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Mai 2006

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Der Kampfausflugstrinktag

Mai. Hinter dem Brandenburger Tor steht der Götze vieler Deutscher auf einem Sockel: ein großes helles Auto. Es ist aufgebaut zwischen dem Säulendurchgang und der überdachten Rednertribüne des DGB. Am 1. Mai ist ein großer Teil der Straße des 17. Juni für ein gewerkschaftliches Volksfest umgewidmet. Eine rote Nelke zu tragen, empfinde ich als Pflicht. Ich kaufe sie am Stand der IG Metall. Sie kostet 50 Cent. Wie lange ist es her, als sie für 50 Pfennige verkauft wurde? Die meisten Menschen mit Nelken am Revers beschauen das Angebot von Thüringer Rostbratwürstchen bis zu ausgelegten Aufrufen kommunistischer Splittergruppen. Je weiter sich der Teilnehmer am Feiertag der Arbeit vom Rednerpult entfernt, umso mehr politische Sekten findet er dort versammelt.

Erster Mai 2006

Vor einem Mahnmal der Roten Armee wird für Kinder ein Schloss aus Plastik aufgeblasen. Darüber ragt, auf einem Sockel stehend, ein Panzer, das Geschossrohr Richtung Potsdamer Platz gerichtet. „Das ist ein T 34“, sagt ein Mann mit Nelke im Knopfloch. Es werde bald wieder Krieg geben. „Die Israelis können den Bau einer Atombombe im Iran nicht zulassen.“ Ich bin kein Kriegsexperte. Am Fuße eines überdimensionalen metallenen Sowjetsoldaten fotografieren sich Touristen.

Erster Mai 2006

Der Demonstrationszug legte zehn Kilometer zurück. Ein kreischender Moderator empfängt ihn. Edmund Mayer von der Gewerkschaft NGG sucht „die Brauer, denn die haben Biermarken“. Auf gut zehntausend Menschen schätzt er die Demo. Nach dem Vorsitzenden des DGB von Berlin-Brandenburg, Dieter Scholz, bekommt Frank Bsirske von ver.di das Wort – und nutzt es ausgiebig. Der Vorsitzende erzählt, was die meisten Gewerkschafter wissen: Dass man von 3,50 Euro Stundenlohn nicht leben kann, dass Ältere kaum Arbeit bekommen, dass die Kapitalisten sich wie Kapitalisten verhalten. Da viele der anwesenden Gewerkschafter sogar Gewerkschaftszeitungen lesen, dürften sie das wissen. Viele hören nicht hin, sie stehen in Gruppen zusammen und unterhalten sich. Es gibt Gewerkschafter, die sich einmal im Jahr sehen – jeweils am Ersten Mai bei der Kundgebung. Kuchen ist im Angebot, zu viel Informationsmaterial, gefragt sind Luftballons. Frank Bsirske redet. Die AfA von der SPD und die CDA der CDU bauten ihre Info-Stände großkoalitionär friedlich nebeneinander auf. Einer von der CDA hält mir vor, in einem Interview die Ruhrfestspiele kritisiert zu haben. „Das geht doch nicht.“ Doch! Frank Bsirske redet. Einige hauptamtliche Gewerkschafter stehen in einer größeren Ansammlung beieinander und diskutieren, ob Ursula Engelen-Kefer Ende Mai auf dem Kongress des DGB kandidieren wird oder nicht. Die Mehrheit glaubt, sie trete an. Frank Bsirske vorn am Rednerpult spricht und spricht und spricht – inzwischen schon 45 Minuten. Ich laufe zurück in Richtung T 34. Unter ihm kreischen Kinder. Grillgeruch liegt über der Gewerkschaftsmeile. Frank Bsirske ist wegen der Lautsprecher auch hier zu hören. Richtung Siegessäule sind für alle denkbaren Fälle Mannschaftswagen der Polizei aufgefahren. Die Uniformierten langweilen sich. Auch sie müssen die Rede von Frank Bsirske hören. Auch auf der Höhe des Bundeskanzleramtes beschallt sein Stakkato die vielen Touristen, Spanier dominieren vor Polen und Österreichern. Auch auf der Höhe des Reichstages ist er zu hören. Die gefühlte Redezeit liegt bei über einer Stunde. Am Bahnhof Friedrichstraße treffe ich eine Angestellte aus der Zentrale von ver.di. Sie fand die Redezeit nicht so lang, räumt aber ein: „Vieles kam mir sehr bekannt vor.“ Wenn sie eine rote Nelke getragen hatte, wurde die früh entsorgt. Im Ostbahnhof ist ein Ehepaar mit der Nelke an der Kleidung zu sehen. Es steht neben Betrunkenen. Aus dem Waggon der S-Bahn dringt Alkoholgeruch. Die einst im Ostteil hinter roten Fahnen marschierende Arbeiterklasse hat den Tag der Arbeit zum Freizeit- und Besäufnistag umgewidmet. Nahe dem Müggelsee behindern sich Kolonnen von Fahrradfahrern in ihrer anstrengenden Freizeit. Die ersten Bewohner der ehemaligen Hauptstadt der DDR kommen von ihren Datschen zurück. Die Sendung „heute“ des ZDF empfinde ich als Wohltat, sie bringt die Kernaussage von Frank Bsirske in maximal 50 Sekunden.

 

Absturz einer alten Dame

Mai. Die Kuppel des Fernsehturms wurde zu einem riesigen Fußball umgewidmet. Vor dem Brandenburger Tor wird die Straße des 17. Juni zu einer Fan-Meile ausgebaut. Auf dem Potsdamer Platz können Interessierte die WM-Spiele auf riesigen Bildwänden sehen. Und im sanierten Olympia-Stadion verlässt am 9. Juli der neue Fußballweltmeister den aus Holland gelieferten Rasen. Darüber berichten die Medien. Aus der höchsten Berliner Klasse, der Verbandsliga, steigt die alte Fußballdame Germania 88 ab. Sie ist mit nur 27 geschossenen Toren und 139 Gegentreffern am letzten Spieltag im Mai die Schießbude der Liga. Der Absturz der alten Dame blieb in den Medien der Hauptstadt unerwähnt. Dabei ist Germania 88 Berlin der älteste „reine“ deutsche Fußballclub. Seit 1888, als Deutschland von drei Kaisern in nur einem Jahr regiert wurde, spielen die Germanen im Stadtteil Schöneberg Fußball. Clubs wie der VfL 1848 Bochum oder 1860 München wurden nicht als Fußballvereine gegründet. Der 1. FC Nürnberg spielte 1900 noch Rugby. Die große Zeit der Germania liegt in den Anfängen des Fußballs während der Kaiserzeit. Am 15. April 1888 gründete Paul Jestram den Verein. In der Festschrift zum 50. Gründungstag heißt es: „Der Fußballsport, das Associations-Spiel aus England, das Spiel mit dem kugelrunden Ball, hält mit der Gründung des BFC Germania seinen Einzug in Berlin.“ Die ersten Aktiven waren Schüler vom Askanischen Gymnasium. Sie kickten täglich bis zu fünf Stunden auf dem Tempelhofer Feld, das vorwiegend der Armee für Kriegsübungen diente. Das erste runde Leder lieferte der Ingenieur Hartwig aus Petersburg. Wie in dieser Zeit üblich, spielten die Germanen nicht nur Fußball, sie begeisterten sich auch an Cricket, Schleuderball, Laufen; im Winter wurde der Ball weggepackt, dann liefen sie auf  Schlittschuhen. Die Kicker waren, wie es in einer Chronik heißt: „Einzelkönner, der Gewandteste wurde naturgemäß der Tüchtigste.“ Ein Jahr nach der Gründung erhielten die Germanen vom Generalkommando Berlin der kaiserlichen Armee eine Spielerlaubnis für das Tempelhofer Feld, auf dem heute Flugzeuge starten und landen. Weil sich die Germanen nach einem Jahr untereinander zerstritten, gründeten Abtrünnige den Club Viktoria 89. Das Kapital des neuen Vereins betrug 75 Pfennige. Die Fußballdame Germania beherrschte bei wenigen Herausforderern im vorvergangenen Jahrhundert den Fußball der Hauptstadt. Der Verein erkämpfte einige regionale Titel. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Germania 88 keine Spitzenposition mehr ein. Nun ist der 118 Jahre alte Verein nicht mal mehr bei den Amateuren erstklassig. Ironie der Geschichte: Viktoria 89, seit 117 Jahren Konkurrent der Germanen, steigt in die Verbandsliga auf.

Fernsehturm zur WM

Fürsorgliche Belagerung

Mai. Wegen „erhöhter Sicherheitsauflagen“ war für Medienmenschen der Zutritt zum 18. DGB-Bundeskongress „nur mit Einladung, Ihrem Presseausweis und Personalausweis“ möglich. So teilte es die Pressestelle des DGB ihren Berufskolleginnen und -kollegen mit und riet, den Personalausweis „ständig“ bei sich zu tragen. Zudem gab es für Pressevertreter einen separaten Eingang in das Hotel Estrel. Zur Eröffnung des DGB-Parlaments kam der Bundespräsident. Anders als bei Parteitagen, insbesondere der SPD, belagerten keine Demonstranten das Gelände. Das sind sonst kleine lärmende Gewerkschaftsgruppen und ähnlich Gläubige, diesmal tagten sie in aller Ruhe selbst. DGB-Bundeskongress 2006Bei der Personenkontrolle mussten metallene Gegenstände aus der Kleidung genommen werden. Handys wurden nach Aufforderung zur Probe eingeschaltet, ebenso Kameras. Hiernach schloss eine Beamtin um das Fotogerät ein farbiges Band, damit im fensterlosen Raum Sicherheitsleute erkannten, diese Kamera war „gefilzt“. Als bei mir trotz Herausgabe des Kleingeldes beim Mantel immer wieder ein Warnton zu hören war, erhöhte sich das Interesse dreier Beamter. Zwei davon waren Frauen, mir wurde trotzdem mulmig. Nach intensiven Nachforschungen wurde die Quelle entdeckt – der Reißverschluss. Im Pressearbeitsraum stand am Morgen der Eröffnung eine uniformierte Polizistin neben dem Kaffeeautomaten. Sie beobachtete sehr genau.  Die zivilen Bewacher schienen durchweg ihre Anzüge bei H & M gekauft zu haben. Ihre einheitliche Tarnung war so perfekt, dass selbst Sehbehinderte sie von Delegierten unterscheiden konnten. Jeder Medienmensch bekam auf sein Namensschild einen roten Punkt geklebt. „Damit du nicht für einen von der Sparkasse gehalten wirst“, erläuterte ein Kollege aus Düsseldorf, der meinen Blick richtig gedeutet hatte. Wohl seit vor einer Woche in einem führenden Blatt zu lesen war, in der SPD-Bundestagsfraktion werde Horst Köhler Sparkassendirektor genannt, war im Presseraum grundsätzlich diese Schmäh über ihn zu hören. Bevor das Staatsoberhaupt den dunklen Tagungsraum betrat, wurde mit Seilen ein eigener Gang für ihn geschaffen. Hubertus Schmoldt, Vorsitzender der IG BCE, marschierte durch diese Gasse und grüßte huldvoll nach rechts und links. Der könnte als Bundespräsident eine gute Figur machen. Zur Eröffnung gab es verhaltenen Beifall für den so genannten Sparkassendirektor, doch Pfiffe bei der Namensnennung von Peter Struck. Katja Kipping von der SED/Linkspartei saß in dem fensterlosen Raum, eine Sonnenbrille in ihr Haupthaar drapiert. Die selbst ernannte Führung der Entrechteten putzt sich auf, als ginge es an die Düsseldorfer Kö. Andrea Nahles kam zu spät. Wenn sie es geplant hatte, um aufzufallen, war es ein Fehler: Nur die Bühne vorn war erleuchtet, der Raum intensiv abgedunkelt, so musste sie sich, ohne aufzufallen, hinten in eine Reihe setzen. Zu Beginn seines Auftritts verhedderte Horst Köhler sich mit seinen Händen zwischen zwei Mikrofonen, die er näher zu sich ziehen wollte. Er ist kein guter Redner, auch als Manuskriptableser hat er seine Schwächen. „Ich werde hier keine Festrede halten“, kündigte Köhler an und hielt Wort. So wie es Angela Merkel im Wahlkampf versprochen und gefordert hatte, empfahl er, von der Mehrwertsteuererhöhung den größten Ertrag für die Senkung der so genannten Lohnnebenkosten zu nutzen. Immerhin brachte ihm das bei der „Recklinghäuser Zeitung“ die Schlagzeile ein: „Horst Köhler geht in die Opposition“. Einige Norddeutsche goutierten sein schwäbisches Idiom. Statt gebraucht heißt es bei ihm gepraucht, lernen ist lennen, Forschung Foschung, fortzusetzen foddzusetzen. Statt hart arbeiten sagte er schwäbisch weich arbeiden. Insgesamt war der Beifall für ihn matt. Die Vorlage des Personalausweises wurde in den Räumen nicht einmal verlangt.   

 

Bahnfahrer

Mai. Der 18. Ordentliche Bundeskongress des DGB sollte am 26. Mai mit einem Mittagessen enden. Es wird dem Vorsitzenden der zweitgrößten Gewerkschaft, Frank Bsirske von ver.di, nicht mehr geschmeckt haben. Anders als einige seiner Vorsitzendenkollegen fuhr er mit der S-Bahn davon. In der S 9 Richtung Spandau sitzend trug er einen Haufen Zeitungen über den Arm. In der „Berliner Zeitung“ konnte er lesen: „Wer Dramen mag, der geht ins Theater – oder zum DGB.“ Um 14 Uhr sprang Bsirske von seinem Sitz auf, am Bahnhof Friedrich-Straße verließ er hastig die Bahn. Die Insassen schauten dem gut gekleideten Mann nicht nach. Trotz der vielen Fernsehprogramme kann er als Prominenter ziemlich unerkannt mit der S-Bahn durch Berlin fahren. Die Frage: Warum machen das so wenige?

 

Kinder von Merkels Mann

Mai. Der Hannoveraner Friedbert Pflüger (CDU) will in Berlin Regierender Bürgermeister werden. Es heißt, er sei Merkels Kandidat, um die in Umfragen am Boden liegende Union nach oben zu ziehen. Friedbert Pflüger wird unter Journalisten in internen Gesprächen als schleimig beschrieben. Er bemüht sich penetrant, sich möglichst täglich in die lokalen Medien zu bringen. Einem Sender erzählte er, in den sechziger Jahren am Müggelsee ein Ostmädchen getroffen zu haben. Er musste wegen seines Tages-Visums am Abend nach Westberlin zurück. Sie habe geweint. Ein armes Ossigirl. Das brachte Erwähnungen in den Zeitungen. Das Ostmädchen meldete sich nie. Eine Straße nach Rudi Dutschke zu benennen, dagegen votiert Merkels Mann, und wieder stand er deshalb in der Zeitung. Im Stadtteil Pankow will eine muslimische Gemeinde eine Moschee bauen. Der Kauf des Geländes verlief korrekt, die Baugenehmigung wurde von der Baubehörde erteilt, Friedbert Pflüger aber trägt seinen Vornamen zu Unrecht, unfriedlich macht er Kampagnen gegen die Andersgläubigen. Das bringt fast täglich Erwähnungen in den Medien. Aus dem Hause Springer bekommt er medialen Feuerschutz. Wofür er politisch steht, bleibt unbekannt. Merkels Mann für Berlin zeigt aber auch, wie sehr sich die Christenpartei gewandelt hat: Friedbert Pflüger ist verheiratet, zeugte aber mit einer Praktikantin ein Kind, den Sohn Leo. Von seiner Ehefrau, der bekannten Politikwissenschaftlerin Margarita Mathiopoulos fordert der Gutverdiener vor der Scheidung 157.000 Euro, die sie nicht zahlen will. Merkels Mann landete erneut einen Coup: Nun im Wahlkampf gab der Noch-Ehemann Pflüger bekannt, dass seine ehemalige Praktikantin, spätere Referentin und Geliebte im sechsten Monat schwanger ist. Die Nachricht wurde wohl zurück gehalten, um die kommende Mutterschaft im Wahlkampf medial vermarkten zu können. Fotos mit Sohn Leo und der Referentin erschienen in den lokalen Zeitungen. Merkels Mann ist zumindest in einer Frage ein Mann der Tat: Der 51-Jährige zeugt sich seine Enkel selbst. Die Union lag in Umfragen im Mai bei 23 Prozent. Unter den Politikern steht er weiter an zweitletzter Stelle. Willst du Pflüger oben sehen, musst du die Tabelle drehen.

 

Anders als bei Döblin

Mai. Der hoch gewachsene schlanke Mann trägt in seiner linken Hand eine satt gefüllte Plastiktüte. Er kommt wahrscheinlich vom Einkauf für das Wochenende. Am Alexanderplatz geht er, ohne einen Blick auf die Tür zu werfen, an der Außenstelle des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vorbei. Vor einem Jahr saß er noch in dem Gebäude. Jürgen Trittin wirkt erleichtert, locker und fast heiter, trotz der vollen Plastiktüte. Er muss nahe dem Alex wohnen. Auf dieser Seite des bekannten Berliner Platzes sieht man oft Angestellte und Beamte aus Ministerien, denn es gibt drei dort. Trittin kam, Trittin ging – sie blieben. Einige Minuten später geht ein gedrungener Mann auf das frühere Haus des Reisens zu. Er gibt zwei juristisch nicht geschützte Berufe an: Bürgerrechtler und Schriftsteller. Lutz Rathenow trägt den einst für Ossis obligatorischen Stoffbeutel an seiner Seite, der aber leer ist. Wie früher. Wenige haben von Lutz Rathenow Literarisches gelesen, aber oft was über ihn in den Zeitungen. Jüngst textete er für einen Bildband über Berlin und redete bei der Buchpräsentation so lange, dass selbst seine Frau vorzeitig den Raum verließ. Tagsüber ist es auf dem Alex quirlig wegen der vielen Menschen, die scheinbar wie ziellos darüber hasten. Wer Döblins Longseller „Berlin Alexanderplatz“ gelesen hat, findet bis auf den Bahnhof nichts mehr von den früheren Bauten. Auf dem Alex soll es kleine Gassen gegeben haben. Der Schauspieler Michael Degen wollte 1945 den Ersten Mai auf dem Alexanderplatz feiern. Die Sowjets hatten dazu aufgerufen. Auf den Trümmerbergen von zerstörten Häusern musste er in der Frankfurter Allee Ausschau halten, um ihn zu finden. Berlin war ein Meer von Ruinen. Gabriele Stave veröffentlichte 1987 in der DDR ein Kinderbuch mit dem Titel „Berlin an der Bahnsteigkante“. Sie schreibt: „Was war 1945 übriggeblieben? Das Berolinahaus, das Alexanderhaus, sonst nur Trümmer und Schutt. Mitten auf dem Alex bauten hungernde Berliner Kartoffeln an, wie Hunderte Jahre zuvor die französischen Gemüsegärtner. Ein Drittel aller Wohnungen war zerstört, jede zweite Schule. 377 Millionen Ziegelsteine mussten geborgen und abgeklopft werden. Mit knurrendem Magen standen die Trümmerfrauen Tag für Tag in den Ruinen, hämmerten Putz von den Steinen, stapelten sie, schoben schwere Loren ... So verheilten allmählich die Kriegswunden am Alex. Die Narben jedoch blieben noch lange Jahre. Verkehrstrubel aber gab’s: 136 Straßenbahnen stündlich, 60 Doppelstockbusse, 3 600 Autos. Das war 1960, als ich mit meiner Schulmappe unterm Arm im ‚Automaten‘ die rote Brause trank.“ Am Alexanderplatz gab es die ersten Speiseautomaten in der DDR. Am Alex gab es ein Pressecafé, das als Stasitreff galt. Über den Alexanderplatz wirbelten am 13. Juni 1953 wie Konfetti, vom Wind getrieben, zerrissene Zeitungsseiten des ND, sowjetische Panzer fuhren drohend quer über das Gelände und trieben Bürger vor sich her, was in dem Buch der Gabriele Stave unerwähnt blieb, ebenso wie die Tatsache, dass es auch den/einen anderen Teil von Berlin gab. Anziehungspunkt der Touristen war damals und heute eine Weltzeituhr. Über die Uhr heißt es in dem Kinderbuch von 1987: „Die zehn Meter hohe Weltzeituhr steht seit 1969 auf dem Platz. In ihrem Aluminiummantel ist die Weltkarte eingeätzt, darüber schwebt unser Sonnensystem mit seinen Planeten. Berlin-Besucher aus der Sowjetunion, aus Indien, den USA, Vietnam und anderen Ländern können von dieser Uhr ablesen, wie spät es in ihrer Heimat ist.“

An dem Bahnhof sind immer noch Einschusslöcher von 1945 zu sehen. Das Berolinahaus vergraute über Jahrzehnte, es wurde nun aufgeputzt und hat eine sanierte helle Fassade. Auf dem Alex entstand in der DDR ein Centrumkaufhaus, daraus wurde Karstadt. Bei laufendem Betrieb baute Karstadt um und eröffnete im Mai seine erweiterte „Galeria“ mit einer riesigen Feinschmeckeretage als Konkurrenz zum KaDeWe im ehemaligen Westteil. Standen die Bewohner der Hauptstadt der DDR einst vor und in dem Gebäude für Obst an, so können sie sich nun darin an internationalen Gerichten laben, aber auch an Speisen aus dem nahen Brandenburg. Dieses Bundesland zählt allerdings nicht zu den Wallfahrtszielen der Gourmets.

 

Achtung – Radfahrer!

Mai. Der Bus Nummer 149 fährt auf der Kantstraße in Richtung Spandau. Über Lautsprecher werden die kommenden Haltepunkte ausgerufen. Vor einer Haltstelle hören die Fahrgäste eine Abweichung: „Haus des Rundfunks. Achten Sie auf Radfahrer.“ Unklar bleibt, ob die Radfahrer auf der Karriereleiter des Rundfunks gemeint sind oder sportliche Mitberliner.

 

Von der Speisekarte

Mai. Vor dem Clubhaus der Rudervereinigung Berlin von 1878 nahe der Havel hängt die Speisekarte aus. Gäste sind willkommen, heißt es über dem Eingangstor. Im Angebot steht ausgedruckt: „2 Matjesheringe mit Butterbohnen, Preisebeeren, Zweibelringen ...“ für 6,50 Euro.

 

Zitate

„...ich liebe die Vielseitigkeit und die Veränderung, die Berlin erfahren hat. Eine unglaublich kreative Stadt, in der Kunst und Kultur groß geschrieben werden. Neben London das musikalische Zentrum Europas und auch als Modemetropole in aller Munde. Es passiert wahnsinnig viel.“
Heino Ferch, Schauspieler

„Alter, du hast doch keine Ahnung! Halt doch einfach die Schnauze.“
Natalia Eichborn, 14089 Berlin, in einem Leserbrief an das Stadtmagazin „zitty“, weil dessen Reporter die von Berlinern als Delikatesse eingestufte Currywurst nicht gut fand.

„Arbeite mit, plane mit, regiere mit!“
Losung des Zentralkomitees der SED zum 1. Mai 1989

„Arbeite mit, plane mit, regiere mit!“
Wahlslogan des Hannoveraners Friedbert Pflüger,  Spitzenkandidat der CDU für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin 2006.

„Wir treten immer und überall gegen die Lüge und die Hetze der Imperialisten auf.“
Diese Maxime der Thälmann-Pioniere empfahl Pflüger und der CDU Klaus Lederer, Vorsitzender der Linkspartei in Berlin.

„Der Berliner mag derbe Scherze. Kaum jemand bleibt verschont davon. Auch KarstadtQuelle nicht. ‚Ich gehe mal zu Kackstadt‘, sagen viele, wenn sie das Kaufhaus meinen.“
Berliner Zeitung” vom 9. Mai 2006

„Eigentlich ist es ein Wunder, dass die Reisebüros überhaupt etwas zu tun haben. Schließlich kann man in Berlin jeden Tag auf Weltreise gehen – den rund 460 000 Berlinern nichtdeutscher Herkunft sei Dank. Ob buddhistischer Tempel, russische Saunen, australische Theater, afrikanische Schönheitssalons oder libanesische Bäckereien, in Berlin gibt es fast nichts, was es nicht gibt.“
Berliner Zeitung” vom 18. Mai 2006

„Es scheint zwei Weitlingstraßen in einer zu geben. Guckt man durch die rosafarbene Brille, sieht man eine gemütliche bunte Einkaufsstraße. Hübsch sanierte Häuser, viele Läden: Modeboutiquen, Schuhgeschäfte, Buch- und Schreibwarenladen, Frisör, Apotheke, Autotuning, Musikschule, Schönheitssalon, Blumengeschäft, Weinhandel, Supermarkt, Tierbestatter. Guckt man durch die braune, sieht man die Videokamera, die seit dem Überfall am vietnamesischen Blumenladen hängt, man sieht die ‚deutsche Küche‘, die Restaurants anbieten, und denkt an Politik, man sieht den tätowierten Glatzkopf, der mit verschränkten Armen vor dem Hooligan-Laden Ostzone steht, die als Nazitreff berüchtigte Kneipe Kiste, an deren Fenster ein Foto von Papst Benedikt XVI. hängt mit der Aufschrift: Deutscher übernimmt Polenjob. Oder: klagt nicht, kämpft. Man sieht die Preußenfahne, die aus dem Fenster über der Bäckerei hängt. Und abends grölende junge Betrunkene mit kurzen Haaren.“
„Der Tagesspiegel“ vom 21. Mai über die Straße, auf der ein türkischstämmiger Politiker der PDS von Rechtsradikalen zusammengeschlagen wurde.

„Es kann ja was Gehobenes sein, eine Bulettenbude oder wie man das hier nennt.“
Angela Merkel am 26. Mai bei der Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofes.

„Berlin versteht nur noch Hauptbahnhof.“
Die “taz” vom 29. Mai 2006

Regierungsviertel

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