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September 2005

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Ruhe in der Schröderstraße

September. Am späten Vormittag trägt eine dralle Blonde Kisten mit leeren Flaschen aus dem Ecklokal „Cheer’s“ zu einem Mercedes älterer Bauart. Den parkte sie an der Ecke Grün-/Schröderstraße im ehemaligen Ostteil der Stadt. „Cheer’s“ wird wohl nur am Abend geöffnet sein. Der Verbrauch muss am Vortag erheblich gewesen sein. Die Schröderstraße ist im Vergleich mit anderen Straßen der Gegend nahe dem Rosa-Luxemburg-Platz kurz. Eine junge Frau zieht ein unwilliges farbiges Kind hinter sich zu einem Wohnhaus in der Schröderstraße. Hier stehen ohne Freiräume dazwischen wie eine Mauer Fünfstöcker. In einem Eckhaus gegenüber der Kneipe hat der Besitzer eines Ladenlokals vor einiger Zeit aufgegeben. Er könnte Obst- und Gemüsehändler gewesen sein, auf dem erblindeten Fenster in der Eingangstür prangt eine gemalte Banane. Otto Schily behauptete 1990, wegen dieser Frucht hätten viele Ostdeutsche die CDU gewählt. „Zu vermieten.“ Auch die anschließende Bäckerei/Konditorei Horst Peters ist geräumt. Ein Makler sucht Mieter. Über dem nun verwaisten Geschäftsraum prangt noch die Reklame von „Meister Kaffee“. Am nächsten Haus hängt, verziert mit dem Berliner Bären, ein Schild mit der Aufschrift „Schiedsamt“. Es gibt auf der gesamten Länge der Straße nicht einen Kaufladen.Schröderstraße Wo sie einst waren, sind einige Galerien oder Kunstagenturen eingezogen. Nur in wenigen Häusern gibt es eine Durchfahrt zu einem Hinterhof. Es ist still. Kinderlachen ist nirgendwo zu hören. Selten fährt ein Auto durch die Schröderstraße. Von einer Kirche, die eingebaut ist in die Häuserfront, kommt Glockengeläut. Ein Plakat der Linkspartei zerfasert im leichten Wind an einem Mast. Ansonsten scheint es optisch in der Schröderstraße keinen Wahlkampf gegeben zu haben. Wenige Häuserfronten zeigen einen starken Verfall. Auf den Balkonen sind selbst die Herbstblumen grau. Ein Wohnhaus ist nach dem Zusammenbruch der DDR neu gebaut werden. Es hat den Einheitsstil der Nachwendezeit: Betonfront mit länglichen schmucklosen Fenstern darin und vielen Wohnungen im Innern. Drei Frauen unter 30 tragen einige PC in ein Lasttaxi. Rechts und links sind Autos geparkt, so dass deshalb die Durchfahrmöglichkeit einspurig ist. Zwei Motorräder sind mit einer so genannten „Tuchgarage“ überdeckt. Die Klingelschilder verraten, dass es in jedem Haus viele Mieter gibt. Ich suche nach dem Namen Schröder. Raab wohnt im ersten Haus ab Grünstraße. Mehrfach gibt es Schmidt in den verschiedensten Schreibweisen, auch der typisch Berliner Name Lehmann findet sich wiederholt. Erst im Haus Nr. 7 wird der Chronist fündig: Ryang/Schröder steht neben einem Klingelknopf. Das Paar wohnt nahe der Evangelisch-Methodistischen (Erlöser)Kirche. Sie ist eine ungewöhnliche bauliche Kombination von Wohnhaus mit Büros, Kindergarten, Gemeindesaal sowie Kirche. Pikanterweise wohnt in dem Gotteshaus Marx. Gebaut wurde die Anlage mit roten Ziegeln aus dem Märkischen. Vereinzelt spazieren Entscheidungsträger über den Bürgersteig, denn sie telefonieren sich wichtig gebend. In den Büros sitzen jeweils nur wenige Menschen hinter ihren Computern. Das letzte kleine Unternehmen am Ende hat den Titel „Musik- und Markenkommunikation“. Danach beginnt die Bergstraße.

 

Irrungen und Wirrungen

September. Das Möbelhaus Hübner liegt eine U-Bahnstation vom Nobelkaufhaus KaDeWe entfernt. Bei Hübner sind eher solide Gebrauchsmöbel im Angebot. Ich stehe in dem Haus und warte auf die Auslieferung einer Glasscheibe. Dabei beobachte ich eine Frau, die schon vor meinem Eintreffen in Stapeln von Teppichen wühlte. Wer in einem Kaufhaus steht und nicht sucht, wird für einen Verkäufer gehalten. Fast im Drei-Minutentakt beantworte ich die Frage, „sind Sie hier angestellt?“, mit einem nachsichtig gesprochenen Nein. Die Kundin wühlt und wühlt unterdessen weiter. Wer sich entschuldigt, weil er mich für einen Verkäufer hielt, dem sage ich, „es ist doch kein Makel hier angestellt zu sein“. Die Frau sucht mit stoischer Ruhe in den Teppichen. Eine junge Türkin legt ihre Hand auf meine Schulter und lacht mit schönen Zähnen, weil sie mich für einen Verkäufer hielt. Die Scheibe wird ausgeliefert. Mit ihr unter dem Arm will ich zur U-Bahn. Die Frau hat noch keinen Teppich ausgesucht. Ich bin mit einem Angestellten der Landesvertretung von NRW verabredet und will ihm vor dem Hübner-Gebäude über Handy sagen, wann ich am Treffpunkt sein könnte. Das Handy gibt Piepgeräusche von sich, der Akku ist leer. Der Kollege in der Vertretung wartet. Wo ist eine Telefonzelle? Es ist keine zu sehen. Als Scheibenträger erreiche ich die belebte Potsdamer Straße. Es ist keine Telefonzelle auszumachen. Hinüber auf die andere Straßenseite. Von hier sehe ich, auf der bisherigen Seite gibt es nebeneinander zwei Telefonsäulen. Grünes Licht abwarten, hinüber zurück zur vorherigen Position. Von den offenen ungeschützten Säulen soll mit Kreditkarten telefoniert werden. Ich finde nach langem Suchen einen Schlitz für den Geldeinwurf. 50 Cent verschwinden, im Telefon bleibt der Brummton. Ein junger Mann hantiert an der zweiten Säule links von mir und ruft gegen den brausenden Verkehr zu meiner Aufklärung: „Die ist kaputt.“ Er verlässt danach seinen Bereich, ich versuche es an der zweiten Säule erneut mit 50 Cent. Dabei klemme ich wie vorher schon die Scheibe zwischen die Beine. Hoffentlich pinkelt kein Köter daran. Das Geld ist weg, kein Gespräch. Richtung Bülowstraße sehe ich die gelbe Bemalung an einer Postfiliale. In meiner Kinderzeit gab es im Innern einer Post immer eine Möglichkeit zu telefonieren. Die Kinderzeit liegt lange zurück. In der Filiale ist kein Telefon zu sehen. Mit der Glasscheibe unter dem Arm stelle ich mich an das Ende einer Warteschlange. Endlich bin ich an der Reihe, nun erklärt mir der Angestellte, er wisse nicht, wo ich telefonieren könnte. Mein Kollege wartet auf meinen Bescheid. Ich rase bei Altweibersommerhitze weiter die Potsdamer Straße entlang, überquere die Bülowstraße, im Flimmern der Hitze sehe ich in der Ferne eine weitere Säule. Zum Glück ist mein Gepäck nur sperrig und nicht schwer. Ich hatte mich von der gelben Farbe verabschiedet und auf die graue Farbe eingestellt, deshalb erkannte ich die Säule. Telefonhäuschen – die sind in der Stadt auch schon Geschichte. Die letzten 50 Cent verschwinden in dem Schlitz. „Hier Landesvertretung Nordrhein-Westfalen.“ Die Zeit von hier bis zum Café Einstein Unter den Linden wird im Gespräch errechnet. Die Scheibe war wieder zwischen die Beine gequetscht, sie wird danach unter die Armbeuge gehoben, und es geht ab zum U-Bahnhof Bülowstraße. Die Bülowstraße ist mir weniger durch eine Fernsehserie ein Begriff, hier wohnte der spätere Bundestrainer Sepp Herberger, als er in den dreißiger Jahren für Berliner Vereine Fußball spielte. Der Bahnhof wird repariert, sein Eingang ist mit Brettern und Gittern versperrt. Der nächste Schreck. Die Scheibe unter dem Arm stehe ich unschlüssig vor dem alten Gebäude. Oben fährt eine Bahn ein. Fahrgäste verlassen über eine Treppe den Bahnsteig Richtung Bauzaun, an der Seite gibt es einen schmalen Durchlass. Aufatmen. Hinauf, Weiterfahrt bis Stadtmitte, dort zu Fuß über die Friedrichstraße Richtung Unter den Linden. Kein anderer Mensch trägt eine Glasscheibe unter seinem Arm. Die Gäste im „Einstein“ schauen verhalten über Tassenränder oder aufgeschlagene Zeitungen, während ich versuche das sperrige Ding unter den Tisch zu bugsieren.

 

Pizzeria a la Rathenau

September. „Na, wollen Sie hier die Historie festhalten?“ Der Mann neben mir ist Rentner. Ich fotografierte ein renoviertes Fabrikgebäude mit dem Namenszug AEG an der Stirnwand. Es steht in Oberschöneweide, einem ehemaligen bedeutenden Industriestandort im jetzigen Berliner Bezirk Treptow-Köpenick. Hinter der Fabrik fließt die Spree Richtung City. Neben uns donnern Autos in Richtung Flussbrücke. Die Tram summt vorbei. Ein gebeugter alter Mann schlurft in kurzer Hose und bunten Hemd auf einen Stock gestützt vor uns über den Bürgersteig. Ihm entgegen kommt ein Endfünfziger, der zu viele Wildwestfilme gesehen haben muss.Cowboy in Oberschöneweide Er trägt eine Cowboytracht: einen breitkrempigen Hut, braune Stiefeletten, blaue US-Jeans und schwarzes Hemd, das Handy am Gürtel gilt wohl als Ersatz für den Revolver. Seine Arme sind vom Körper abgespreizt, als sei er John Wayne. Skurriles, viel Armut, Abbruch und Aufbau prägen den Bereich. „Da habe ich früher gearbeitet“, sagt der Rentner und weist auf das Fabrikgebäude. Hieß das in der DDR auch AEG? „Nein, Transformatorenwerk Karl Liebknecht. Über die Hauptstraße, daran erinnere ich mich noch gut, fuhr eine Werksbahn bis zu den Gleisen der Reichsbahn.“ In einem weiteren früheren Fabrikblock befinden sich Supermärkte, Spielhallen und Lokale sowie Imbissbereiche. Ein Asiate bietet Nudeln mit Fleisch für zwei Euro an. In seiner kleinen Braterei stehen einige Ausländer, die im Osten abfällig Fidschis genannt werden. Es wird in Oberschöneweide weniger produziert als früher, aber entschieden mehr gekauft als in der DDR. Parallel zur Spree läuft gerade eine Straße, die den Industriebereich prägt: Auf der einen Seite riesige Fabrikhallen, gegenüber die mehrstöckigen Wohnhäuser, wie im Ruhrgebiet der fünfziger Jahre. Für Läden werden Mieter gesucht, Wohnungen sind verlassen, in einer seit Jahren nicht mehr benutzten Tür steht auf der obersten Treppe ein verstaubtes Plakat der Linkspartei. Kontrastreich wirkt das Werbeplakat der „junge welt“ in einem verfallenen alten Haus. Aber es wird aufgerüstet. Lange Häuserzeilen sind hell gestrichen, die Wohnungen wurden saniert. Es wird intensiv gearbeitet, die Infrastruktur ist im Vergleich zur DDR erheblich verbessert worden. Eine Einkaufspassage trägt den Namen Rathenau. Der Vater des von der politischen Rechten ermordeten Reichsaußenministers Walter Rathenau war Gründer einer Bank und der AEG. Bei Rathenau, dessen Namen sich sogar ein Pizzabäcker zulegte, fehlt jeweils der Vorname. Sohn oder Vater? Am Ende eines langen inzwischen leeren Fabrikblocks steht hinter Werksmauern die „Villa Rathenau“. Hier wohnte offensichtlich der Firmengründer, so wie einst der Kanonenkönig Krupp, der sein Wohnhaus zwischen Essener Fabrikhallen baute. In der Villa Rathenau mit Blick auf das Unternehmen Samsung unterhält die Elektroinnung ihr Büro. Die Parkplätze am Haus sind für die Mieter reserviert. Mehrere Kleinfirmen sind Untermieter. Aus dem geöffneten Fenster eines Büros schallt helles Frauenlachen. Ein alter Mann, der wie die Frau neben ihm schwer an seinen mit Waren prall gefüllten Plastiktüten trägt, bellt zu ihr: „Wenn das so weitergeht, gibt es bald wieder eine Revolution.“ Er meint als Grund wohl nicht die Schwere des Überflusses. Ihn frage ich lieber nicht. Doch die weiteren einzelnen Fußgänger bejahen, schon in der DDR in Oberschöneweide gewohnt zu haben, sie geben aber vor, nicht zu wissen, wer zu dieser Zeit die Villa Rathenau bewohnte. Die Elektroinnung kann es nicht gewesen sein. Die SED, frage ich. „Könnte sein, weiß ich nicht.“ Vor der Pizzeria Rathenau sitzen in der prallen Mittagssonne einige laute fröhliche Zecher. Sie sind freundlich gestimmt und rufen jedem einen „guten Tag“ zu, der in ihrer Sichtweite vorbei geht.

Oberschöneweide

Zwei Tage nach der Bundestagswahl meldete die „Berliner Zeitung“ in ihrem Lokalteil: 19,3 Prozent für die Linkspartei im Neuköllner Problemkiez; 30,9 Prozent für die FDP im Villenviertel Grunewald; 11,4 Prozent für die NPD im Ortsteil Oberschöneweide. „Am Tag danach im ‚Imbiss an den Spree-Höfen‘, wozu eine alte Straßenbahn umgebaut wurde, wird über das gute Abschneiden der Rechtsextremen diskutiert. Niemand will sie gewählt haben.“

Eine Woche nach der Wahl heißt es, Samsung will zum Jahresende die Produktion von Fernsehbildröhren einstellen, über 700 Menschen sollen ihren Arbeitsplatz verlieren. Für einen klaren Managementfehler müssen andere büßen. Das Management hat zu spät mitbekommen, dass der Trend zu Flachbildschirmen rasant zugenommen hatte. Der DGB Berlin-Brandenburg gab indirekt dem Berliner Senat die Schuld. Die CDU auch. Weiter gedacht müssten DGB und CDU die Berliner zwingen, keine Flachbildschirme zu kaufen.

 

SPD als Einheitspartei

September. Zwar legten Linke und Liberale bei der Bundestagswahl in der Hauptstadt zu, doch knapp über 50 Prozent wählten rot-rot. Mit nur noch 22 Prozent hat Angela Merkel, eine Templinerin in Berlin, die CDU auf ihren Tiefpunkt gebracht. In den Ostbezirken trauten viele Ossis der Ossi nicht, denn dort erhielt ihre Partei nur die magere Zustimmung von 13,6 Prozent; Westberlin 27,9 Punkte. Bis auf die SPD fuhren alle etablierten Parteien unterschiedliche Ergebnisse in Ost und West ein. Bei der FDP waren es 10,2 Prozent Weststimmen, im Ostteil nur 5,3. Die erneut umbenannte frühere SED bekam in der ehemaligen „Hauptstadt der DDR“ eine Zustimmung von 29,5 Punkten, im Westteil waren es aber nur 7,2 Prozent. Bei den Grünen klafften die Zahlen nicht so weit auseinander: 15,7 West, 10,9 Ost. Der Begriff Einheitspartei ist in Berlin historisch belastet. Aber als Einheitspartei in der Hauptstadt präsentierte sich erneut die SPD: 34,9 Prozent Zustimmung im Ostteil, 34,0 im ehemaligen Westberlin.

 

Wo Honeckers Stellvertreter lebt

September. „Familie Götting“ weist ein metallenes Namensschild als die Bewohner des Hauses aus, das wie gesichert vor Eindringlingen hinter einer Mauer liegt. Es gibt hinter einem verschlossenen Doppeltor eine kleine Auffahrt. Das Haus ist zweistöckig, der Verputz trägt noch immer das Grau wie in der DDR. Gebaut ist es im Stile von Tagungsbauten des FDGB. Gerald Götting war Vorsitzender der CDU in der DDR. Und in dieser Funktion amtierte er als einer der Stellvertreter von Erich Honecker im Staatsrat des Staates der Arbeiter und Bauern. Einige, die Gerald Götting kannten, schätzen ihn „hoch in die 80“. Er wohnt in dem stillen kleinen Nobelviertel Hirschgarten im Bezirk Treptow-Köpenick. Eingegrenzt wird der Wohnbereich an einer Seite von dem Flüsschen Erpe, an einer anderen von der hier schon sehr breiten Spree; die Wasserläufe bilden einen Schenkel. Inmitten des Wohngebietes steht im Zentrum eines Rondells ein Obelisk. Von diesem Kreis führen die kurzen Straßen sternförmig ab, umsäumt von Villen, inzwischen angereichert mit einigen Neubauten, Wohnanlagen genannt. Bis auf einen Friseur gibt es keinen Laden in dem kleinen und grünen Bereich Hirschgarten. Das Gebrumme von Automotoren ist nur vom Rande zu hören. Am Ufer der Spree unterhielt in der DDR die sportliche Sektion der Humboldt-Universität ein Heim für Ruderer. Der damalige Leiter erinnert sich, dass morgens ein „schwarzer Volvo bei dem Götting vorfuhr, davor und dahinter jeweils ein Lada voll mit Polizisten. Und dann ging es ab in die Mitte.“ Dass der Vorsitzende der Blockpartei CDU „auch einer von Erichs Stellvertretern war, erfuhr ich erst später“. Der Informant war Mitglied der Blockflöte NDPD. An den Abenden sei der Parteivorsitzende „schon mal durch das Viertel gegangen, um seinen Mops auszuführen“. Gerald Götting wird nachgesagt, dass er jeden Nachbarn zuerst grüßte. Als sein Mops von einem „größeren Köter“ fast zerfleischt wurde, sei der „Stellvertreter“ völlig außer sich gewesen. „Ich gehe zur Polizeistation, hole dort meine Waffe und knalle den ab.“ Was nicht geschah. Aber das biedere Mitglied der NDPD wusste nun, dass „der eine Pistole hatte.“ Führende Funktionäre der Parteien und des FDGB trugen damals Waffen. Sicherlich, weil er in seiner Funktion von der SED gehegt wurde, flickten Tierärzte in einer langen Operation den Mops des Gerald Götting wieder zusammen. Der alte Mann sei fast taub, ist zu hören, weil er im Krieg neben Geschützen gestanden habe. In der Gegenwart macht sein Anwesen den Eindruck einer Verschanzung. Es hat die Nummer 9. Die Nachbarin vom Haus Nr. 7 steht an ihrer Gartenpforte. Ein Drahtzaun umfriedet ihren Besitz. Ob denn der Gerald Götting, „früher von der CDU“, noch lebe? Ja, gelegentlich sehe sie ihn noch. Er ist eine unauffällige Person geworden. Eine grauhaarige dickliche Frau säubert, auf einem Treppenabsatz des Hauses Nr. 9 stehend, einen schmalen Teppich. Er wird entstaubt. Die Recherchen ergeben, sie ist eine Haushilfe. Früher hätte ich nicht ohne Verdacht zu erwecken nach Gerald Götting fragen dürfen, früher hätte mir die junge Frau nicht so offen geantwortet.

 

Vom Nachbarn

September. Die Filmklamotte „NVA“ von Leander Haußmann wird unterschiedlich bewertet. Eine ostgeborene Kritikerin der „Berliner Zeitung“ monierte neben viel Stumpfsinn darin das Frauenbild des Regisseurs. Die „Süddeutsche Zeitung“ lobte mehr, die Darstellung von Frauen störte nicht. Und die Bild-„Zeitung“ brachte zwei Fotos des Regisseurs, einmal 1999 mit einem braunhaarigen Leander Haußmann, 2005 mit Ansätzen zu grauen Haaren und leichtem Haarausfall. Der verdient gut, behaupteten die Redakteure des Blattes, weil zwei Filme zuvor Kassenerfolge waren. Der Inhalt der Klamotte interessierte nicht. Zu lesen war, der Regisseur stamme aus Quedlinburg. Er ist zwar nicht unmittelbarer Nachbar, denn er wohnt einige Straßen weiter, doch sind Begegnungen nicht zu vermeiden. Wer ihn über die Bölschestraße von Berlin-Friedrichshagen schlurfen sieht, hält ihn immer noch für einen aus der Provinz, der mal gerade in der Hauptstadt zu Besuch weilt. Seine Kleidung könnte beurteilt werden als unsorgfältig bis ungepflegt. Wahrscheinlich hat er sich deshalb im Bundestagswahlkampf anmaßend und abfällig über Bundeskanzler Gerhard Schröder geäußert: Der ist geschmackvoll gekleidet. Real fand ich sein Frauenbild dann kritikwürdig, wenn er, das Handy am Ohr, den Max spielt, die Frau fast unbeachtet daneben her geht. Der Kinderwagen gilt auch schon mal als Transportmittel für den Kasten Wernesgrüner. Der wird bei Kaiser’s mit großer Geste per EC-Karte bezahlt. Viele Provinzler meinen, diese Art des Zahlens stehe für die große Welt.

Bundeskanzler

Nicht nach Lodz

September. „Theo, wir fahren nach Lodz“, mit diesem Schlager trällerte sich Vicky Leandros durch die Jahre. In die Jahre gekommen, entschied sie sich anders: Sie fährt nicht nach Lodz, die bisherige Wahl-Hamburgerin mietete sich eine Wohnung in Berlin. Und sie ließ sich auf einer Party des Hauses Bertelsmann sogar mit Sabine Christiansen fotografieren.

 

Zitiert

Donnerstagmorgen, in einem Geschäft in der Danckelmannstraße. Ein Kunde wünscht „eine Koalition, bitte!“ Die türkische Verkäuferin lächelt und reicht ihm zwei Schachteln Marlboro Medium und eine Schachtel Marlboro Menthol – rot-rot-grün eben ...

Leserbrief von Klaus Beltz im „Tagesspiegel“ vom 25. September 2005

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