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Juni 2006

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Wühlen in der Kiste

Juni. Ein leicht altersgebeugter hagerer Mann sucht in der Wühlkiste unter ausgelegten preiswerten Büchern. Hinter dem linken Ohr sitzt in einer Operationsdelle sein Hörgerät. Die Augen sind hellwach, er stochert in dem Angebot an Büchern, die nicht mehr der Preisbindung unterliegen. Der alte Mann findet nichts. Er wendet sich um, mit langsamen Schritten geht er in die Buchhandlung Hugendubel in der Friedrichstraße. In deren Eingangsbereich stehen weitere Tische mit preiswerten Büchern. Die Touristen hasten vorbei zu einem Autohaus in der Nähe oder zur Allee Unter den Linden. Keiner von ihnen erkennt Günter Schabowski. Vor 16 Jahren war er noch Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung von Berlin. Sein Büro lag schräg gegenüber. Er wird zu jener Zeit nicht allein über den Bürgersteig geschlendert sein wie in der Gegenwart. Das Gebäude der SED wurde nach dem Zusammenbruch der DDR als Haus der Demokratie bekannt. Zurzeit präsentiert sich darin der Feinkostladen „Butter-Lindner“. Günter Schabowski machte mit einem Versprecher Geschichte. Es geschah in der nahen Mohrenstraße, dem Pressezentrum der DDR. Er sprach von der möglichen „zeitweiligen Ausreise“ für die Bürger der DDR. Ein italienischer Journalist hakte nach und rief: „Ab wann?“ Der von Touristen nicht erkannte Mann in der Buchhandlung beugte sich damals leichter hinunter, nahm einen Zettel und sagte: „Ab sofort.“ Das war der Todessatz für den Staat der Arbeiter und Bauern, dessen Bürger ihm noch am selben Abend jubelnd davonliefen. Nahe der Buchhandlung liegt das Deutsche Historische Museum. Diese Pressekonferenz mit Günter Schabowski läuft in einem Fernsehgerät als Dauersendung. Am Abend berichte ich in der Gaststätte „Bier-Keller“ von der Beobachtung am späten Nachmittag. „Dem Mann bin ich sehr dankbar“, sagt der in Ostdeutschland aufgewachsene Dirk.

 

Treffen der Schwadroneure

Juni. Der Mann geht nach vorn zur ersten Stuhlreihe. Er ginge bei einem Beruferaten als Manufakturwarenladenbesitzer der vierten Generation in Duderstadt durch. Doch der Anzug um die gedrungene Figur sitzt hervorragend, das Tuch scheint edel, sein Gang ist selbstsicher bis leicht arrogant, also kann er nicht aus Duderstadt kommen!  Professor Doktor Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, ist ein mächtiger Mann. Er und einige Politiker sollen die Frage beantworten, wer die Republik regiere. Eingeladen ins Quartier 110, Friedrichstraße, hat „Die Zeit“. Über die Einladungsliste ist nichts bekannt. Der überwiegende Anteil der Anwesenden sind Frauen, die meisten Mitte 30. Gut sitzende Kostüme und auf den Körper geschnittene Hosenanzüge prägen das Bild. Ursula von der Leyen wirkt im Vergleich wie eine Landpomeranze aus dem Agrarland Niedersachsen. Die Frauen bringen in den ehemaligen Kultursaal des Außenhandelsministeriums der DDR einen Hauch von Moderne.Veranstaltung Der Saal ist denkmalgeschützt in dem miefigen Stil der Nach-Stalin-Ära erhalten. „Hier wurde früher der Mangel verwaltet“, sagt der Begrüßungsredner. Hans-Jürgen Papier hält das Eröffnungsreferat. Er redet knapp 30 Minuten. Ab der 15. Minute wiederholt er inflationär, „ich komme jetzt/gleich zum Schluss.“ Der Präsident beschreibt als Ideal einen völlig unabhängigen Abgeordneten, der auch zu seiner Partei ein eher unverbindliches Verhältnis habe. Es muss ihm das Gebot der richterlichen Zurückhaltung eingefallen sein, denn der Präsident setzt plötzlich an: „Das heißt nicht, dass ich für das Mehrheitswahlrecht bin.“ Dies zu fordern stünde ihm auch nicht zu. Und schnell könnte sein Vortrag verkürzt als Meldung den Saal verlassen: „Papier für anderes Wahlrecht.“ Diese mögliche Überschrift zerriss er mit diesem Satz wie Papier vor den eventuell anwesenden Schlagzeilenhyänen der Hauptstadtpresse. Danach platziert sich oben auf der Bühne des Kultursaales eine illustre Herrenrunde mit Dame: Elisabeth Niejahr von der „Zeit“ moderiert – vergeblich. Den Lobbyisten der TUI fragt sie schnörkellos direkt, wie denn seine Arbeit gegenüber Regierung Parlament verlaufe? Gelächter im Publikum – das dem aber bald vergeht, denn die Antwort ist qualmig. Sehr direkt fragt sie den Vorsitzenden der Grünen, Reinhard Bütighofer, wie oft die rot-grüne Regierung sich von den Einflüsterungen der Lobbyisten hat hineinreden lassen. Klare Frage, völlig unklare Antwort. Sie setzt nicht nach. Ebenso nicht bei einem hauptamtlichen Funktionär des Arbeitgeberverbandes, der sich erklären soll, wie er seinen super bezahlten Job und sein Bundestagsmandat zeitlich auf die Reihe bekommt. Wieder wird Nebel geworfen. Es wird langweilig. Vor mir sitzt der Typ mittleres Management, grauer Anzug, gepflegte Glatze, das Resthaar ist kurz geschoren, so will er Dynamik signalisieren. Den Mann fotografiere ich von hinten. Neben mir sitzt eine Hosenanzugträgerin, die sich beim Betrachten des Displays meiner Kamera besser unterhalten fühlt als durch die Reden vorn im Saal.

 

Abseits der Meile

Juni. Seit dem dreißigjährigen Krieg hielten sich nicht mehr so viele Schweden in Berlin auf wie im Juni. Im Bereich der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor amüsierten sich sogar Schwaben und Holsteiner wie Südländer. In den meisten Kiezen blieben die Bewohner der Hauptstadt unter sich; viele Berliner mögen ihren Kiez und überlassen die City den Touristen. Nach dem Anpfiff des Eröffnungsspiels in München hörte ich in einer Kiez-Kneipe im ehemaligen Ostteil, wie laut durchgerechnet wurde, wer von den Kickern auf dem Bildschirm aus der DDR stammte. Es waren weniger als in den Jahren zuvor. Aber der bewusste Ossi weiß sich rechnerisch zu helfen. „Podolski und Klose stammen aus Polen. Also sind zwei weitere Spieler aus dem ehemaligen Ostblock dabei“, hörte ich. Keiner lachte. Sport verbindet. Bisher wusste ich, dass im Kiez ein Portugiese lebt. Er ist Fan von Union Berlin. Während der Übertragung eines Spiels der Portugiesen stellte sich an der Präsenz von Kostümierten heraus, hier wohnen drei. Und bekennende Rassisten hielten ganz parteiisch während der Spiele gegen Tschechien und Brasilien mit Ghana. Die Beflaggung an den Häusern nahm zu den Rändern Berlins ab. Im Stadtteil Friedrichshagen war aber eine Gedenkstätte mit den bunten Tüchern auffällig dekoriert. An dem Wohnhaus des Schriftstellers Bruno Wille (1860-1928) hingen neben der Bundesflagge noch die einiger anderer Länder. Neben dem Union-Jack beispielsweise zusätzlich die von England. In dem Haus wohnte der Schriftsteller, Philosoph und Journalist Bruno Wille von 1893 bis 1920. Bruno Wille war Begründer der Volksbühnenbewegung und einer der Initiatoren des Friedrichshagener Dichterkreises, in dem sich Wilhelm Bölsche, Julius und Heinrich Hart, Gerhart Hauptmann, und viele andere Dichter der Zeit engagierten. Zu ihrer Zeit war der Berliner Stadtteil Friedrichshagen noch selbständig als Bad und Sommerfrische vor der Hauptstadt. Wegen ihres Lebens in der Natur gelten die Friedrichshagener Dichter als die ersten Grünen. Nun war Bruno Willes Wohnhaus mit international gesinnten Fußballfans darin gewöhnungsbedürftig.

Bruno-Wille-Haus - Fußball-WM

Aus dem Leben

Juni. „Bitte keine Schuhe ohne Strümpfe anprobieren“, handschriftlicher Hinweis vor einem Damenschuhgeschäft in der Giesebrechtstraße von Berlin-Charlottenburg

 

Zeitungen kostenlos

Juni. Insbesondere vor den beiden Bahnhöfen „Warschauer Straße“ wird um Abonnements für die drei führenden Berliner Zeitungen geworben. „Kostenlos die ‚Morgenpost‘“, ruft ein junger Mann, oder „die ‚Berliner‘ “ sowie „Tagespiegel“ bieten andere Ausrufer „kostenlos“ den stets Eiligen an; die Anbieter stehen in Rufnähe beieinander. Wer sich für das „kostenlose“ Angebot interessiert und für eine Sekunde seinen Schritt verlangsamt, wird in ein Gespräch gezogen, er möge einen Abonnentenvertrag abschließen, heißt es aufdringlich. Junge Werberinnen sprechen gezielt Männer an, Burschen die Girls. Wer sich in einen Dialog einlässt, hängt am Angelhaken. Ein Teil der Bahnbenutzer hat die Masche erkannt. Blitzschnell greift jemand zu der vom Werber hingehaltenen Zeitung und geht rasch weiter. Insbesondere junge Frauen zeigen sich dabei couragiert. Sie bekommen so kostenlos ihre Tageszeitung und der Anbieter ist immer wieder verblüfft und sogar für Sekunden sprachlos.

 

Huth‘s Heimat

Juni. In der Verkaufstheke des „Café Seestraße“ am Hultschiner Damm sind blauweiße Bonbondöschen in den Farben von Hertha BSC aufgebaut. Nicht nur die Menge ist auffällig. Hier ist das ideologische Hoheitsgebiet von Union Berlin. „Hat sich an denen schon mal jemand verschluckt?“ Die Frau hinter der Theke lächelt dünn: „Noch nicht.“ Unausgesprochen liegt „leider“ in der Luft. Ob sie wisse, dass der Nationalspieler Robert Huth von Union komme? „Aber klar“. In den abzweigenden Straßen rechts und links der Mahlsdorfer Straße liegen meist Einfamilienhäuser. Gepflasterte Bürgersteige gibt es kaum, neben den Fahrbahnen gibt es Sandwege. Einige Grasflächen in ihren Gärten scheinen die Hausbesitzer mit der Nagelschere zu pflegen. An diesem Morgen, es ist der erste Einsatztag des Robert Huth in Klinsmanns Elf, sind im Wohngebiet meist nur Menschen zu sehen, die Hauspflege betreiben. Beim Gang durch die morgenstillen Straßen wird immer wieder mal eine Gardine bewegt. Hier bleibt ein Vorbeikommender selten unbeobachtet. Es gibt seit 16 Jahren keine Einheitspartei mehr, aber überwiegend einheitlich ausgerichtete Gärten: Hecke oder Zaun, in der Mitte Rasen, an den Rändern Blumenrabatten – und das freiwillig. Vor dem „Café Seestraße“ stehen vier Tische mit Stühlen aus Kunststoff. Fünf Personen haben sich um einen Tisch platziert. Ein Gast haut laut in die Sahne: „Mir macht die Hitze nichts aus, ich habe einen Swimming-Pool.“ Auf das Geprahle reagiert keiner. Er legt nach: „Ich komme gerade aus Bali. Dort tauchte ich im Wasser, das noch abends 29 Grad warm war.“ Für mich wird es deshalb Zeit, der freundlichen Frau hinter den Hertha-Dosen die Rechnung zu bezahlen. Robert Huth kam als, wie es in neudeutsch heißt, „als kleiner Pipel zu Union.“ Aus Biesdorf. Bei den so genannten Eisernen fiel der kräftige und hoch gewachsene Junge den Talentspähern auf, so dass er schon mit 16 Jahren auf die Insel zu Arsenal London wechselte, was die Unierten noch in der Gegenwart stolz macht. Bei ihnen ist Robert Huth ein Köpenicker, kein Biesdorfer. Der Verein feiert nach der WM sein 40. In den Fenstern der Geschäftsstelle prangen Werbeschriften für das Ereignis. Sie ist morgens geschlossen. Die ebenfalls verschlossenen Türen des Vereinslokals „Abseitsfalle“ wirken wie müde Augen übernächtigter Fans. Geschäftsstelle und Lokal befinden sich in einem grauen Plattenbau nahe dem Flüsschen Wuhle. Am Tag des ersten Auftritts ihres Robert Huth sitzt am Rande des Wassers ein Trinker, die Bierflasche in der rechten Hand, und stiert auf den Fluss. Schwäne und Enten verteidigen gelegentlich ihre Reviere, die Schwäne bleiben Sieger. Über den Siedlungen liegt eine sommerliche Schwüle. Eine Benzintankstelle nahe dem Stadion der Unierten wurde aufgegeben. Ein geschäftstüchtiger Fan baute sie zur „Union-Tanke“ um, in der es „echte Ostschrippen“ mit Bratwürstchen und jede Menge Bier gibt. Am Tage des Spiels von Robert Huth bleibt sie geschlossen. Nur bei Heimspielen der „Eisernen Union“ ist sie geöffnet. Die Bewohner nahe der Kampfbahn des Vereins grillen während der Übertragungen in den eigenen Gärten, viele treffen sich in einer der Stammkneipen. Robert Huth von Union Berlin „macht“ ein solides Spiel. Der Berliner ersetzt an dem Tag den angeschlagenen Westfalen Christoph Metzelder. Immer wieder wird in den Gärten und Gaststätten erwähnt, was wohl jeder weiß: „Der Huth, der ist ein Junge von Union.“

 

Die Platzhirsche kommen

Juni. Vor dem Parteihaus der SPD ist das Verhältnis Demonstranten zu Polizisten 1:1. „Greenpeace“-Aktive in grüner Kleidung halten den vorfahrenden führenden Genossen grüne Zettel entgegen. „Überall fehlt Geld und den Stromkonzernen werden Milliarden geschenkt. Genossen – spart Euch das.“ Die Partei hat zu ihrem ersten Wirtschaftsforum ins Willy-Brandt-Haus eingeladen. Kamerateams balgen sich um die Aufnahmen mit Demonstranten, wenn eine Hand einen grünen Zettel einem Genossen zustecken will. „Greenpeace“-Strategen wissen, es kommt auf die Fernsehaufnahmen an. Ungestört von den Demonstranten erreichen Peer Steinbrück und der ehemalige US-Finanzminister Robert Rudin das lichtdurchflutete Parteihaus. Die vorfahrenden Volksvertreter verschmähen Volkswagen. Spitzenmodelle aus Sindelfingen prägen das Bild. Einer fährt vor, der einst Spitzenkandidat in Hamburg war, danach Gerhard Schröder in Wirtschaftsfragen beriet, so wie er jetzt geht, muss er Staatssekretär geworden sein. Nach ihm hastet Olaf Scholz ins Haus, er verzieht mokant den linken Mundwinkel in der Annahme, er lächle. Den Spitzengenossen folgt jeweils einen Schritt dahinter devot der Referent. Der wortgewaltige Ludwig Stiegler aus Bayern streicht sich kundig über den Hosenlatz – er ist geschlossen. Wäre sein Anzug aus Leinen, könnte berichtet werden, Leinen knittert edel. Sie alle gehen ohne einen Blick für das Angebot an dem Parteiladen vorbei, in dem es Werbe- und Bekennermaterial von der SPD zu kaufen gibt. Im Bistro der SPD steht Schweinebraten mit Sauerkraut auf der Speisekarte. Uwe-Karten Heye, Chefredakteur des „Vorwärts“, tänzelt auf leichten Sportschuhen und mit einer Jacke bekleidet, die einem Parka ähnelt, in das Parteihaus. Vielleicht möchte er im satten Rentneralter noch einmal aussehen wie ein Frontberichterstatter im Irak. Einlaufende Wirtschaftsvertreter sind an ihren Anzügen zu erkennen, die auffällig unauffällig einheitlich grau sind. Aber auch hinter denen dienert jeweils ein Referent. Michel Friedmann nannte die etwa 40-Jährigen mal die Assistentengeneration. Die Einlassbedingungen sind streng. Inzwischen haben sich vor den beiden Eingängen des Hauses, martialisch aussehend, einige Bundespolizisten aufgebaut: Springerstiefel, grüne Uniformen, Barett auf dem Kopf. Im Innern parliert ein bankrotter Medienkleinunternehmer mit Partei“freunden“. Kaffee und Gebäck spendiert die Sparkasse. Ein Mann hält, auf dem Grünstreifen der Straße vor dem Haus stehend, ein großes Plakat von „Greenpeace“ hoch. Hinter ihm liegt das Hebbel-Theater. Ein Polizist bittet ihn, diesen Platz zu räumen: „Sie irritieren mit diesem Standort die Verkehrsteilnehmer.“ Der Demonstrant gibt auf. Die Zettelverteiler ziehen ab. Peer Steinbrück spricht im Lichthof des Hauses. Er hat vor sich einen Spickzettel liegen, auf den er aber selten einen Blick wirft. Seine Hiobsreden sind auch den Zuhörern bekannt: Die Schulden des Staates sind zu hoch, die Einnahmen zu gering. Er lobt den schmächtigen US-Mann, der von dem Vater des jetzigen Präsidenten einen überschuldeten Staatshaushalt übernahm und ihn unter Clinton sogar in den Bereich der Überschüsse fuhr. Der bescheidene wirkende erfolgreiche Unternehmer Robert Rubin empfiehlt: Ausgaben drosseln, Einnahmen erhöhen. Es ist die Auftaktveranstaltung des Wirtschaftsforums der SPD. „Die Partei will sich mehr Kompetenz auf dem Gebiet aneignen“, sagt Peer Steinbrück am Ende.

Köpenick - Dahme

Die Frau am Klavier

Juni. Die Grünstraße in Köpenick ist eine kleinstädtische Fußgängerzone: Kopfsteinpflaster prägt sie, Straßenbahnschienen wurden bis auf wenige Reste entfernt, kleine Läden prägen das Bild. Die Transfergelder aus dem Westen sind gut angelegt, denn nach der Restaurierung der Häuser ist ein anmutiges Städtchen zu sehen. Sechzehn Jahre zuvor belegte die SED an selbiger Stelle, dass auch ohne Waffen Trümmer zu schaffen sind. Am Anfang der Grünstraße will eine Köpenickerin privat Kultur etablieren. Sie unterhält das „Café-Antiquariat Poeterey“. Wenige Tische befinden sich in einem Raum, der auf den ersten Blick ein Lesezimmer sein könnte. An den Wänden ragen die Bücherregale bis an die Decke. Es kann Kuchen gegessen, Kaffee getrunken und in den Büchern gelesen werden. Und jedes Buch steht im Regal auch zum Verkauf. Auf den Tischen liegen Getränkekarten und jeweils ein „Konzertplaner Sommer 2006.“ Neben meinem Sitzplatz entdecke ich einen Wälzer, in dem eine Enkelin von Thomas Mann über ihren Großvater berichtet. Das Werk ist 1996 verlegt worden. Laut Widmung hat es in dem Jahr eine Enkelin ihrem Großvater geschenkt. Der las nur bis ins erste Drittel, als Lesezeichen steckt darin ein Kassenbon aus dem Jahr 1996. Es bleibt der Fantasie überlassen, warum es nicht weiter gelesen wurde. In den siebziger Jahren wurden in der DDR einige US-Klassiker verlegt. Sie sind im Angebot, der Kenner muss geduldig stöbern. Im Sommer 2006 bietet die Cafébesitzerin Konzerte an. Die Serviererin erzählt nach meiner Frage, bei einer Lesung waren vor einigen Tagen zehn Personen anwesend. „Obwohl der Autor sehr unterhaltsam ist.“ Nach einer Pause: „Die Hälfte des Publikums waren Verwandte und Bekannte von uns.“ Es sei sehr schwer, die Menschen vor Ort aus ihrer Lethargie zu bringen. Die Veranstalter werben mit persönlicher Ansprache auch auf der Grünstraße. „Was, Literatur, mault dann mal das Familienoberhaupt, interessiert nicht, alle kuschen dann.“ Auch die angeblich so emanzipierten Ostfrauen. In der DDR wurde das Bildungsbürgertum schikaniert oder aus dem Land geekelt, meint die junge Servierfrau wie entschuldigend. Sie lebte bis vor einiger Zeit ein Jahr in Südafrika. „Intelligenz war in der Partei nicht gefragt.“ Das spüre man noch immer. Zudem halte sich die „Datschenkultur“, die Menschen zögen sich weiterhin ins Private zurück. Mit Bier und Bratwurst. Eine Farbige kommt hinzu und hört interessiert mit. Nach wenigen Minuten betritt eine Frau das Lokal, der ihre bürgerliche Herkunft an der Kleidung anzusehen ist. Sie setzt sich an das Klavier und spielt sehr zart „Für Elise.“ Die Menschen auf der Grünstraße kommen vom Einkauf, schauen kurz auf, die Musik dringt nach draußen, sie gehen weiter. www.antiquariat-poeterey.de

 

Zitate

„Mein neuer Kiez ist mir zu rau und zu oll.“
Der Schauspieler Mathias Schweighöfer über Friedrichshain. Er will zurück in seinen früheren Bereich mit der Begründung: „Prenzlauer Berg ist in den vergangenen Jahren doch sehr konservativ geworden.“

„Ich bin schon früher immer gern hierher gekommen. Berlin hat viel Energie und Ausstrahlung.“
Jürgen Klinsmann am 06.06.06 gegenüber dem „Tagesspiegel“

„Geschwätzige Sphinx“.
Samuel Beckett 1937 über Berlin

„Diese Stadt ist für Schriftsteller wie geschaffen, deswegen gibt es hier mehr Literaten als Mücken am Wannsee. Aus Bayern, Österreich, Ex-Jugoslawien und dem Ruhrgebiet ziehen sie hierher.“
Wladimir Kaminer, russischer Schriftsteller in Berlin

„Es gibt die Elite der Mäzene, z. B. was die Museumslandschaft angeht, die Theaterlandschaft, die Buchhandlungen, die Erhaltung von Häusern – es gibt eine Elite, die sich darum kümmert. Es gibt auch die politische Klasse – damit meine ich nicht die Lobbyisten – und wir haben natürlich eine Reihe junger Popliteraten hier in der Stadt.“
Franz Josef Wagner, Kolumnist der Bild-„Zeitung“

„Hier wird nicht lange geziert und geschnuppert. Schnell sitzt man mit ihnen in einer Kurzstrecken-Droschke und ist auf dem Weg zu einem Lokal in einer dunklen Straße, um eine Limonade für Erwachsene zu trinken. Wieder zu Hause, blättert man dann in einem schönen internationalen Magazin und entdeckt genau dieses Lokal in der ‚Absolut in-Spalte‘. So entpuppt sich die Stadt auf den zweiten Blick nicht als geschwätzigste, sondern als gastfreundlichste, aufregendste Metropole der Welt und die berühmte Berliner Schnauze als Funkantenne, die alle wichtigen, neuen und geheimnisvollen Orte der Stadt mit ihren Besuchern teilt.“
Jozo Juric 2006

„Und das passiert hier mitten in der Stadt, nicht in irgendwelchen vorgelagerten Stadtbezirken wie etwa in Paris.“
Der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) über das Zusammenleben mit den Migranten in Kreuzberg

„Das ‚Müssen‘ bekommt nun hauptsächlich der Tiergarten ab. Da zieht es fast ausschließlich männliche Fans hin, wo sie schätzungsweise 100 000 Liter Wasser täglich lassen, das normalerweise in die Häuschen fließen müsste. Mit rund 300 Klos gibt es jedenfalls nicht zu wenig (...). Auch die doppelte Zahl würde (...) nicht zu besserem Benehmen führen. Um gerade im Bereich der VIP-Tribüne peinlich beißenden Geruch zu vermeiden, gießt das Amt täglich in aller Frühe sechs Millionen Liter Wasser auf Büsche und Wiesen.“
„Der Tagesspiegel“ vom 23. Juni 2006

„Ich bin eine jener NeuberlinerInnen, die sagen: Wow, was für eine Chance diese Stadt ist.“
Adrienne Goehler, Kulturpolitikerin

„Das Besondere an dieser Stadt ist, dass sie nicht erfolgreich ist. Man probiert hier, man probiert da, doch ihr Charakter bleibt unverändert prekär. Berlins Physiognomie ist stark und von verschiedenen historischen Perioden geprägt. Man sieht so viel – den Pomp und das Biedere, die Wunden und Löcher, wie bei einer gefledderten Schönheit. Das rührt mich an, genauso wie das Offene und unfertige dieser Stadt. Das ist ganz anders als in Paris, London oder Stockholm. In einem Café sitzen und Zeitung lesen. Darauf sollten die Deutschen wirklich stolz sein, auf diese lebendige Zeitungslandschaft!“
Carl Tham, Botschafter Schwedens von 2002 bis 2006

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