Hans Dieter Baroth - Home

Berliner NotizenBerliner NotizenBerliner Notizen

November 2006

Drucken

 

Die Pressemeute ist wieder weg

November. Auf der Wrangelstraße in Kreuzberg wollten zwei Zwölfjährige einem Schuljungen seinen Player entreißen. Wenige Minuten später ist die Polizei vor Ort. Die beiden Kinder sind gefasst, bekommen Handschellen angelegt und werden auf den Boden gedrückt. Diesen Polizeigriff empfinden Zuschauer als zu brutal, sie mischen sich ein. Es wird behauptet, Beamte hätten einem Jungen zugerufen, er solle „doch zurück fahren in die Türkei.“ Ohne vorherige Absprache rotten sich 100 Jugendliche zusammen und verhindern, dass die beiden Diebe antransportiert werden können. Die Polizei ruft Hilfe hinzu, im Nu sind Bildberichterstatter vor Ort, am anderen Tag lesen Hauptstädter, Berlin brenne wie Paris in den Vororten. Aber anders als an der Seine sei es nahe der Spree in der Mitte Berlins. Einen Tag später ist der so genannte Wrangel-Kiez von Medienleuten belagert. Eine Verkäuferin spricht in die Kamera: „Die Jungen lungern hier auf der Straße herum. Sie haben keine Arbeit. Wir ärgern uns auch über ihre Streiche, aber wenn die Polizei so zugreift, stellen sich alle davor.“ Es waren nicht alle, aber viele. Trotz  der reißerisch aufgemachten Berichte, brennt Berlin nicht.

Die Wrangelstraße verläuft nahe der Spree. Sie liegt nahe dem Bahnhof Schlesisches Tor. Einst war dort ein Wohngebiet der Industriearbeiter aus dem europäischen Osten, nach dem Mauerbau zogen Migranten in die Gegend. Seit 15 Jahren wohnt ein Soziologe in dem Kiez. „Hier ist es normal wie überall. Es ist überschaubar. Hat ein Jugendlicher was angestellt, kann er sicher sein, am Abend wissen das seine Eltern. Die Sozialkontrolle funktioniert. Das Problem ist, die Heranwachsenden bekommen keine Arbeit.“ „Fisch-Schmidt“ in der Wrangelstraße gilt in Berlin als feine Adresse. Schräg gegenüber hat ein Bioladen gute Umsätze. Die meisten Obstgeschäfte betreiben Migranten. Das Schreibwarengeschäft wird seit Jahrzehnten von einer Familie gehalten. Die katholische Kirche bietet Obdachlosen in kalten Jahreszeiten eine Übernachtung. Der Soziologe des Kiezes verweist darauf, dass die an einer Ecke stehenden Alkoholiker aus Deutschland stammen. „Aus religiösen Gründen ist Alkoholkrankheit bei dem größten Teil der Bewohner hier kein Problem.“ In einem Café in der Wrangelstraße liegen mehr Zeitungen aus als in denen der bürgerlichen Konkurrenz außerhalb von Kreuzberg. Sogar das „Neue Deutschland“ ist im kostenlosen Angebot. Es liegt meist neben der „Financial Times Deutschland“. Es wird in dem Café viel gelesen und zu viel geraucht. Gäste wie Ladenbesitzer verweigerten der Pressemeute Auskünfte. Inzwischen ist sie abgezogen. Es gibt für sie nichts mehr zu zündeln, im Wrangelkiez brannte es nicht. Die Polizei veränderte ihre Arbeitsweise – die Bereitschaftspolizei zog sich zurück, die Wache im Kiez ist personell verstärkt worden. In der Ruhe nach dem Sturm zündelt Klaus Wowereit. Er plaudert in einer Fernsehsendung, hätte er ein Kind, das würde er nicht in Kreuzberg zu Schule schicken. Er könne Eltern verstehen, die Kreuzberger Schulen meiden. Die Funktionäre der NPD werden sich auf die Schultern geschlagen haben. Ein Hauptstadtblatt kritisiert, für „Salonlinke“ wie Klaus Wowereit sei Multikulti die Auswahl von Lokalen mit preiswerter ausländischer Küche.

Migranten in Deutschland

Die ersten Arbeiterhäuser wurden 1848 im heutigen Kreuzberg gebaut. Schon 1863 legten die Bewohner sich mit der Polizei an. Bei der Zwangsräumung der Gaststätte Schulze in der Oranienstraße 64 leisteten die Gäste vier Tage Widerstand. Seit 1920 gibt es den Bezirk Kreuzberg, der während der Vermauerung von Ostberlin an drei Seiten am „antifaschistischen Schutzwall“ endete. 1970 kam es zu den ersten Hausbesetzungen. Am 1. Mai 1987 gab es in Kreuzberg Krawalle. „Die Mai-Krawalle werden in den Folgejahren zu folkloristisch-ritualisierten Straßenschlachten.“ (Berliner Zeitung) Im Jahr 2001 wurde im Rahmen der Bezirksreform Westberlins Kreuzberg mit Ostberlins Friedrichshain fusioniert. 2006 diffamiert der Regierende Bürgermeister mit flapsigen Bemerkungen alle Lehrer in Kreuzberg.

 

„So nicht!“

November. Jürgen Trenz aus Bildstock/Saar steht im Ostbahnhof auf dem Bahnsteig zwischen den Gleisen 8 und 9. Der Hauptstadtbesucher möchte von hier mit S-Bahn Richtung Erkner fahren. Am Ende des Bahnsteigs thront in einem Kommandogebäude ähnlich den früheren Grenzbauten die Abfertigerin für die Bahnen. Unten ist der Bau aus Beton, oben ist durch Glas die Sicht in alle Himmelsrichtungen frei. Jürgen Trenz öffnet die Tür und schaut nach oben in die gläserne Aussicht. Die Frau bellt sofort: „Erst muss ich Bahnen abfertigen.“ Sie wendet sich ab. Die Bahnfrau behandelt ihn wie Luft. Um nach einiger Zeit auf sich aufmerksam zu machen, winkt der Saarländer demütig nach oben. „So nicht“, kläfft sie herunter. „Gleis 9“, kommt es unwillig danach. Die Auskunft ist sogar richtig.

 

Wie beim Hochamt

November. Pfarrer Reckmann der Christus-König-Kirche in Oer-Erkenschwick stand 15 Minuten vor Beginn des Hochamtes im vollen Ornat in der Sakristei und wartete. Sein schwarzes viereckiges Birett, abgeleitet vom lateinischen biretum, hielt er oberhalb des Bauches. Pünktlich um zehn Uhr setzte er es auf, sprach ein paar Sätze in Latein und schritt hinter einer Schar frömmelnder Ministranten ins Kirchenschiff, die Orgel spielte, alle Kirchenbesucher erhoben sich. Auf eine gewisse Weise ähnelte der Auftritt von Sozialdemokraten dem des Pfarrers. Kurt Beck, Frank-Walter Steinmeier und Martin Schulz, Vorsitzender der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, stehen in vollem Aufzug, aber ohne Birett, vor dem Saal des Estrel-Hotels in Berlin. Die Drei könnten pünktlich sein. Aber sie warten 15 Minuten, dann erfolgt ihr Einzug. An der Spitze der volkstümliche Pfälzer, sich zu allen Seiten verneigend, so als segne der Bischof von Speyer die Besucher, danach im leichten Abstand Steinmeier und Schulz, anders als bei Pfarrer Reckmann folgen die Messbuben der Prominenz; es sind fast einheitlich gekleidete Assistenten, meist um die 40. Michel Friedmann bezeichnete diese Altersgruppe einmal als die Assistentengeneration. Sie wieseln hinter den Dreien und bekommen vom Beifall der Anwesenden etwas ab. Prominente erkennt der Beobachter an der Art, wie sie fotografiert werden. Bei Beck und Steinmeier halten einige die Kamera vors Auge und drehen an den Teleobjektiven, diese Leute sind die Presseprofis. Ein Teil der Anwesenden hält zigarettenschachtelkleine meist silberfarbene Kameras mit weit gestreckten Armen von sich – sie sind die Vertreter der Parteibasis, die zu Hause mit den Bildern prahlen. Die ehemaligen Promis, wie der anwesende Wolfgang Thierse und Hans Eichel, werden nur von den Amateuren fotografiert. Die frühere Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV, Monika Wulf-Mathies, fällt nicht mehr auf. Auch Amateure fotografieren sie nicht. Sie hat finanziell ihr Schäfchen im Trocknen und ist von gestern. In der Gegenwart ist sie hochdotierte Lobbyistin für die Post.

„Europa gestalten: Globale Friedensmacht – Soziale Wirtschaftskraft“ ist das Motto der Tagung. Martin Schulz eröffnet. Ihm wird nachgesagt, er sei ein Bierzeltredner, der bringe die Leute in Stimmung. Im Hotel Estrel gibt er sich staatsmännisch, was ihm deshalb misslingt, weil er einen fatalen Sprachfehler nicht beheben lässt. Das europäische Parlament nennt er das europäiche, spricht von europäicher Perspektive, europäicher Kraft. Logopäden könnten helfen. Tagungspräsidentin ist die Berlinerin Dagmar Roth-Behrendt, die in Brüssel eher das satte Deutschland repräsentiert. Sie vergisst selten zu erwähnen, dass sie Vize-Präsidentin des Europäischen Parlaments ist.

Frank-Walter Steinmeier stammt aus dem ehemaligen Land Lippe. Dieses einstmals arme Gebiet zwischen Ostwestfalen und Niedersachsen ist im Wappen von Nordrhein-Westfalen unten mit einer Rose bedacht. Das Landes-Wappen von NRW zeigt mit einem Stückchen Rhein die ehemalige Provinz Nordrhein und mit dem Pferd das frühere Westfalen. Lippe dockte sich an, wegen des Geldes aus Düsseldorf und dem Revier. Lipper gelten nicht als feurige Menschen, was Steinmeier belegt. Er ist kein glänzender Redner, eher ein vortragender Büroleiter. Wurde ein Kind nach der Predigt von Pfarrer Reckmann über seine Aussage gefragt, war die Antwort: Er redete über die Sünde. Und war dagegen. Bei Frank-Walter Steinmeier verfestigt sich Eindruck: Er redet über die Weltlage. Und die ist nicht gut. Kurt Beck überfliegt währenddessen sein Redemanuskript. Zu Wochenbeginn ist er meist in Berlin. Wer regiert dann Rheinland-Pfalz? Vielleicht sein Büroleiter. Hubertus Heil spricht, in einem Gang stehend, auf Bärbel Dieckmann ein, Bonns Oberbürgermeisterin. Seine Blicke fliegen über die Schultern der OB., wird er beachtet weil bekannt? Anwesend sind einige Fernsehteams aus Europa. Das staatliche italienische Fernsehen RAI mag zwar ein langweiliges Programm haben, die Studiofrau in Berlin ist aber die aufregendste Erscheinung des Tages. Hunderte von Augenpaaren verfolgen ihre grazilen Bewegungen, wenn sie dem Kameramann Anweisungen zuflüstert.

Ministerpräsident Kurt Beck verliest eine Rede, die ihm wohl mehrere Referenten aufgesetzt haben. Er ist jeweils dann gut, wenn er das Manuskript unter dem Mikrofon liegen lässt, das Publikum ansieht und frei redet. Das macht er an diesem Tag nicht. Es scheint nicht sein Thema zu sein. Bei diesem Kongress lässt mich Europa kalt, obwohl wir im November Frühlingstemperaturen haben. In der Vorhalle gibt es Kaffee, Gebäck liegt aus, gesättigt sammle ich einige rote Kugelschreiber ein, die ich am Abend in der Stammkneipe zum Lobe Europas an meine Kumpel verschenke.

 

Vorsicht! Weihnachtseinkauf!

November. „Verstehen Sie mich?“ Vor dem Bus-Wartehäuschen am Alex baut sich ein uniformierter Polizist auf. Gern hätte ich gesagt: Ich höre Sie, aber ob ich Sie verstehe?  Uniformen beeindrucken. Deshalb frage ich nur: „Warum?“ Der Beamte lacht: „Das ist hier in Berlin nicht selbstverständlich.“ Er drückt mir einen kleinen Zettel in die Hand. „Schützen Sie sich vor Taschendieben!“ So die Überschrift. „Wegen der Weihnachtseinkäufe nehmen die Diebstähle zu“, sagt er und mahnt: „Niemals Ausweis und Hausschlüssel in einer Tasche aufbewahren. Dann wissen die sofort, wo Sie wohnen.“ Inzwischen stehen drei Uniformierte vor dem Wartehäuschen. Eine blassblonde Beamtin schaut zu, wie ihr Kollege auf mich einredet. Der Mann hinter ihr ist wegen der größeren Zahl an Sternen auf den Schultern als Gruppenführer zu erkennen. Eine türkischstämmige junge Zivilistin gehört zur Truppe. „Ist Sie die Dolmetscherin?“ Der Aufklärer lacht: „Dann müsste sie doch 20 Sprachen sprechen.“ Und als Freundlichkeit legt er nach: „Sag dem Herrn doch mal was auf chinesisch.“ Die Polizistin klärt auf: „Die interessiert sich für die Polizeiarbeit und ist Praktikantin.“ Busse fahren vor. Hinter mir jammert eine Frau, sie habe den grauen Star, wolle zum Arzt, sie könne die Aufschriften auf den Stirnseiten der Fahrzeuge nicht erkennen. Der Beamte kümmert sich um sie. Endlich fährt der Bus 200 Richtung Bahnhof Zoo vor. Die Linie wird von Doppeldeckern bedient. Ich sitze oben – in der Touristenklasse. Die Polizistin und ihre Praktikantin sind ebenfalls eingestiegen. Ich beobachte die freundliche Uniformierte bei ihren Warnungen. Sie kommt von hinten durch den Bus, so dass die Fahrgäste die Frau nicht kommen sehen. „Guten Morgen“, die Angesprochenen schauen auf, sehen die Polizeiuniform und recken sich alle im Reflex zurück. Nichts mit der Polizei zu tun zu haben, das galt in meiner Heimat Ruhrgebiet als Vorgabe fürs Leben. Offensichtlich woanders auch. Die ablehnende Spannung löst sich jeweils. Ein Mann liest in seiner Zeitung. Neben ihm auf dem Sitz liegt seine Aktentasche. Die blauäugige Polizistin nähert sich, spricht ihn an, er hört wohl nur das Wort „Taschendiebe“ und greift blitzschnell neben sich. So als wollte er seine Aktentasche vor der Beamtin in Sicherheit bringen. „Sprechen Sie mehr Opfer oder Täter an?“ Die Mahnerin lacht: „Das weiß ich nicht. Ansehen kann man den Tätern das v o r h e r  nicht.“ Sie verlässt den Bus am Ende der Straße Unter den Linden. Im Kopf wandle ich den Werbespruch der Polizei um: Die Polizistin, deine Freundin und Helferin.

Weihnachtseinkauf

Stille nahe dem Schuss

November. Bier gibt es nur in Plastikbechern. Der halbe Liter kostet 2,50 Euro und es wird sofort kassiert. Die Musik dröhnt laut durch den großen Raum der Gaststätte „Abseitsfalle“. Sie ist das Vereinslokal von Union Berlin, einst underdog in der DDR. Um 19.30 Uhr ist der Anpfiff zum Spiel der Drittligisten Union gegen den 1. FC Magdeburg. Fünf Minuten vor Beginn sind nur noch drei Gäste in dem Lokal. An den Wänden hängen Plakate, die an große Spiele erinnern. Im Jahr 2001 stand Union im Endspiel um den DFB-Pokal gegen Schalke 04. Danach kam eine Teilnahme am Uefa-Pokal, es hängen unter Glas die Plakate mit den Namen der ausländischen Gegner neben Trikots. Auf dem Fernsehschirm flimmert der Videotext des rbb. Es flackert darauf das Wort live. Und der Spielstand 0:0. Die Lampen über dem Tresen sind nach Fußbällen geformt. An einem Pfeiler sind unter Glas Schwarzweißfotos vom „Fußball-Liga-Kollektiv TSC Berlin“ 1965/66 ausgestellt. Die Mannschaft des Vereins Union Berlin wechselte in den fünfziger Jahren geschlossen nach Westberlin und spielte in der dortigen Stadtliga. Die Wiedergründung des Köpenicker Clubs im Ostteil erfolgte vor 40 Jahren. Eine Fotomontage trägt die Zeilen: „16 Jahre Oberliga der DDR.“ Der Gegner 1. FC Magdeburg war auch in jener Zeit im Stadion an der Alten Försterei nicht gern gesehen. Ein Polizeibeamter betritt das Lokal und fragt nach der Toilette. Die Servierfrau zeigt in die richtige Richtung und sagt: „Auf der Tür sind die Zeichen.“ Ein Gast sitzt mit dem Rücken zu dem Videotext des heimischen Senders. Zwei Männer einen Tisch weiter, kostümiert als Fans des Clubs, unterhalten sich laut. Vor einer Leinwand steht ein Tischfußballspiel. „Wird hier auch die Bundesliga mit Hertha übertragen“, frage ich eine Bedienung. Es war zwar eine richtige Frage, aber am falschen Ort gestellt. Sie spielt, als habe sie mich akustisch nicht verstanden. Ein hoch gewachsener und kräftiger Polizist betritt die „Abseitsfalle“. Auf dem Kopf trägt er eine Pudelmütze, ein Draht führt in das rechte Ohr. Nach dem Zeichen D 11 auf seinem Rücken gehört er zu dem Einsatzwagen mit dieser Nummer. Die Kampfbahn liegt drei Fußballfelder von der „Abseitsfalle“ entfernt. „Da ist wohl ein Tor gefallen“, berlinert der aus dem D 11 sehr stimmkräftig. „Aber dann hätten sie lauter geschrieen“, ergänzt er sich aus Erfahrung. „Da hat bestimmt ein Magdeburger gefoult“, setzt er dröhnend nach. Eine Angestellte stürzt aus der Küche in das Lokal und ruft: „Die Magdeburger führen 1:0“. Im Videotext heißt es noch 0:0. „So eine Scheiße“, ruft der kräftige Polizist. Als sei es für seinen Kollegen ein Stichwort, kommt der von der Toilette und bedankt sich, dass er sie benutzen durfte. „Das darf doch nicht wahr sein“, ruft der von D 11 und rennt aus dem Lokal. Ob er deshalb Randale fürchtet? Die anderen drei Gäste sind inzwischen auch verschwunden. Im Videotext steht in roter Farbe 0:1. Das Tor schoss der Erzgegner in der sechsten Minute. Die Frauen säubern mit nassen Lappen Tische und Tresen. Danach sitzen sie vor der Theke und rauchen. So als seien sie Gäste. Es herrscht Stille nach dem Schuss. Eine Angestellte isst aus einem Teller Möhreneintopf. Sie haben anderthalb Stunden Ruhe, dann stürmen die Fans das Lokal. „Wenn sie verlieren, trinken die weniger und sind unfreundlich“, antwortet eine Kellnerin auf meine Frage, was sie erwarte.  

 

Rot-Rot im Sinkflug

November. Die Regierungskoalition aus Westberliner sozialdemokratischen Schrebergärtnern und Ostberliner Datschenfreunden geriet zum Monatsende in einen Sinkflug. Wäre im November gewählt worden, hätten die Sozialdemokraten 28 Prozent der Stimmen eingefahren, die einstige SED läge bei 14 Prozent. Trost für die Roten: Die Union verlor weiter und liegt bei nur noch 19 Prozent. Am Ende einer Bewertungsskala für die Politiker Berlins liegt der Hannoveraner Friedbert Pflüger,  obwohl er fast täglich im „Tagesspiegel“ hochgeschrieben wird. Merkels Mann Pflüger steht auf der Leiter noch hinter der fast unbekannten Gesundheitssenatorin Karin Lompscher (SED/PDS/Linkspartei). Auch die Fraktionsvorsitzende der Linken, Carola Bluhm, rangiert noch vor dem Spitzenmann – oder spitzen Mann – der Union. Klaus Wowereit steht an der Umfragenspitze. Die Befragung wurde aber vor seiner Anhäufung von Pannen gemacht. Auffällig ist, dass die „sonstigen Parteien“ insgesamt 15 Prozent Zustimmung finden. Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus sind in einzelnen Bezirken „Die Grauen“ schon mit besonderem Zuspruch aufgefallen.

 

Gegen die Lesegesellschaft

November. In der Tram Linie 61 Richtung Köpenick: Die Fahrzeit möchte ich zum Lesen im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ nutzen. Der nächste Halt, Lesen ist schon nicht mehr möglich. Eine Familie aus dem Prekariat stürmt in die Bahn. Der Sohn erobert einen Einzelsitz hinter mir, die Deutschlandfarben auf seiner Kappe wirken optisch schrill, seinen Schal ziert ein Bundesadler, so als habe er sich seit der WM nicht mehr umgezogen. Er hantiert an seinem modernen Handy, wie Angela Merkel sendet der Mann ununterbrochen SMS ab und ruft der vor ihm sitzenden Mutter zu, wer eine erhält. Die Frau hockt vor ihm auch auf einem Einzelsitz, der Durchgang trennt sie von mir. Ihr Haupthaar wusch sie seit Tagen nicht, Zahnlücken vorn lassen sie sicherlich älter aussehen, die Fingerspitzen der rechten Hand sind nikotingelb. Vor ihr sitzt, wie die Mutter übergewichtig, die Tochter. Die beiden reden laut, so als schrieen sie sich an. Zwischendurch telefoniert das Girl, auch sie ist Besitzerin eines Handys der neuesten Bauart. Die Mutter zieht gelegentlich das Sprechgerät aus der schmutzigen Handtasche. Sie hat Schwierigkeiten, jeweils die richtigen Tasten zu finden. Überlaut geben ihre Kinder Anweisungen. Es ist gegen elf Uhr. Bis zum Finanzamt Köpenick gewinnen die Drei den Kampf gegen die Lesegesellschaft. Das Zeitungsblatt trage ich eingerollt aus der Bahn. Ziel ist die City. Vom Finanzamt gehe ich zu Fuß zum S-Bahnhof Köpenick in der Annahme, auf der Fahrt zur Warschauer Straße lesen zu können. Vor mir steigt eine junge Frau in die Bahn, die zu Katrin Krabbe „na Kleine“ sagen könnte. Der Zug zieht an, sie greift in die Tasche, wühlt ein Handy heraus, hackt eine Nummer ein und beginnt ein Gespräch, das an Belanglosigkeit bisher selten unterboten wurde. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit, der Waggon ist besetzt. Statt zu lesen schaue ich aus dem Fenster und bin einer akustischen Umweltverschmutzung ausgesetzt. Ausstieg Warschauer Straße, zu Fuß über eine Bahnbrücke, an deren Ende liegt der U-Bahnhof. Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt der U-Bahn Richtung Kreuzberg. Schräg gegenüber sitzt eine junge Frau, vielleicht eine Musikstudentin. Ihr Instrument trägt sie in einer Hülle, wie sie in Gangsterfilmen zur Tarnung für Schnellfeuergewehre benutzt wird. Bis zum Bahnhof nahe dem Hauptsitz der SPD werde ich nun endlich in der „Süddeutschen“ lesen können. Die Bahn rumpelt über die Spree hinüber nach Kreuzberg. Ein Klingelzeichen, das Girl greift in einen Leinenbeutel, schaut aufs Display ihres Handys und beginnt zu labern. Sie bemüht sich auf der gesamten Strecke, die Hochgewachsene von vorher an Banalitäten zu unterbieten. Über Orchestermitglieder heißt es, sie seien konzertierende Beamte. Ich kann nicht konzentriert lesen, eine Flucht ist nicht möglich, der Waggon ist satt gefüllt. Ich schaue die Redselige einige Male intensiv an und fürchte, den Blick legte sie falsch aus.

Wie üblich bin ich zu früh bei der Veranstaltung der SPD. Gut für mich, in den schwach besetzten Stuhlreihen kann ich erst einmal endlich lesen. Drei Reihen vor mir platziert sich ein Berufsfotograf. Dass der Profi ist, ist an der Kameraausrüstung zu erkennen. Fotos kann er noch nicht schießen – er telefoniert. Und das ausführlich auf Dienstkosten. Der Mann prahlt, wo er zuletzt war, welcher Polit-Promi ihm vor die Linse geraten sei. Am anderen Ende kann nur eine Frau sein, die er versucht zu beeindrucken. Ich lege die Zeitungsseite auf den Nebenplatz und höre zu. Bei steigenden Hass. Der Fotograf hat eine sehr lange Nase. Sie scheint innerhalb einer halben Stunde zu wachsen. „Ich muss jetzt was tun“, bricht er nach 30 Minuten ab. Die Zeitungsseite nehme ich nicht mit zurück. Auf der Rückfahrt betrachte ich die Meute von Schwätzern, die auf mich wie eine Kampftruppe gegen die Lesegesellschaft wirkt.

 

Berliner Charme

November. An der Tür der Wäscherei nahe dem Müggelsee baumelt ein Pappschild, Kunden mögen sich im Geschäft nebenan melden. Die Ostgeborenen kennen den Hinweis aus der anderen Währungszeit – der heißt, die Angestellte ist zum Plausch bei ihrer Kollegin. Die Kundin folgte der Aufforderung. Im Laden nebenan heißt es, „die ist gerade wieder zurück gegangen.“ Stimmt. Die gesäuberte Wäsche wird, in durchsichtiges Plastik gehüllt, über die Theke geschoben. Sie hängt auf dünnen metallenen Bügeln, und die möchte die Kundin nicht. Die Bitte nutzt ihr nichts, sie wird nicht erhört. Der Rechnungsbetrag beträgt 6,10 Euro. Die Frau mit der Wäsche über dem Arm legt 10,10 Euro auf die Ladentheke und sagt, „so können Sie es mir leichter herausgeben.“ Nun habe sie die Summe schon eingetippt, heißt es kurz und unverbindlich von der Angestellten, und sie zahlt 3,90 Euro aus, den Zehner schiebt sie mit dem Zeigefinger wieder zurück.

Weihnachtsdekoration

Zitate

„Die einen erbettelten Süßigkeiten, die anderen nahmen sie ihnen gewaltsam ab. Wieder andere waren sauer darüber, dass sie zu Halloween keine süßen Sachen bekommen haben und ärgerten deshalb Erwachsene. Mehrere Kinder und Jugendliche haben in der Nacht ... die Polizei beschäftigt. In der Siegfriedstraße in Lichtenberg überfielen vier Schüler einen 12-Jährigen und nahmen ihm Bonbons und Schokolade weg. Ein 13-Jähriger schlug das Opfer zu Boden. Die Polizei fand später in seinem Zimmer die geraubten Süßigkeiten. In der Trierer Straße bedrohten zwei Mädchen einen Neunjährigen mit einem Messer und ließen sich dessen Bonbons geben. Die Polizei brachte die Mädchen zu ihren Eltern. In Tegel schoss ein 15-Jähriger mit einer Soft-Air-Waffe auf einen Elfjährigen und raubte dessen Süßigkeiten. In Wedding erbettelten vier Kinder von einer Rentnerin Naschwerk. Als sie sich weigerte, schlugen ihr die Kinder ins Gesicht. Als elfjährige Jungs in Heiligensee nichts Süßes bekamen, sprühten sie ein Hakenkreuz an die Hauswand und den Schriftzug ‚Hitler‘.“
Berliner Zeitung vom 2. November 2006

„Eins ist klar: Auch in Berlin lebt es sich mit Geld besser als ohne, wie überall. Aber ich behaupte, dass es sich in Berlin mit wenig Geld immer noch viel besser leben lässt als in München, Düsseldorf oder Hamburg ...
Dem aufgezickten Kapitalismus wird die kalte Schulter gezeigt. Wer keine Garage hat, wagt gar nicht die Anschaffung eines Porsches, und niemand – außer vielleicht den Zugereisten – interessiert sich dafür, in welchen Klamotten du rumläufst. (Wie Berlin mit dieser Haltung zu einer Modemetropole aufsteigen will, ist mir schleierhaft.) Eine tonangebende Oberschicht gibt es hier nicht; die hiesigen Schwerreichen und Großverdiener scheinen mit der Gabe des gekonnten, stilvollen Geldausgebens und Reichtum-zur-Schau-Stellens zu fremdeln. Ein Distinktionsadel hat sich in Berlin nicht ansiedeln können. Schon wer sich eine Sonnenbrille für 100 Euro kauft, wird für bekloppt gehalten.“
Thomas Brussig, Schriftsteller

„Tempo, Hektik, Lärm, Bauwut, Veränderung allenthalben, durchaus auch Ellenbogen, ja Rüpelhaftigkeit: Wie oft sind in Berlin diese Elemente der Metropole beschworen worden!“
„Der Tagesspiegel“ vom 12. November 2006

„Ich bin nicht die Einzige, die das Berliner Exil gewählt hat. Die Franzosen – und es sind zum größten Teil junge – sind die nach den Polen die am stärksten in Berlin repräsentierten EU-Bürger. Die Franzosen lieben Berlin. ‚Berlin ist nicht Deutschland‘, sagen sie. Und – Herr Wulff möge mir die schmerzliche Wahrheit verzeihen – das bedeutet ganz klar: Berlin ist nicht Hannover.“
Pascale Hugues von „Le Point“

 

Ein Tag – drei Meinungen

„Berlin ist die Hauptstadt der deutschen Arbeitslosigkeit und die Hauptstadt der deutschen Wohlfahrtsempfänger. Und das Schlimmste ist, dass alles dafür spricht, dass es dabei bleibt.“
Helmut Schmidt, Bundeskanzler a. D. am 10. Dezember 2006

„Berlin, die internationale Stadt. Der Ausgleich zwischen Ost und West. Die soziale Balance. Bildung, Wissenschaft und Kultur als wichtigster Rohstoff der Stadt. Eine schwächelnde Wirtschaft, fehlende Finanzkraft – und trotzdem immer ein Schuss Optimismus.“
Ulrich Zawatka-Gerlach am 10. Dezember 2006

„Die vielfältigste Stadt Deutschlands und mein Zuhause, das trotz großer Vernarbung immer schöner wird.“
Suzanne von Borsody

Wegen der krankheitsbedingten späten Präsentation der Berliner Notizen kommen die nächsten erst Ende Januar 2007. Schauen Sie aber trotzdem hinein, in der ersten Januarwoche gibt es eine Neuerscheinung im Buchhandel. Sie wird hier vorgestellt.

Verwendung nur mit Zustimmung des Autors.

[Home] [Biografie] [Werkverzeichnis] [Rezensionen] [Leseproben] [Hörbücher] [Berliner Notizen] [Kontakt] [Impressum] [Links] [Aktuell im Angebot] [Neu]