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März 2005

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Dialog vor der Imbissbude

März. Der Heinrichplatz in Kreuzberg wird am runden Rand von Szenelokalen umkränzt. In seiner Mitte kreuzen sich zwei Straßen. Hier hält der Bus Richtung City. Der Haltestelle gegenüber steht in der europäischen Imbissbudenmetropole – eine Imbissbude.Kiosk auf dem Heinrichplatz Ihr Angebot wird über den Heinrichplatz hinaus gelobt. In der kalten ersten Märzwoche sind die Tischchen davor mit einer Art spanischer Wand vor den bissigen Winden geschützt. Ein Gerippe aus Holz trägt farbige Planen, Farbkleckse im grauen Winter. Ich will dieses Häuschen fotografieren. Gerade habe ich die Kamera ans Auge gesetzt, wird die Tür der Bude aufgerissen. Eine attraktive Frau droht mit dem Finger und ruft mir zu, ich dürfte nicht fotografieren. „Daran können Sie mich nicht hindern.“ Sie sieht mich irritiert an. „Jedes öffentliche Gebäude darf ich fotografieren. Schon mal was von unserem Grundgesetz gehört?“ Vielleicht. Sie hat mich zumindest akustisch verstanden und schließt von innen die Tür.

Im Ostteil einige Zeit vorher war die Situation gefährlicher. An der Bölschestraße hatte ich das alte Haus eines Zeitschriftenhändlers fotografiert, in der Annahme, es werde bald restauriert. Dann hätte ich eine Fotostudie von vorher und nachher. Am anderen Tag wollte ich den „Spiegel“ kaufen. Der Inhaber kam aus einem Kabuff und schnauzte: „Du hast gestern mein Haus fotografiert.“ Weil im Streitfall viele Berliner den anderen duzen, überhörte ich die Anrede und gab Auskunft, warum ich es fotografiert hatte. „Du hast mich zu fragen, du machst von meinem Haus keine Fotos.“ Das war zu viel. Dem Zeitschriften“händler“ widersprach ich als Kunde, jedes Haus an jeder Straße könne ich aufnehmen. Sein Haus aber nicht, polterte er. „Doch, in der Öffentlichkeit kann ich fotografieren, was ich will. Das Grundgesetz gibt mir die Freiheit.“ Er wird lauter, ich könnte als Leiche den Laden verlassen. „Dein Grundgesetz kannst du dir in den Arsch stecken.“ Seitdem kaufe ich nichts mehr dort. Sollte er das Haus aufpolieren lassen, werde ich es fotografieren.

 

Ein Bahnhof steht aus Gewohnheit

März. „Böse Zungen behaupten, dass das Ostkreuz nur noch aus Gewohnheit steht“, berichtete die „Berliner Zeitung“. OstkreuzUnd sie orakelt: „Doch allzu lange wird sich dieses Konzept wohl nicht mehr bewähren.“ Rostkreuz nennen die Bewohner den S-Bahn-Knotenpunkt Ostkreuz. Bis zum Fahrplanwechsel 2004 wurde auch der Fernverkehr zum Bahnhof Lichtenberg über das Ostkreuz geführt. Zuletzt schlichen die Züge über die morbiden Brücken. Die Schienen haben inzwischen Rost angesetzt. Vor über 120 Jahren, 1882, hielt erstmals ein Zug in Stralau-Rummelsburg, wie die Station bis 1933 hieß. Es wurden Bauten hinzugefügt. Ein nicht mehr benutzter Wasserturm zeigt in den Himmel. Dazwischen liegen wie angepappt an den Bahnhof einige Schrebergärten. Die Bahnsteige und die Betriebsgebäude sind inzwischen stark sanierungsbedürftig. Einige Treppen zu höher gelegenen Bahnsteigen wurden im März gesperrt. Wer den obersten Bahnsteig für die Züge Richtung Ostbahnhof über Umwege erreicht, fühlt sich wie auf einer Brache. Die Gebäude sind geschlossen. Scheiben wurden eingeschlagen. Die Informationstafeln sind zerstört. In den Kästen mit den Abfahrtzeiten nisten Vögel. Der Blick fällt von hier auf ein großes Wohngebäude im Verfallgrau der DDR. Von den unteren Bahnsteigen steigt der Geruch von Bratbuden und Backshops hoch, manchmal auch als Gestank. Ein Gleis der Nordringkurve wird seit 2003 nicht mehr befahren. Die einstigen Industrieruinen des Ruhrgebietes wirken im Vergleich zum Berliner (R)Ostkreuz wie ein Freizeitpark. Ende 2005 sollen alle Verträge zur Sanierung des Bahnhofes unterzeichnet sein, meldet die „Berliner Zeitung“. Und dann beginnt der Wettlauf gegen den totalen Zerfall. Ossis aus den Plattenbaugebieten erinnern sich gern an den Bahnhof, denn dort gab es im Staate der Arbeiter und Bauern eine öffentliche Toilette. Es gibt sie noch immer, inzwischen ist sie saniert.

 

Bruhns in der Bahn

März. Wibke Bruhns war die erste Nachrichtensprecherin im Fernsehen. Damals beim ZDF. Wibke Bruhns startete mehrere journalistische Karrieren. Sie war zuletzt Pressesprecherin der Weltausstellung in Hannover. Ihr Buch über ihren Vater steht seit einem Jahr auf der Bestsellerliste des „Spiegel“. Das ist ein Rekord in dem schnelllebigen Buchgeschäft. Wibke Bruhns ersteigt die Treppen zum S-Bahnhof Hackescher Markt. In der DDR hieß er Marx-Engels-Platz. Sie trägt einen engen schwarzen Mantel. Es ist keine Seltenheit, auf diesem Bahnhof prominente Fahrgäste zu sehen. Der Minister Trittin wartete hier schon auf die Bahn, auch der Intendant der Volksbühne Frank Castorf. Einmal glaubte ich sogar, Klaus Zwickel, damals Vorsitzender der IG Metall, fahre mitgliederfreundlich mit der S-Bahn. Er betrat das Bahnhofsgebäude, schaute aber nur am Zeitungskiosk die Blätter durch, wohl in der Hoffnung, über ihn werde berichtet. Dann ging er zurück zu seinem Dienstwagen. Wibke Bruhns ist keine Dauerfahrerin, denn sie kauft eine Einzelfahrkarte. Die ist in Berlin für nur eine Fahrt in eine Richtung mit zwei Euro inzwischen teuer. Sie schiebt einen Zehn-Euro-Schein in den Automaten. Ich beobachte die anderen Wartenden, ob sie die Frau erkennen. Bei zwei Asiatinnen schließe ich es sofort aus. Sie sehen aus wie Bildungstouristinnen. Bei keinem Menschen sehe ich, dass er sie kennt. Wibke Bruhns kann den Fahrschein nicht entwerten. Das Gerät reagiert nicht. Sie versucht es erfolgreich auf der anderen Seite des Entwerters. Aber sie kommt herum und betrachtet genau die defekte Seite. Sie will wohl als Journalistin wissen, warum es nicht klappte. Die Menschen warten auf die S-Bahn Richtung Wannsee. Wibke Bruhns steigt in den letzten Wagen. Ich komme hinter ihr hinein. Keiner schaut die Frau interessiert an. Auf der Fahrt in den Westteil liest sie in einem Buch. Sic transit gloria mundi.

 

Meinungsäußerung
im „Schutze der Nacht“

März. Die Vorsitzende der SPD von Berlin-Friedrichshagen fand in ihrem Briefkasten eine Meinungsäußerung. Die war auf der Rückseite eines Flugblattes geschrieben und in der Dunkelheit der Nacht durch den Briefschlitz geschoben: „SPD – Sozial – der soziale Untergang. Nie wieder SPD. SPD sind die Hänker (sic!) des deutschen Staates. Verbrecher.“

 

Kurzer Dialog in der S-Bahn

März. Die S-Bahn der Linie 3 Richtung Erkner verlässt den Ostbahnhof. Eine Bank von mir entfernt sitzt in Fahrtrichtung ein asiatisch aussehender Mann. Ihm gegenüber platziert sich ein Tourist, dekoriert mit einer Basketballmütze und darauf Aufschriften in englischer Sprache. Er spricht den Mitfahrer auf Englisch an. Der zeigt sich verständnislos. Dann versucht es der Tourist auf Französisch. „Verstehen Sie deutsch“, fragt er im dritten Versuch. Die Antwort seines Gegenübers: „Ja, ich bin Deutscher.“

 

Möbel vom Müllwerker

März. Was Berliner in den Müll werfen, halten Müllmänner oft nicht für reif dazu. So manches alte Möbelstück, seit Jahren gebrauchtes Porzellan und Bücher übergeben sie nicht den Müllbergen. Es wird herausgefischt und angeboten, gegen geringe Gebühren „verkooft“, wie es in der Hauptstadt ausgesprochen wird. Die BSR – Berliner Stadtreinigung – unterhält mehrere Verkaufslager. Das wohl umfangreichste liegt zwischen Ostbahnhof und S-Bahnstation Jannowitzbrücke in einem früheren Industriegelände am rechten Ufer der Spree. Dort verlief früher die Grenze zwischen Ost- und Westberlin. Die Spree gleicht hier einem Kanal. An einer viel befahrenen breiten Straße zwischen den beiden Bahnhöfen liegt ein lang gestrecktes helles barackenähnliches Gebäude. Wer sich in dieser Gegend aufhält, ist hier nicht zufällig. Die meisten „Kunden“ sind Südeuropäer. Gezielt nähern sie sich der Anlage. So mancher junge Interessent scheint irgendwo in einem Bezirk einen Antiquitätenladen zu unterhalten; er sucht gezielt. Doch meist vergebens. In dem Gebäude riecht es muffig, die beiden Verkaufsfrauen wirken muffelig. Das ist Berliner Charme, was heißt, der Kunde wird erst dann gern gesehen, wenn er ein Geschäft verlässt. Hier kommt noch so eine Gesinnung Öffentlicher Dienst hinzu. Durch die Mitte der Halle führt ein Gang, rechts und links liegt die Müllware aus. Bei den Möbeln ist zu sehen, dass sie aus Haushalten armer Leute stammen. Gelsenkirchener Barock heißt: Aus Sperrholz sind an den Schränken Ornamente geformt. Den bietet die BSR kaum. Bottroper Barock sind ausladende meist groß geblümte Sofas oder Sessel in Traktorbreite. Die sind hier zu kaufen. Das Geschirr wurde einst arg gebraucht, es stammt aus den fünfziger Jahren. Die Wohnungen der Aufbaugeneration werden aufgelöst! In einem Raum sind Bücher im Angebot. Taschenbücher zu 50 Cent, Hardcover für einen Euro, Bildbände werden für zwei Euro verscherbelt. Auch die fehlfarben wirkenden aus der DDR. Der Wert des einstigen Nationalpreisträgers der DDR, Hermann Kant, insbesondere durch „Die Aula“ bekannt, ist arg gefallen. Dessen Romane, als gebundene Bücher im Angebot, gehen vorn für 50 Cent über die Theke. 

BSR-Verkaufsstelle

Mittwoch in der Metropole

März. „Aus Sicherheitsgründen bitten wir Sie, Ihren Ausweis vorzulegen.“ Die Sozialdemokraten luden ein in ihre Zentrale. Dort soll über das neue Parteiprogramm diskutiert werden. Es regnet. Die Eingeladenen hasten in das Haus. Vor einer Drehtür entsteht ein Stau. Durch die kommt der Interessent noch ohne Kontrolle. Hinter brusthohen Terminals sitzen cool wirkende Frauen, die jeweils die Daten aus dem Ausweis in ihren PC geben. Aus Daffke decke ich das Geburtsdatum mit dem Daumen ab. Eine lächelt dünn. „Es interessiert nur das Foto.“ Die Sicherheitsschleuse ist durchschritten. Ein gläserner Aufzug surrt in die fünfte Etage. Bei den Sozialdemokraten müssen Getränke und Brötchen von den Gästen bezahlt werden. Eine Tasse lauwarmer Kaffee kostet 1.50 Euro. Reinhard Klimmt, Ex-Ministerpräsident aus dem Saarland, Ex-Bundesminister für Verkehr, immer noch aktiv beim 1. FC Saarbrücken, tänzelt freundlich an den Menschen vorbei. Er scheint gut drauf zu sein. Fernsehkameras werden auf Tischtücher gerichtet wegen des Weißabgleichs. Fotografen proben vor leeren Rednerpulten Einstellungen. Franz Müntefering ist offensichtlich leicht geschminkt. Die Gesichtshaut wirkt bräunlich stumpf. Sie soll bei Fernsehinterviews nicht glänzen. Deshalb wurde er damit betupft. Sein Anzug ist hochwertig. Die Rede des Vorsitzenden ist ein Potpourri durch die Tagespolitik.

Der dynamische junge Vorsitzende der Niederländischen Arbeitspartei, Wouter Bos, philosophiert in deutscher Sprache über den Sinn von Parteiprogrammen. Der Vorstand seiner Partei habe eigentlich kein neues gewollt, weil er lieber von Stunde zu Stunde entscheide. Bos hatte sich vor seiner Rede in Berlin das alte Programm der niederländischen Sozis aus den siebziger Jahren angesehen: Darin stand als Forderung die volle diplomatische Anerkennung der DDR. Gelächter im Hause. Nun habe sich der Vorstand sein Programm geschrieben. Gelächter.

Der Portugiese Antonio Guterres redet in englischer Sprache mit den Gesten eines Italieners. Die konservativ-liberale Wirtschaftsgesinnung sei ab den achtziger Jahren an fast allen Universitäten gelehrt worden, ruft er. Die Gesinnung der Ökonomen und der „Eliten“ sei brutal marktwirtschaftlich. Als er Portugals Ministerpräsident war, hätten ihm die auf den Unis getrimmten Referenten jeweils Redetexte vorgelegt, die konträr zu seiner politischen Überzeugung waren. Der lebhafte kleine Portugiese ist Präsident der Sozialistischen Internationale, somit ein Nachfolger von Willy Brandt. Franz Müntefering wird inzwischen ausgeleuchtet. Scheinwerfer sind auf sein Gesicht gerichtet. Er beantwortet in seinem sauerländischen Idiom die Fragen der Fernsehleute. Reinhard Klimmt sitzt entspannt unter den Zuhörern.

 

Am frühen Nachmittag auf der Wilmersdorfer Straße in Charlottenburg. Die Menschen hasten zu Einkäufen für die anstehenden Ostertage. Es gibt deshalb kaum Kunden in den vielen Textilläden. Ein gut gekleideter Mann tritt aus der Filiale von „Peek & Cloppenburg“, Ecke Kantstraße. Er trägt einen feinen Übergangsmantel. Plötzlich rasen aus dem Geschäft ein Mann Mitte 20 sowie eine etwa gleichaltrige Frau und stürzen sich auf den vermeintlichen Kunden. Die blonde Frau drückt ihn zu Boden und verdreht seinen Arm auf seinen Rücken. Ihr Kumpan zieht ihn hoch und hält ihn von vorn am Mantel fest. Mit kehligen Lauten ruft der im Würgegriff: „Polizei, Polizei.“ Mehrere Angestellte kommen aus der Filiale gelaufen. Sie wollen ihn zurück ins Haus führen. Gut zwei Dutzend Gaffer postieren sich am Straßenrand. Die meisten Menschen hasten weiter, viele blicken auf das Bordsteinpflaster. Nach vielleicht drei Minuten hat das Rudel den gut Gekleideten im Griff und führt ihn in ein Büro hinter den Verkaufsräumen.

 

Das Lokal „Rosalinde“ ist kurz vor der Aufbereitung des Abendbüfetts ab 17 Uhr wenig besucht. Viele Bewohner der Stadt sind im Urlaub und die Touristen kommen nicht gerade scharenweise in die Knesebeckstraße. Gelegentlich verirren sich aber einige. Ein Ehepaar mit Tochter aus Paderborn platziert sich in fröhlicher Stimmung im hinteren Bereich des Restaurants. Untypisch für klassische Westfalen: Der Mann beginnt mit dem Kellner zu scherzen. Er sei extra von Paderborn gekommen, um hier zu essen. Gelächter. Ich frage den Mann, ob denn Paderborn auch dann gewinne, wenn der Schiedsrichter Hoyzer nicht pfeife. „Dafür können wir nichts, aber Paderborn steht an der Spitze.“ Am Vortag sind die Touristen 25 Kilometer durch Berlin gelaufen, rufen sie zu meinem Tisch. Nach einiger Zeit wird klar, warum die drei Personen so unwestfälisch auftreten. Die Frau stammt aus Sachsen, ihr Mann ist auch nicht aus Paderborn, sie wohnen dort seit Jahren. Deshalb.

 

„Aus Sicherheitsgründen ist der Ausweis vorzulegen.“ Es wird im Nordeingang des Reichstages strenger kontrolliert als am Morgen bei den Sozialdemokraten. Der Mantel ist auf ein Band zu legen, die Hosentaschen sind zu leeren, dann führt der Weg durch ein Kontrolltor. Die Hände dürfen unten bleiben, ich hebe sie trotzdem. Eine Frau vom Sicherheitspersonal grinst. Jeder Besucher wird danach hinter der Sicherheitsschleuse von einer Fachkraft abgeholt und nach oben in den Bereich der Fraktionsräume geführt. Für 19 Uhr hat der Berliner Abgeordnete Swen Schulz Sozialdemokraten in den Reichstag eingeladen. Im Otto-Wels-Saal der SPD informiert Franz Thönnes über den Armutsbericht der Bundesregierung. Franz Thönnes ist Parlamentarischer Staatssekretär aus dem Raum Kiel. Er war zuvor Gewerkschaftssekretär bei der IG BCE. Das ist ihm positiv anzumerken: Er spricht Klartext, belegt die Lage anhand beeindruckender Fakten und versucht nichts schön zu reden. Aber die Fakten zeigen: Die Situation ist besser, als sie in den Medien beschrieben wurde. Es sind nur wenige Interessierte anwesend, jetzt in der Ferienzeit. In der Diskussion reden überwiegend zwei Gäste. Der eine war Gewerkschaftssekretär, der andere ist einer von der IG Metall. Seine Gewerkschaft habe in Berlin „einstimmig“ beschlossen, dass alle Sozialhilfeempfänger 100 Euro im Monat mehr erhalten. Mir schießt durch den Kopf: Ich müsste mal alle einstimmigen Beschlüsse der IG Metall seit 1949 lesen und danach beschreiben, wie die Gesellschaft aussähe, wären die alle umgesetzt worden. Der Gewerkschafter Franz Thönnes versucht dem Berliner Gewerkschafter zu erläutern, wie gering der Abstand dann noch wäre zwischen Handwerkern in Arbeit und Menschen ohne Arbeit. Die dann zu gering Bezahlten würden von seinem Verband vertreten. Er bleibe bei der Erkenntnis: „In die Gewerkschaft eintreten, den Rücken gerade machen, für Tarifverträge kämpfen.“ Deshalb dürfe der Staat auch keine Mindestlöhne festlegen, die müssten die Gewerkschaften erkämpfen. Zumindest mit diesem Credo hat er wohl seinen Kritiker überzeugt.

 

Auf dem Dach des Reichstages haben französische Jugendliche viel Spaß. Sie juchzen, fangen sich, schauen auf die Metropole. Laut lachend vor Freude laufen sie in der gläsernen Parlamentskuppel bis unter die gewölbte Spitze. Sie blicken von oben hinunter auf das hell erleuchtete Bundeskanzleramt, den angestrahlten Dom, auch das Hochhaus des Springerkonzerns wirkt von hier klein.

 

Zitate

... wir rollten die Frankfurter Allee hinab, und dann fing am Alexanderplatz das große Treiben an. Ich kam gut am Schloss vorbei und in die Linden. Ungeheurer Eindruck, nicht der Straße – ich sah nur die ‚Lindchen‘, sonst nichts von ihr -, sondern des Riesenverkehrs, wie ich ihn vordem nur in Paris und Buenos Aires gesehen. Die Wagen in der Fahrbahn zu vieren nebeneinander, man muss auf den Zentimeter Strich halten. Ich kam gut durch, aber mir rannen die dicken Schweißtropfen herunter. Immer ein Stückchen rasch im Getriebe vorwärts, dann Stoppen. Ich fand erst nicht die Verkehrslampen, die klein und versteckt seitlich brennen. Einmal hielt ich im letzten Augenblick. (...) Wir fuhren durch das Brandenburger Tor, die Charlottenburger Chaussee und in die unbekannte westliche Weite, wir waren am Funkturm, wir fuhren zweimal über die Halenseebrücke, bis wir endlich die Kudowstraße fanden. Überall schönste Villenstraßen, überall Straßen mit großen Mietshäusern und doch grüngebettete und gründurchzogene Straßen. Das hat es gewiss schon ähnlich vordem gegeben, das gibt es ähnlich auch bei uns in Dresden – aber diese riesige Ausdehnung! Wahrhaftig, die Weltstadt. Ich weiß nicht: Ist Berlin wirklich so gewachsen, oder bin ich so verbauert?“
Victor Klemperer, „Tagebücher“, Aufbau-Verlag, Berlin 1999. Eintragung vom 22. Mai 1937

Karl-Marx-Allee

Nur acht Jahre später, 1945, lief nach dem von Hitlerdeutschland entzündeten Krieg der spätere Schauspieler Michael Degen fast die gleiche Strecke, die Klemperer 1937 gefahren war.

„Am 9. Mai war ein Riesenfest angekündigt. Am Alexanderplatz wollten die Russen ein gigantisches Feuerwerk zu Ehren der unterschriebenen bedingungslosen Kapitulation starten. (...) Es war ein ungewöhnlich heißer Tag. Nicht ein Auto war zu sehen. Höchstens sowjetische Militärfahrzeuge, und die hatten keine Lust anzuhalten. An öffentliche Verkehrsmittel war nicht zu denken. Auf dem Weg zum Alex erzählte uns ein Zivilist, dass die S-Bahn zwar ab und zu wieder führe, aber der Bahnhof Lichtenberg, an dem wir vorbeikamen, war geschlossen. Je länger wir die Frankfurter Allee in Richtung Strausberger Platz entlang liefen, desto mehr stank es. Der süßliche Leichengeruch, vermischt mit dem Ziegelstaub, der permanent aus den Schuttbergen hoch wehte, war nur schwer zu ertragen. Die ehemals breite Straße war teilweise so zertrümmert, dass wir sie zwischen Schutt und Steinstrümmern regelrecht suchen mussten.

Der Strausberger Platz existierte nicht mehr, und wir verloren für eine Weile die Orientierung.“
Michael Degen, Nicht alle waren Mörder, Ullstein, München 2003. 

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