt abends von Berlin-Lichtenberg zwei Züge ein: Einmal mit dem Ziel Dresden-Neustadt, der zweite fährt über Plauen bis ins bayerische Hof. Vor 15 Jahren strömten die Reisenden in Massen durch die Unterführungen zu den Zügen. Das Bahnhofsgebäude wirkte provinziell, bis auf einen Zeitungskiosk und den verschmutzten Imbissbereich war das Wort Service wie in der gerade verblichenen DDR unbekannt. Anderthalb Jahrzehnte später ist das Bahnhofsgebäude lichthell und gepflegt, es gibt Lebensmittelläden, Imbissangebote, Blumengeschäfte, Parfümerien, Andenkenläden, aber kaum noch Kunden. Das Verkaufspersonal langweilt sich. Ebenso gelangweilt lehnen vor dem Gebäude Fahrer an ihren Taxis. Ein Hotel gegenüber wurde vor wenigen Jahren renoviert. Wohl wegen des kaum frequentierten Bahnhofs Berlin-Lichtenberg sind die Übernachtungspreise günstig. Daneben stehen einige Alkoholkranke und betrachten friedlich die wenigen Reisenden.

In der Irenenstraße dem Bahnhof gegenüber wird in dem Restaurant „THAI ANH“ ein Mittagsgericht für 5,90 Euro angeboten. Der schmale thailändische Wirt ist berlinisiert, er grüßt den eintretenden Gast nicht. Das ist insbesondere im Ostteil lokaler Standard. Wortlos legt er dem Gast die Speisekarte auf den Tisch; ebenso ohne auch nur ein gefrorenes Lächeln zu zeigen, stellt er seinem Gast das intensiv duftende Gericht auf den Tisch. Das Mineralwasser zu 1,55 Euro wird nicht ins Glas geschüttet. Der Gast bekommt das Gefühl, froh sein zu müssen, dass ihm Essen und Getränke serviert wurden. Erschreckt wäre er gewesen, hätte der Wirt gefragt, ob es geschmeckt habe. Es sind wenige Gäste in dem Lokal. Die Gegend um den Bahnhof Lichtenberg gehört nicht zu den bevorzugten. Der Berliner Wirt aus Thailand bekommt 1,05 Euro Trinkgeld, er sagt erstmals was, nämlich „danke“. Und danach sogar „auf Wiedersehen“.

 

Zitate

„Mein Lebensmittelpunkt ist Berlin. Wenn Sie hier arbeiten, müssen Sie voll eintauchen. Eine tolle Stadt ...“ Roger Köppel, Schweizer, Chefredakteur „Die Welt“.

Paris Bar

„Berlin arbeitet, früher hat uns der Bund das Geld gegeben, heute müssen wir selbst früh aufstehen.“ Der nur Nohal genannte Mitbesitzer der berühmten „Paris Bar“ über den Grund, warum es weniger Nachtleben gibt und das Lokal Insolvenz anmeldete. Hubert Fichte nannte es „die beste Bar der Welt“. Gerhard Schröder saß gern darin und plauderte. Gäste der „Paris Bar“ waren Jack Nicholson, Claudia Schiffer, David Bowie, Madonna; doch Otto Sander, Götz George und Otto Schily sehen sich sogar als Stammgäste.

Innenministerium

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