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Juli 2005

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Schock über Berliner Alltagskultur

Juli. Für die Rückreise von einer Radtour durch Kleinstädte zwischen Osnabrück und Braunschweig nutze ich auf der Reststrecke nach Berlin die Bahn. Bei der Heimkehr werde ich mit einer eigenartigen Kultur dieser Stadt konfrontiert. Der Regionalexpress hält erstmals am Wannsee auf Berliner Boden. Wie Heuschrecken stürmen die Menschen in den Waggon, viele mit starrem, gierigem Blick auf die freien Plätze. Es wirkt wie Ringkämpfe im Laufen, wenn sie sich gegenseitig wegdrücken. Das geschieht ohne erkennbare Körperverletzung. In Berlin sind die Waggons der S- und U-Bahnen durchweg Speisewagen: Die Fahrgäste bringen ihr Essen mit und fressen ungeniert: Brote, Fast Food, warmes Essen in Behältern, Nachtisch dazu, Bratwürste, deren Brutzeln gerade abklingt, so mancher wohl wohlige Rülpser wird unterdrückt; jedoch nicht immer. Mir gegenüber sitzt eine Frau. Aus einer Zellophantüte windet sie umständlich ein Brötchen, hier Schrippe genannt. Hiernach nestelt sie ein Klappmesser aus einer Tasche und beginnt, damit das Brötchen zu teilen. Aus der durchsichtigen Tüte kramt sie eine rötliche Braunschweiger Wurst hervor und bestreicht die Schrippenhälften. Mit einem für alle erkennbaren Genuss frisst sie in der Bahn, die ich mit meinem Fahrrad wie befreit am Ostbahnhof verlasse. Beide Hände noch am Lenkrad, werde ich auf dem Bahnsteig von einer Frau angebettelt. Die Art des Ansprechens nennt die Polizei aggressives Betteln.

BioEisDiele

Eine Eisdiele an der Ecke

Juli. Die Reichenberger Straße in Kreuzberg, nahe Neukölln, ist ein weniger attraktives Wohngebiet. Einige Kneipen, sogar kleine Lebensmittelläden und Getränkehändler gibt es an ihr. Wo sie abknickt, wird „Bio-Eis“ angeboten. Vor dem Lädchen sind zwei metallene Tische platziert. Ihnen gegenüber befindet sich eine Hauswand mit einem Plakat daran, darauf eine überdimensionale Angela Merkel. Das Gesicht ist nach dem Wurf eines Farbbeutels verunreinigt. Die Eisdiele: Eine Mischung aus Resten eines kleinen Tante-Emma-Ladens mit Brot im Angebot, Marmeladen und wenigen Dingen des täglichen Bedarfs. Es reicht darin nur für einen Tisch. Das Eis sei „aus Naturprodukten“, versichert eine schlanke junge Frau hinter der Theke. An ihr gemessen macht Bio-Eis nicht dick. Die Verkäuferin erklärt ausführlich, aber keineswegs aufdringlich oder missionarisch weiter die Zusammensetzung des Bio-Eises. Danach fragt sie fast schüchtern: „Wollen Sie mal was probieren?“. Drei Ballen suche ich aus. Ich sitze an dem Tisch im Laden, vorn auf dem Bürgersteig hockt ein junger Mann. Er liest die „taz“ und trinkt aus einer Tasse Kaffee. Die Frau hinter der Theke verzieht sich nicht in ihr kleines Kabuff im hinteren Bereich, mit verschränkten Armen steht sie im Laden und betrachtet den Gast. Sie will nicht nur wissen, ob das Eis gut ist, die Schlanke möchte sich auch unterhalten. Ungewöhnlich für die Berliner Gastronomie. Sie hat zwar keine Schadenfreude wegen des bekleckerten Bildes der Merkel gegenüber an der Hauswand, aber sie hält nichts von der. Die mir das Eis servierte ist Studentin, stammt aus Schwenningen-Villingen „im Schwarzwald“. Sie muss sich was dazu verdienen und kritisiert die Union, weil das Bafög abgeschafft werden soll. Ihr Schweizer Freund lebt in Basel. Das alles erfahre ich, weil sie unberlinerisch freundlich gestimmt ist. Auch wenn die junge Frau nicht so kommunikativ wäre, das Eis in dieser touristenfreie Zone ist zu empfehlen.

Merkel-Plakat in Kreuzberg

Bemühungen um Uhrenarmband

Juli. Das lederne Band um die Armbanduhr ist nach zwei Jahren Gebrauch zerfleddert. Es hat eine Lederumfassung, darin befindet sich Pappe. Außen hui, innen pfui. Eine Reparatur sollte bei Wertheim am Kurfürstendamm vorgenommen werden. Am dortigen Reparatur-Schalter steht ein Schild: „Mittagspause.“ Ich frage einen freundlichen Verkäufer, ob überhaupt was zu machen sei. Es müsste von der Firma ein „Lederarmband“ bestellt werden. Anzahlung zehn Euro. Bei Lieferung würde ich angerufen. Am 26. Juli suche ich das Kaufhaus Wertheim auf. Eine Frau sucht und sucht, es sei noch nicht geliefert worden. „Normalerweise dauert das eine Woche.“ Drei Stunden später in meiner Wohnung höre ich auf dem so genannten Anrufbeantworter: Wertheim meldete, das Armband ist eingetroffen. Am Tag danach, 27. Juli, stehe ich erneut dort. Eine Verkäuferin rechnet erst einmal ab: Insgesamt soll das Armband mit Pappe im Innern 25,95 Euro kosten. Im Angebot ist die Uhr bei denen für 119 Euro. Sie vergleicht die Nummer meiner Bescheinigung mit einem Fund in Cellophan, der muss es sein. In dem Moment ruft der Mann an der Reparatur: „Ich mache jetzt Mittagspause.“ Wer schraubt mir das nun an? Ein Verkäufer sagt, er werde es versuchen. Das Armband unter meiner Bestellnummer ist zu schmal. Drei andere der Firma sind es ebenfalls. „Wir werden das reklamieren. Dann rufen wir sie an.“ Ich stecke die Armbanduhr in die Hosentasche. Bisher war ich drei Mal dort, bezahlte 25,95 Euro und für jede Fahrt in die City jeweils vier, demnach waren zwölf dazuzurechnen. Ich überlegte kurz, mir eine neue Uhr zu kaufen. Aber dann bekäme ich das fehlinvestierte Geld wohl nicht zurück.

 

Kirmes nach dem Kalten Krieg

Juli. Weil die Alliierten 1945 die Übergänge innerhalb der Viersektorenstadt Berlin nach dem Alphabet ordneten, bekam C den Namen Checkpoint Charlie. Er blieb in der heißen Phase des Kalten Krieges als Übergang allein Diplomaten und Militärs vorbehalten. Wo früher mal US-Panzer gegen sowjetische auffuhren, herrscht Touristenrummel. Am Checkpoint Charlie wäre der 3. Weltkrieg ausgebrochen, hätte ein Panzerkommandant die Nerven verloren und auf den Gegner geschossen. Die Kampfmaschinen der beiden Weltmächte standen sich schussbereit nur wenige handbreit voneinander entfernt gegenüber. Nun werden dort bunte Ansichtskarten verkauft, überwiegend russische Händler bieten Devotionalien der „ruhmreichen Roten Armee“ an, sie werden überwiegend so unecht sein wie die vielen kleinen Mauerreste. Der Spielzeugtrabant kommt inzwischen aus Taiwan. Frühere Geschäfte in dem einstigen toten Winkel von Westberlin wurden geschlossen, Pommesläden und Imbissstände ersetzten sie. Lärmend und wenig interessiert belegen Schulklassen die historische Stätte. Über dem Checkpoint Charlie hängt ein überlebensgroßes Porträt eines Rotarmisten. Das dort aufgestellte Wachhaus der Westalliierten ist auch nicht echt. Gelegentlich bauen sich Studenten in Uniformen davor auf. Als Schauspielschüler sich für einen Euro in der Uniform der Roten Armee fotografieren ließen, ging die Inhaberin des benachbarten Mauermuseums dagegen vor, wohl aus Konkurrenzgründen. Das Mauermuseum, eine Rumpelkammer mit Utensilien der Teilung, wird kommerziell betrieben. Die Besitzerin Alexandra Hildebrandt gilt als geschäftstüchtig und resolut im Umgang mit Angestellten des Museums. Sie hat diese Goldgrube geerbt. Ihr Mann, ein engagierter Kämpfer gegen die DDR, baute das Museum nach dem Zusammenbruch des Staates der Arbeiter und Bauern auf. Das Geschäft läuft. Das Mauermuseum soll von bisher 2000 qm auf 4000 qm vergrößert werden. Für die Erweiterung dieser Historienkammer kaufte Alexandra Hildebrandt ein Haus an der Friedrichstraße. Der Checkpoint Charlie durchschnitt die Friedrichstraße, die es in West- und Ostberlin gab. Neben ihrer Verkaufsstelle Mauermuseum ließ vor einem Jahr Frau Hildebrandt für jeden getöteten Flüchtling ein Kreuz aufstellen. Touristen in kurzen Hosen und sich im Spiel jagende Schulkinder fotografierten sich zwischen den Kreuzen. Davor verkauften Händler Orden der Roten Armee. Per Gericht wurde diese Show untersagt, weil das Gelände einer Bank gehörte und Alexandra Hildebrandt illegal die Kreuze hatte aufstellen lassen. Polizei musste das Urteil umsetzen und die Kreuze aus der Kommerzzone entfernen.

 

Erkenntnisse eines Schuhputzers

Juli. In diesem Monat verzeichnete die Hauptstadt einen Rekord an Touristen. Von dem Trend der Deutschen, Städtereisen zu bevorzugen, profitierte das Hotelgewerbe. Anders sieht es der Schuhputzer im Europa-Center nahe dem Bahnhof Zoo. Der 70jährige Ahmet Tecimen macht im Sommer keine guten Umsätze: „Die Leute tragen leichte Schuhe oder sind barfuß unterwegs“, vertraute er zwei Lokalredakteuren an. Seine Philosophie: „Die Deutschen lernen es sowieso nicht, ihre Schuhe pfleglich zu behandeln. Viele Kunden tragen ohnehin lieber Turnschuhe. Mit denen gehen sie aber in der Regel nicht zum Schuhputzer.“ Selbst ein Schuhputzer leidet unter dem Konsumklima: „In der Kneipe nebenan läuft es auch nicht so gut. Die Leute achten sehr auf ihr Geld. Sie kaufen sich lieber Bier in der Dose ...“

Touristin im Ostbahnhof

SPD ist Berliner Einheitspartei

Juli. Nur die Sozialdemokraten können in Berlin behaupten, einheitliche Zustimmung in der Hauptstadt zu finden. Forsa stellte in der Metropole vor der erneuten Namensänderung der PDS die Sonntagsfrage: Berlin ist weiterhin politisch gespalten. Die SPD würde von 28 Prozent im West- und auch im Ostteil gewählt. Die gesamte politische Konkurrenz zeigt beachtliche Ausreißer. Merkels Union bekäme im Westen 33 Prozent, in der früheren Hauptstadt der DDR aber nur 19 Punkte; nicht einmal ein Fünftel. Kohls Mädchen trauen ihre früheren Landsleute nicht viel zu. Nach PDS und WASG wurde noch getrennt gefragt. Die PDS erhielte im früheren Ostteil eine Zustimmung von 24 Prozent, also sie läge hinter der SPD, im Westteil sind es gerade mal sechs Prozent. Für ihre politische Schwester WASG stimmten hinter der früheren Mauer zehn Prozent, vor der Mauer im Westteil waren es nur vier Punkte, obwohl in einigen westlichen Bezirken die Arbeitslosigkeit höher ist als im Osten. Westerwelles FDP kam im Westen von Berlin mit sechs Punkten so eben über die Fünfprozentmarke, im Osten verfehlte sie die mit nur vier Prozent. Gut aufgestellt sind die Grünen der Hauptstadt: 16 Prozent im Westen, zwölf im Osten.

 

Die Mauer über Berlin“

Juli. Die Firma Sony schenkte Berlin ein Stück Mauer und platzierte sie als Attraktion am Potsdamer Platz. Amüsiert kommentierte dies „Der Tagesspiegel“: „Es ist eine Frage der Zeit, bis es Demonstrationen gibt unter dem Motto ‚Die Mauer muss her!‘, vorneweg die deutschen Bauarbeiter. (...) Fehlt nur noch, dass Präsident Bush am Brandenburger Tor pathetisch ruft: ‚Mister Putin, build up this wall!‘

Wie wäre es mit modernen Varianten des Trennbetons? Eine Mauer um Neukölln, als antiislamistischer Schutzwall. Eine Mauer um Zehlendorf, damit die Reichen nicht vor der Millionärssteuer flüchten. Eine Mauer zwischen Pankow und Prenzlauer Berg, weil hier zusammenwächst, was nicht zusammengehört. Und es könnte gleich ein Skandal beendet werden: Tausende Autofahrer rasen tagtäglich ohne jedes Gedenken an der alten Kontrollstelle Dreilinden vorbei. ...“

 

Geschichte wiederholt sich doch

Juli. Ein Selbstmörder stürzte sein Leichtflugzeug auf die Wiese vor dem Reichstag. Da die rot-grüne Regierung die Teilnahme von Deutschen am Irakkrieg verhinderte, wollten die politisch Schwarzen den Krieg im Innern. Abschussraketen forderte die CSU, die CDU verlangte Kampfhubschrauber, der Luftraum über der Hauptstadt wurde für Privatflieger gesperrt. Anschläge in London hatten das Echo hier, Berlin polizeilich zu einer Festung auszubauen. Geschichte wiederholt sich. Der Schriftsteller Ludwig Pietsch (1824 – 1911) über die polizeiliche Stimmung in Berlin vor 156 Jahren: „Das Tragen eines Schlapphutes als Kopfbedeckung genügte schon, um jeden Mann verdächtig zu machen. Ein harmloses rotes Band auf dem Strohhut, am Kleide oder um den Hals eines weiblichen Wesens erhob die Trägerin zu einem des scharfen Beobachtens und Verfolgens werten Gegenstandes für jeden Schutzmann. – Ich hatte einmal in den Nachmittagsstunden auf dem Schlossplatz auf meine Frau gewartet, die eine Besorgung in dem Eckhause der Breiten Straße zu machen hatte. Ihr Aufenthalt drinnen zog sich wohl eine Viertelstunde lang hin. Währenddessen ging ich längs des Schlosses auf und ab. Plötzlich sah ich mich von einem Schutzmann in dem bekannten Ton angesprochen: Was ich hier zu suchen hätte? ‚Ich warte auf meine Frau.‘ Das könne jeder sagen; augenblicklich mit zur Wache. Bald war eine rasch anwachsende Menschenschar um uns versammelt, und von diesem Gefolge begleitet, ging es zwischen zwei Schutzmännern ... bis zum Spittelmarkt zum dortigen Polizei-Wachlokal. Ich gab dem mich inquirierenden Wachtmeister meine Wohnung an und das Haus, in dem meine Frau sich befand. Aber man hielt mich wohl dreiviertel Stunden lang fest, bis die nach dort und dorthin abgeschickten Boten mit der Bestätigung der Richtigkeit meiner Aussagen zurückkehrten.“

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