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November 2005

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Merkel zahlt bar

November. Die Bötzowstraße im Prenzlauer Berg liegt nicht im Szenebereich. Hier wohnen eher die Hartz-Opfer und nicht Studierende. Vor der Weinhandlung & Restaurant „chez Maurice“ im Haus Nr. 39 ist ein Behindertenparkplatz. Die Hausfront hat einen Hauch von Elsass: Weinlaub umkränzt die beiden Eingangstüren und die Fenster. So ähnlich sind im elsässischen Wissenbourg viele Häuser mit Laub geschmückt. In den beiden Gasträumen ist es auch um die Mittagszeit halbdunkel. An den Wänden sind satt gefüllte Regale mit Weinflaschen aufgebaut, die Tische mit groben Holzplatten könnten in jedem Landlokal stehen. An einer Wand hängen zum Schmuck Fotos mit Szenen aus dem bäuerlichen Leben Frankreichs. Auf die Fensterbänke wurden leere Weinflaschen drapiert. Sie verengen den Blick nach draußen auf ein Miethaus gegenüber im Grau der DDR. Der Wirt spricht mit französischem Akzent. Er ist nicht berlinerisch unfreundlich, eher schwer zugänglich bis zurückhaltend. Ein junges Paar verhandelt mit ihm über ein Essen für 30 Gäste zur anstehenden Hochzeit. Pro Gedeck schlägt er 28 Euro vor, dazu kommen auf jeden Gast gerechnet noch zwei Gläser Wein. Die Beiden zögern mit der Zusage. Auf der Speisekarte steht, dass Kreditkarten nicht akzeptiert werden. „Zahlung nur in bar“. Gerade um die Ecke gebe es zwei Bankautomaten, erklärt der Wirt, wenn jemand sage, er habe nicht genug bei sich. Folglich zahlt auch Angela Merkel bar, denn „chez Maurice“ ist ihr Lieblingslokal. Sie mag die deftige elsässische Küche. Es war bei ihrem Antrittsbesuch in Paris auch zu sehen: Auf der einen Seite der schlanke Genießer in einem tadellos sitzenden Anzug, der einer drallen Teutoboldin in einem zerknautschten Hosenanzug den Handkuss entbot. „Ohne Masse kein Tiefgang“, sagte sie vor fünf Jahren gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. Den ersten Teil des Satzes hat sie schon belegt.
 
Chez Maurice

Auf der Karte im Lokal am Prenzlauer Berg sind französische Blutwurst mit Kartoffelbrei für acht Euro als Tagesgericht im Angebot. Was nicht darauf steht, auf dem Teller werden noch gedünstete Apfelstückchen serviert, die entscheidend für den Genuss sind. Auch Lammbratwürstchen mit kalter Beilage werden für acht Euro angeboten. Abends ist die Tischreservierung Bedingung. Nur mittags ist es möglich, ohne Vorbestellung deftig zu essen. Die Rechnung schreibt der Chef mit der Hand auf einen Block, der trägt den Aufdruck: „Herzoglich Bayerisches Brauhaus Tegernsee“. Dass Angela Merkel hier gern mampft, lässt der Wirt meist unerwähnt. Er habe „Werbung nicht nötig“, sagte er zu einem Zeitungsredakteur. Montags bleibt sein Lokal geschlossen. Für Angela Merkel machte er an dem Montag vor ihrer Wahl zur Kanzlerin eine Ausnahme. An einem Tisch saßen sie, Volker Kauder(welsch), Norbert Röttgen und Ronald Pofalla. Personenschützer waren nicht zu sehen.  

 

Die falsche Auswahl

November. Mit dem Schild „Ostseller“ ist ein Büchertisch ausgewiesen. Er steht sperrig in der Thalia Buchhandlung im „Forum Köpenick“. Das liegt nahe an der Kampfbahn von Union Berlin. Als Ostseller gelten Verklärungen der DDR, Plauderbüchlein von einstigen Kabarettgrößen und überführten Stasi-Agenten, aber auch Analysen über die Unterdrückungsmethoden der SED. Von Jutta Voigt lade ich mir das unterhaltsame und doch informative Buch „Der Geschmack des Ostens“ auf den Arm. Die Redakteurin beschreibt sachkundig, locker, welchen Kantinenfraß es im VEB gab oder wie sich die Bürger den Kellnern und dem Verkaufspersonal unterwarfen. Als zweites Werk nehme ich noch von Manfred Krug „Mein schönes Leben“. Der gilt hier nicht mehr als ihr Star, seit er die DDR verließ. An der Kasse blickt die Angestellte auf die beiden Titel, sie scannt mich mit einem kühlen bis abweisenden Blick – ich habe ihr hier im Südosten die falschen Titel vorgelegt. Sie schiebt mir den dunklen Kasten für die EC-Karte zu. Nach der Zahlungsbestätigung packt sie die wohl verachtenswerten Werke in eine Plastiktüte. Zwar habe ich eine große Tasche dabei, ich könnte auf ihre Tüte verzichten. Aber sie fragte nicht, ich sage nichts, sie schiebt mir das Gekaufte über den Tisch und schaut weg.

 

Platzeck kommt…

November. Innovative Unternehmer ehrt die SPD in ihrer Zentrale. Nur wer eingeladen wurde und sich am Eingang per Pass ausweisen kann, darf in den fünften Stock des Hauses zu dem angekündigten Empfang. Gestandene Funktionäre von einst stellen die Mehrheit. Deutsche Dialekte schwirren durch den Raum. Saarländer scheint es besonders nach Berlin zu ziehen. Pünktlich um 13 Uhr sind die Sitzreihen gefüllt. Frauen stellen, wenn nicht als Helferinnen für die Partei tätig, im Publikum die absolute Minderheit. Der Bruder der Fernsehredakteurin Petra Gerster kommt in den Raum. Ein schmächtiger Mann mit einem beachtlichen Haupt auf schmalen Schultern. Vor etwa zwei Jahren war er noch Boss der Nürnberger Agentur für Arbeit. Er wird nicht beachtet und verlässt kurzfristig den Raum. Mir fällt sein Vorname nicht ein. Ich frage einige Anwesende, nicht einer kann mir helfen. Der Bruder von der Petra Gerster betritt erneut den Raum, wieder wird er kaum beachtet. Mit forschem Schritt stürmt Mathias Platzeck auf die erste Sitzreihe zu. Beifall bricht aus. Hinter ihm wie im Schlepptau, geflissentlich zwei bis drei Schritte entfernt, der neue Generalsekretär Hubertus Heil. Er gilt als Zieher von Strippen, an denen er sich hochzog bis in dieses Amt. Der Mann könnte an die 40 sein und aus Hildesheim stammen. Hubertus Heil ist 33 und kommt aus dem Wahlkreis um Peine. Michel Friedmann nannte die 40-Jährigen eine Assistentengeneration. Ihr folgt die der Strippenzieher.

Der neue Vorsitzende hat zwar ein Manuskript vor sich, aber er schaut kaum in das Papier. Er schaut während seiner Rede die Menschen an. Mathias Platzeck spricht eindringlich, verheddert sich nicht einmal, vermittelt Zuversicht. Aus heutiger Sicht – wenn der gegen die Merkel antritt, hat er beste Chancen. Nach der Rede des Vorsitzenden verlässt der Generalsekretär wie geschäftig den Raum. Er ist ein gedrungener Mann. Sein Anzug ist versessen und hat Querfalten wie ein alter Mann im Gesicht. So wie er entschwindet, könnte Hubertus Heil für einen Brigadier in einem VEB gehalten werden, der in die Sitzung der BGL gerufen wurde.

 

„Fotografieren gern erlaubt“

November. „Fotografieren ist gern erlaubt“, sagt der Polizist. „Aber nicht im Sicherheitsbereich.“ Eine Frauengruppe aus Berlin muss durch die Sicherheitsschleuse des Kanzleramtes. Noch spricht niemand in dem Gebäude vom Kanzlerinnenamt. In der domhohen aus dem Fernsehen bekannten Eingangshalle werden die Frauen von der Besucherführung ermahnt, sich nicht aus der Gruppe zu entfernen. „Zwei Sicherheitsbeamte gehen mit Ihnen durch das Haus.“ Die Frauenführerin spricht statt von der Kanzlerin von der „Chefin“. Deren Vertraute Hildegard Müller, nun in einem Staatsamt, hoch gewachsen, in ein wadenlanges Strickkostüm gepresst wie eine Wurst in der Pelle, schreitet lächelnd vorbei. Als Vorsitzende der Jungen Union wurde sie vor Jahren von der Deutschen Bank gesponsert. Mit einer sehr kurz gewachsenen Referentin schreitet die erst seit einigen Tagen berufene Hildegard Müller Richtung Kantine. So wie Pat und Patachon. Der Gang bis dorthin ist lang wie ein Fußballfeld. „Würde ich gern fotografieren als Beamtenlaufbahn“, sage ich zu dem hinter mir stehenden Mann von der Bundeskriminalpolizei. Er lächelt nicht, seine rechte Braue zieht er leicht hoch. In die Kantine könne ich nicht, so seine Antwort auf die Frage, ob ich dort was essen könne. „Sie werden wohl nicht vom Fleisch fallen.“ Der Frauengruppe wird inzwischen die Architektur erklärt, wonach das Kanzleramt so gebaut sei, dass stets ein Blick auf „das Volk“ möglich ist so wie „auf den eigentlichen Souverän, das Parlament“. Der Architekt mag es so gesehen haben, die Frauen sehen es trotz intensiver Erläuterung nicht. Das Haus wirkt kalt: Breite Treppenaufgänge, viele kahle Hallen, zu wenige Steckdosen, denn allein für einen Weihnachtsbaum wurden viele Meter Kabel gezogen, um an den Strom zu kommen. An einer Decke sind die ersten Baumängel zu erkennen. Auf den Solarflächen liegen Schmutz oder Restschnee, sie sind deshalb zurzeit nutzlos. Aber aus fast jeder Etage sind Blicke auf die Metropole Berlin möglich: Tiergarten und Potsdamer Platz, Reichstag und Fernsehturm, Dom und das Paul-Löbe-Haus scheinen wie davor drapiert.

Vitrine mit Geschenken im Bundeskanzleramt

Für Besucher ist nach einer langen Wartezeit von der Anmeldung bis zum Termin das Amt gewissermaßen offen: Sie werden zu jener Stelle geführt, an der hinter zwei Stehpulten nun „die Chefin“ und der jeweilige Gast vor den Medien Auskünfte geben. Einige Besucherinnen sind überrascht, dass die Aufbauten in der Realität erheblich kleiner und sogar enger wirken als „Tagesschau“ oder „heute“ vermitteln. Auch der Kabinettssaal mit Blick auf das Parlament und den Potsdamer Platz ist nicht großzügig oder gar protzig gebaut. In Vitrinen sind vor dem Sitzungssaal für internationale Konferenzen Geschenke von Staatsgästen ausgestellt. „Die alle darf die Chefin nicht behalten. Nur wenn es zum Beispiel Schokolade oder Wein sind.“ Bemühungen, den Austausch von Geschenken abzuschaffen, scheiterten an den Asiaten und Arabern. Kritiker sagen Angela Merkel nicht nur wegen ihrer Kleidung keinen guten Geschmack nach, aber auch sie wird wohl froh sein, die Präsente abgeben zu müssen. Eine Besuchsführerin bedauert Gerhard Schröder. „Viele bedeutende Künstler haben dem zum 60. Geburtstag Kunstwerke geschenkt. Er war ein Freund der Künstler. Gerhard Schröder wird auch diese Geschenke nicht behalten dürfen.“ Auf der Etage hängen die Gemälde der bisherigen Kanzler von Adenauer bis Kohl. Helmut Kohl hatte bei der Auftragsvergabe Mut zur Hässlichkeit. Für Gerhard Schröder steht die Sitzung bei einem Maler noch aus. Helmut Schmidt ließ sich 1984 von einem linientreuen Künstler aus der DDR darstellen. Sein Porträt fällt wegen der hervorragenden Gestaltung positiv auf.

Ausschnitt aus Helmut-Schmidt-Porträt

Die Arbeitsgruppen im Kanzleramt seien sehr klein, behauptet die Besucherführerin. Es sei deren Aufgabe, vor Gesprächen „der Chefin“ Unterlagen so aufzubereiten, „dass sie den Endruck von Kompetenz erweckt. Die sind so gut, den Eindruck könnten sogar wir machen.“ Die Geräusche der vor dem Regierungssitz vorbeifahrenden Autos sind hier nicht zu hören. Das Haus erweckt den Eindruck von Abschottung. Nach zwei Stunden frage ich eine Sicherheitsbeamtin, welche eventuellen Probleme ihr die Arbeit mache. „Wegen der vielen Treppen hier im Haus kommt schon mal jemand von einer Gruppe ab, und er irrt dann durchs Haus. Dann haben wir richtig Ärger.“

Im Café „Einstein“ Unter den Linden ist wenig später nur noch ein Tisch frei. In dem Lokal hängt die „Neue Zürcher Zeitung“ aus. Anders als fast alle deutschen Blätter, die Angela Merkel zurzeit als hervorragende Außenpolitikerin feiern, schreibt die Schweizer Gazette am 25. November, sie habe sich bei ihren Auslandsvisiten meist bedeckt gehalten und nirgendwo konkret eine Position bezogen. Die Unterschiede über die Ausgestaltung des Sozialstaates, wie sie zwischen Briten und den Mitteleuropäern diskutiert werden, interessierten Angela Merkel nicht. Von der Toilette kommt Otto Schily. Sein grauer Anzug muss von einem Topp-Schneider stammen. Missmutig trippelt er in den hinteren Bereich des Cafés.

 

Torschuss und Totenfeier

November. Man möge eine Minute der vor 100 Jahren verstorbenen Dichterin gedenken, sagt der Historiker. Auf dem  Friedhof von Wilhelmshagen haben sich rund 30 Personen versammelt. Die Mehrheit von ihnen sind Sozialdemokraten. Wilhelmshagen ist ein sehr ruhiger Ort, es ist die letzte S-Bahnstation im Südosten von Berlin. Die Grabfläche ist mit Efeu überwachsen. Am Kopf des Grabes erhebt sich ein riesiger Feldstein mit einem Relief, das die 1905 hier im Ort verstorbene Dichterin Clara Müller-Jahnke darstellen soll. Vor dem Stein liegt ein vor Minuten dort niedergelegter Kranz der lokalen SPD-Gliederung. Die Menschen stehen in der Ruhe des Gedenkens vor dem Grab. Etwa 400 Meter weiter, in der Tiefe des Tales Richtung Müggelsee kickt die 1. Mannschaft der VSG Rahnsdorf. Es sind mehr Spieler auf dem Rasen als Zuschauer an den Rändern stehen. In die Minute des Totengedenkens fällt wohl ein Tor, der Jubelschrei hallt hoch zu den 30 Anwesenden.

Clara Müller-Jahnke lebte nur wenige Monate in Wilhemshagen. Sie wurde 1860 als fünftes Kind eines evangelischen Pfarrers in Ost-Pommern geboren. Die vier Geschwister starben im Kindesalter. Die Frau durchlitt die Armut der Landleute. Sie siedelte später nach Berlin über und begann zu schreiben. Bedrückend sind ihre Berichte über das Leben der Fabrikarbeiter. Später zog sie nach Kolberg und schrieb für die sozialdemokratischen Zeitschriften „Neue Welt“ und „Gleichheit“. Mitglied der SPD wurde sie nicht. Es war damals „unüblich“ für Frauen. Ein Gedichtband von Clara Müller-Jahnke erschien in drei Auflagen. Die Autorin verliebte sich in den Orientmaler Oskar Jahnke. Mit ihm zog sie nach der Heirat 1902 in das ländlich geprägte Wilhelmshagen. Als das Haus bezogen und mit einem Garten umgeben war, starb sie 45-jährig an einer Influenza. Der Stein, an dem sich die Sozialdemokraten versammeln, wurde von ihrem Witwer gestaltet und 1910 gesetzt. Es war sein Todesjahr.

Grabstein Clara Müller-Jahnke

In das Gemeindehaus von Wilhelmshagen kommen nach der Totenehrung noch 25 Personen. Engagierte Mitglieder der SPD lesen aus einem Roman, rezitiert werden drei Gedichte von Clara Müller-Jahnke. Wie VSG Rahnsdorf an diesem Sonntag spielte, interessiert die Menschen nicht. Das Gemeindehaus liegt in der Wiebelskircher Straße. Wiebelskirchen ist der Geburtsort von Erich Honecker. In der Gegenwart ist es nach der Eingemeindung ein Vorort von Neunkirchen/Saar.  

 

Die oben, die unten

November. Der Rosenthaler Platz im ehemaligen Ost-Berlin zeigt einen Kontrast von Abbruch und Aufbau. Einige Häuser tragen noch das graue Kleid des Verfalls aus der DDR. Renoviert und mit frischer Farbe strahlend gemacht ist das Haus mit dem Café „Sankt Oberholz“ an einer Ecke. Es ist der Treffpunkt der jüngeren erfolgreichen Menschen. Das „Passwort“ könne am Tresen erfragt werden, heißt es auf einer Tafel. Auf fast jedem Tisch steht ein aufgeklappter Laptop. Mit der rechten Hand surft der klassische Gast dieses Cafés, in der linken Hand ist das Sandwich zu sehen. Das große Glas Milchkaffee kostet 2,50 Euro, es muss am Tresen abgeholt werden. Die Räume sind hoch und hell. „Sankt Oberholz“ hat zwei Etagen. Als Tageszeitung liegt leider nur die „Frankfurter Allgemeine“ aus. Der am Laptop hängende Mensch liest kaum noch Zeitungen, er surft nach Meldungen. Ob die meisten an ihrem Gerät arbeiten oder sich nur selbst damit dekorieren, versuche ich nicht zu ermitteln. Aber bei einigen liegt der Verdacht nahe. Wer hier an den hohen Holztischen sitzt gibt sich lässig. Es ist nicht New York, eher New Yorkchen. Direkt vor dem Eingang des Cafés führt es hinab in den Berliner Untergrund. In dem Bereich des U-Bahnhofes könnten Filme über die Nachkriegszeit gedreht werden. Die Fliesen an den Wänden sind bräunlich, der Betonboden ist tief dunkel, die Telefonanlage an der Wand könnte noch aus der DDR stammen. An dem schmalen Durchlass zu den Bahnsteigen steht eine Bettlerin. Die Frau dürfte knapp unter 60 sein. Sehr laut jammert sie, „ich möchte was essen, bitte spenden Sie mir was.“ Weil der Bereich sehr eng ist, müssen die Fahrgäste fast auf Körperberührung an der Bettelnden vorbei. Sie streckt die Hand vor wie eine Sperre. Eine solide gekleidete Frau drückt der Jammernden aus Mitleid eine Tafel Schokolade „Ritter-Sport“ in die nicht sehr saubere Hand. Die Bettlerin betrachtet das Karo, sagt laut „1,10 Euro“, verharrt für eine Sekunde und erhöht ihre Forderung: „Ich möchte was Warmes zu essen haben.“

Rosenthaler Platz

Lob auf den Magen

November. Mehrere Tonnen des verdorbenen Fleisches aus dem Raum Cloppenburg wurden in Berlin zu Döner verarbeitet und vor Ort verzehrt. Dazu schreibt der „Tagesspiegel am Sonntag“ in seiner Ausgabe vom 6. November: „Man muss schon gut gefrühstückt haben, damit der Magen die Lektüre über den jüngsten Fleischskandal aushält. Aber der Berliner Magen verträgt bekanntlich alles: Buletten, Currywurst, Döner.“

 

König Kunde

November. Die „Berliner Zeitung“ testete einige Stehcafés. Überschrift: „Starbucks und Co.“ Über den „Einstein Coffeeshop“ am Gendarmenmarkt heißt es: „Störend: die etwas laute Musik und die verrauchte Luft. Die Idee der Bedienung, zur Kompensation, einfach die Tür aufzulassen, stößt bei den Gästen auf wenig Verständnis.“ Unerwähnt blieb der Berliner Ton, mit dem König Kunde behandelt wurde.

 

Elend in der Edelmeile?

November. Die Fasanenstraße war über Jahrzehnte eine Toppadresse für Edelwaren. Sie zweigt vom Kurfürstendamm ab. Der ist eher ein Anziehungspunkt für die Touristen aus Verden, Warendorf, Gillersdorf, Heide oder Bildstock/Saarland. An der Fasanenstraße mit seinen Edelläden liegt auch das Literaturhaus von Berlin mit einem feinen Café darin. Wer sich außerhalb von Berlin zur Literaturszene zählt, kehrt bei seinen Reisen in die Hauptstadt hier ein. Ein wenig der Charme von Wiener Caféhäusern ist hier zu spüren. In dem Haus an der Fasanenstraße verbringt so mancher Gast seine Zeit beim Lesen hinter nur einer Tasse Café au lait. Seit einem Jahr wirkt das Literaturcafé wie die letzte Bastion einer gutbürgerlichen Welt, denn die Edelläden wurden geräumt. GUCCI siedelte um an das obere Ende des Kurfürstendamms. Es werden in der Fasanenstraße Nachmieter für das großräumige Geschäft gesucht. Auch der Edelladen Rena Lange verließ die Seitenstraße in Richtung nahem Ku’damm. Wo vorher englische Maßschuhe angeboten wurden, mietete sich „albrechts patisserie“ ein – einer der wenigen Zuzüge in den vergangenen zwölf Monaten. Es können in der arg gerupften Fasanenstraße weiterhin Fernreisen gebucht und Maßhemden gekauft werden, aber bei „Leder aus England“ ist Räumungsverkauf plakatiert, bei „Herrenmoden Patrick Hellmann“ hängt das Schild „verzogen“ im Schaufenster. Offensichtlich nicht mit Berlinern macht der verbliebene Laden von Pretti Palmroth, „Schuhe aus Italien“, seine Umsätze. Überwiegend italienisch sprechende Kunden verlassen das Geschäft. In den regionalen Blättern wurde berichtet, sehr oft kauften reiche Italiener nicht mehr in Mailand, aber in Berlin ein. Neu in der Fasanenstraße ist die „Raab Galerie“, deren Besitzer wohl von den sinkenden Mietpreisen angezogen wurde. Geblieben ist in der einstigen Edelmeile das Käthe-Kollwitz-Museum. Die Künstlerin vom Prenzlauer Berg in Berlin gilt als Gestalterin des Elends.

 

Gerhard S. als Genremaler?

November. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder wolle künftig malen, behauptete die „taz“ in ihrer Berliner Lokalausgabe. Sie schlug als Genre einen Blick aus dem Fenster seiner Wohnung auf das Holocaustmahnmal vor, denn der Hannoveraner aus dem früheren Land Lippe wohnt während seiner Aufenthalte in der Hauptstadt in Berlins feinster Adresse, am Pariser Platz. In einem Bankgebäude neben der künftigen US-Botschaft mietete sich Gerhard Schröder eine Luxuswohnung von 80 Quadratmetern. Vor den Wohnungsfenstern breitet sich das Denkmal zur Erinnerung an den Holocaust aus. Weiter dahinter hat er die Kulisse des Potsdamer Platzes im Blick. Nach Fertigstellung der US-Botschaft direkt nebenan gilt Gerhard Schröder dann als einer der bestbewachten Männer. Diese Botschaft wird gesichert wie eine Festung. Gewissermaßen vor der Haustür liegt das Brandenburger Tor. Der Weg zum Reichstag dürfte 100 Meter betragen. Es ist bekannt, dass der frühere Bundeskanzler gern zu Fuß geht. Nachbarn sind auch das hochpreisige Hotel Adlon und die Akademie der Künste. Das Ex-Kanzlerbüro von Gerhard Schröder befindet sich in einem Haus Unter den Linden 50. In seinem Büro sind sechs Personen für ihn tätig. Auch bis dahin werden es nicht erheblich mehr als 100 Meter sein. An seinem ersten Tag als Ex-Kanzler und Ex-Bundestagsabgeordneter waren Touristen Unter den Linden überrascht. Ein Mann ohne jede Bewachung begegnete ihnen auf dem Bürgersteig, der aussah wie Gerhard Schröder. Er war es! Dass Gerhard Schröder auch als Maler reüssieren will, bleibt zunächst eine Behauptung der „taz“.

 

Es werden wieder mehr

November. „Die Einwohnerzahl Berlins ist im ersten Halbjahr leicht gestiegen. Mit 3 391 400 Menschen gab es Ende Juni rund 3 600 Hauptstädter mehr als zu Jahresbeginn“, meldet die „Berliner Zeitung“. Es starben in der Zeit mehr als in der Metropole geboren wurden, aber insgesamt kamen 6 000 neue Einwohner von auswärts an die Spree. Klaus Töpfer (CDU), Unobeauftragter für Umweltfragen, wird von Nairobi nach Berlin ziehen.

 

Zitate:

„Ich finde mein Theater so wichtig wie den Bundestag und ich finde mich so wichtig wie einen Bundeskanzler.“ Claus Peymann, Chef des Berliner Ensembles.

„Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erinnerungen“. Thomas Brussig, Schriftsteller aus Ostberlin über Ostalgie.

„Kartoffeln. Suppengrün. Zusammen kochen. Stampfen. Aber nicht pürieren, so dass noch ein Rest Festes bleibt. Speck braten. Majoran.“ Angela Merkel über ihre Art, für Professor Sauer eine Kartoffelsuppe zuzubereiten.

„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Marktes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, die Gesetze des freien Wettbewerbs wahren und verteidigen und Gerechtigkeit gegen alle Besserverdienenden üben werde. So wahr mir die Wirtschaft helfe.“ Sprechblase in einer Karikatur von Angela Merkel zu ihrem Amtseid, veröffentlicht vom Berliner „Tagesspiegel am Sonntag“, 27. November.

Verwendung nur mit Zustimmung des Autors.

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