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Mai 2007 (Druckversion)

 

Am Kollwitzplatz

Mai. „In Richtung Kollwitzplatz. Das sieht schon ganz anders aus. Trabbigeknatter, Kopfsteinpflaster, Linden an den Gehwegrändern, bunt und frech bemalt die riesigen Fassaden der Häuser. Mit der Hand kann man dran fühlen, den Bruchlinien nach, ganze Geschichten sind es, die da stehen. Mensch, hier könnte man doch leben.
Diese fast südländische Atmosphäre hier, mitten im preußischen Berlin! Wem’s hier die Sprache verschlägt, der ist selbst schuld. Offene Cafés, die Stühle draußen bis an den Bordstein gerückt, Zeitungen lesen, trinken, Leute anstarren, selbst angestarrt werden. Blicke aushalten, lächeln und grinsen, weiter Zeitung lesen, trinken. Gegenüber ein Kinderspielplatz, eine gelbe Telefonzelle, das Grün der Bäume. Kollwitzplatz - ist das wirklich ‘ne Oase?“ Schreibt Marko Martin. Sommer am 8. August 1990. Er ist Ostgeborener aus der sächsischen Provinz. 1989 Jahren durfte er den Staat der Arbeiter und Bauern verlassen. Als der dann kurz darauf schmählich zusammengebrochen war, machte Marko Martin eine Erinnerungstour durch die veränderte DDR. Die heitere Stimmung, das Lockere sind am Kollwitzplatz geblieben. Nach 17 Jahren sind einige bürgerliche Umgangsformen eingeführt, Menschen anzustarren ist unziemlich. Das wissen inzwischen viele Anwohner hier. Hinzugekommen sind Geschäfte mit Schnickschnack im Angebot. Inzwischen gibt es mehr Restaurants als in der beschriebenen Zeit von 1990. In einem Lokal mit elsässischer Küche speisten Bill Clinton und Gerhard Schröder. Es liegt direkt am Kollwitzplatz, von seinen Plätzen aus ist die Plastik der Bildhauerin zu sehen. Sie steht in einem kleinen Park. In dieser Gegend am Prenzlauer Berg arbeitete ihr Mann als Arzt für die Armen. Das damalige Elend inspirierte Käthe Kollwitz zu ihrer sozialkritischen Kunst. Auf dem Sockel der Plastik hockt ein Liebespärchen. Dass es in Deutschland zu wenige Kinder gibt, wird hier dramatisch widerlegt. Kinder, Kinder, Kinder im Park, sie jubeln, balgen, spielen. Der Andrang ist beachtlich. Die Abfallkörbe sind überfüllt. Am Rande des Kollwitzplatzes haben samstags Händler aus dem Brandenburgischen ihre Verkaufsstände aufgebaut. Es sind nicht nur Bioprodukte im Angebot, was eigentlich zu erwarten wäre. Handwerker bieten Gartenschuhe oder Küchengeräte an. Die Stimmung scheint gelöst. Viele Stühle auf dem Bürgersteig sind besetzt. Der damalige Vergleich mit der südländischen Atmosphäre stimmt noch immer. In einem Restaurant an der Ecke zum Kollwitzplatz gibt es bis 15 Uhr nur das Frühstücksbüfett. Nach der Karte kann der Gast erst danach bestellen. Lange zu schlafen und spät zu frühstücken ist hier demonstrative Lebensart.

 

Zehlendorf ohne Zaster

Mai. Über dem Eingang des alten Rathauses von Zehlendorf im neuen Bezirk Steglitz-Zehlendorf hängt ein großes Schild mit der Aufschrift „Bürgeramt“. Es ist ungepflegt. Eine Erneuerung oder Säuberung stünde an. Doch Zehlendorf fehlt nicht nur dafür Zaster. Im inneren Bereich mit langen Fluren und vielen Bürotüren überwiegt der Verfall. Die Wände müssten dringend gestrichen werden. Ein Springbrunnen im Innern des großen Hauses ist stillgelegt. Einige Fliesen sind vor längerer Zeit von ihm abgefallen, sie wurden nicht erneuert. Die Toiletten sind renovierungsbedürftig und unsauber. Papier fehlt. Auf der Fensterbank liegt die leere Plastikhülle einer Packung von Papiertaschentüchern. Daher kommt wohl der Name Notdurft – in seiner Not durfte der Zehlendorfer Bürger die Taschentücher anders verwenden.

 

Vom Ende der DDR

Mai. „Ich blicke nicht zurück, ich schaue nach vorn“, antwortet mir die Nachbarin, eine Galeristin. Ich hatte sie gefragt, ob auf dem Trödelmarkt noch Utensilien aus der DDR im Angebot seien. Sie trägt unter einem Arm ein altes Buch, unter dem anderen eine Bürolampe, die aus dem HO-Design stammen könnte. Seit gut 15 Jahren gibt es hinter dem S-Bahnhof von Friedrichshagen sonntags einen Trödelmarkt. Werktags ist die Fläche als Parkplatz ausgewiesen. Noch vor fünf Jahren waren hier Generalsmäntel, Armbinden mit der Aufschrift „Helfer der Volkspolizei“, militärische Orden der NVA, sogar Ehrendolche der obersten militärischen Führung zu kaufen. Die Verdienstmedaille der DDR kostete fünf Euro. Sie wurde als Stolpe-Medaille ausgerufen. Manfred Stolpe hatte so eine an die Brust bekommen, er behauptet aber konsequent, er hätte nicht gewusst, warum er geehrt wurde. Den Aktivisten-Orden für gute Arbeit im Betrieb gab es zuweilen sogar schon für 50 Cent. In der DDR wurde er als Hubschrauber-Orden verspottet. Die NVA sei mit den Helikoptern über das Ländchen geflogen und habe ihn von dort mit breiter Streuung hinausgeworfen. Nun im Mai 2007 sind bis auf wenige Sportauszeichnungen die Reste der DDR nicht mehr im Angebot. Auch kaum noch Bücher aus dem angeblichen Leseland. Briefmarken? Nein, sie sind meist aus den 80er Jahren und in Bonn erstgestempelt. Es ist nicht leicht, sauber durch die Budenstraßen zu kommen – Besucher lecken geräuschvoll Eis oder beißen schmatzend in die Bratwurst. Vor dem Toilettenhäuschen noch ein Hauch von DDR – eine Warteschlange. Es ist Tinnef oder Tand von Wohnungsauflösungen ausgelegt, die Überreste von Verblichenen, denen es nicht gut ging. Billigstes Porzellan aus Massenproduktionen oder einstmals ebenfalls preiswert erstandene Gebrauchsgegenstände für den so genannten täglichen Bedarf. Der Name Trödelmarkt ist passend. An einem Stand liegt ein Heftchen „Rennsteigwanderung“ vom Verlag VEB-Tourist. Verlegt wurde es 1985. Ich hebe es hoch und frage nach dem Preis. Der Mann hebt den Daumen. „Heißt das einen Euro?“ Ruhig antwortet er: „Ihren Daumen bekäme ich ja wohl nicht.“

 

Brückentage

Mai. Wegen Christi Himmelfahrt nutzen viele Menschen den Freitag dazwischen als Urlaubsverlängerung, er ist ein so genannter Brückentag. Es sollen eine Million Touristen in Berlin sein, heißt es in den lokalen Medien. Weil etwa 300.000 Hauptstadtbewohner ihren Kurzurlaub außerhalb der Metropole verbringen oder im Osten auf ihren Datschen die freie Zeit genießen, dürften 700.000 Menschen mehr als sonst durch die Straßen ziehen. Sie scheinen gleichzeitig den Kurfürstendamm, die Prachtmeile Unter den Linden und die Friedrichstraße zu benutzen. Viele Touristen erleiden auch die Schikanen der öffentlichen Verkehrsmittel. Einige S-Bahnen aus dem Ostteil enden am Ostbahnhof Hier heißt es, Weiterfahrt auf der anderen Bahnsteigseite. Von dort fahren die Bahnen aber nur zwei Stationen bis Alexanderplatz. An der Bahnsteigkante des Ostbahnhofs drängen sich mehr Menschen als zu Spitzenspielen von Hertha BSC. Ab Alexanderplatz gibt es nur einen Pendelverkehr bis zur Friedrichstraße; das sind nur zwei Stationen. Erneut hinaus aus der Bahn, Warten auf der anderen Bahnsteigseite. In Umwandlung des Romans von John Steinbeck „Die Straße der Ölsardinen“ gibt es während der Brückentage eine Strecke der Ölsardinen. So voll sind die Waggons. Robert Walser (1878 – 1956) veröffentlichte 1909 seinen in Berlin geschriebenen Roman „Jakob von Gunten“. Darin heißt es schon: „Die Wagen der elektrischen Trambahn sehen wie figurenvollgepfropfte Schachteln aus.“ Unter Anreiseproblemen ist der Prenzlauer Berg zu erreichen. Die U 2 Richtung Pankow endet eine Station hinter dem Alex schon am Rosa-Luxemburg-Platz. Von hier starten Busse Richtung Schönhauser Allee. Aus der sanierungsbedürftigen U-Bahnstation hinaus erreicht so mancher schwer atmend das grelle Licht der Sonne. An dem Pulk der Fahrgäste ist zu sehen, unten ist eine U-Bahn angekommen. Das scheint ein Busfahrer auch so zu sehen, vor den Ankommenden startet er und fährt mit dem fast völlig leeren Fahrzeug an ihnen vorbei. Viele bekommen die Lebenserfahrung versinnlicht: Er fährt ihnen vor der Nase weg. Da könnten Werbeslogans entstehen, deren Aussage sogar richtig wäre: „Die BVG – führend beim triezen von Touristen. Oder: „Touristen-Torturen – mit Sicherheit bei uns, BVG.“ Der zweite etwas abseits geparkte Bus ist schnell mit verschwitzten Menschen gefüllt. Als riesige Ölsardinenbüchse wird er in Richtung Schönhauser Allee kutschiert. Die Besucher Berlins werden diese Erlebnisse für eine Ausnahme halten.

Am 26. Mai mache ich die gleichen Beobachtungen. Menschen entsteigen dem U-Bahnschacht, ein Bus fährt vor ihnen ab nach Pankow. Schnell zähle ich durch, es sind sieben Personen in dem Fahrzeug. Der nächste Bus steht zehn Meter hinter der Abfahrtstelle. Die Menschen sind der Mittagssonne so ausgesetzt, als stünden sie zum Grillen dort. Der Busfahrer hat beide Arme auf seinem Lenkrad abgestützt und liest in einem Boulevardblatt. Mit forschen Schritten geht eine Frau in Richtung Bus, um einzusteigen und sich vor der Hitze zu schützen. Es sind noch zwei Meter, die Tür wird geschlossen, er fährt zehn Meter vor zur Grillstation. Nach einer Stunde beobachte ich vom gegenüberliegenden Bürgersteig diese Schikane – sie wird durchgehalten, meist startet dann ein Bus fast leer, wenn die Menschen aus der U-Bahn kommen. Einer fährt mit vier Personen fort. Der Fahr“gast“, Feind der BVG. An diesem Tag berichtet die „Berliner Zeitung“: „...auf der Linie 7 war um 16.40 Uhr eine S-Bahn liegen geblieben, teilte die Bundespolizei mit. Weil die Fahrgäste nicht informiert wurden und für einige Insassen die Hitze in den Wagen unerträglich wurde, öffneten sie die Türen und sprangen auf die Gleise. Zeugen berichteten, dass einige Fahrgäste Schwächeanfälle erlitten.“

 

„Bolle brennt, Bolle brennt“

Mai. Die Flammen lodern aus der Filiale der Lebensmittelkette Bolle. Menschen jubeln in der Skalitzer Straße von Kreuzberg. Es ist der 1. Mai. Zuvor war bei einem als harmlos eingestuften Vorfall die Polizei zu hart gegen Bürger vorgegangen. Die Menschen in Kreuzberg fühlten sich provoziert, wehrten sich gegen Polizisten, Scheiben gingen zu Bruch, es eskalierte in Richtung Gewalt, negativer Höhepunkt war der Brand bei Bolle. Das war am 1. Mai 1987. Vor 20 Jahren war am Tag danach auch der naheliegende Görlitzer Bahnhof wegen Beschädigungen stillgelegt. Brandstifter waren nicht „Autonome“ oder Linksradikale, wie über viele Jahre behauptet wurde. Bolle war von einem Pyromanen angezündet worden. Zwanzig Jahre nach dem „Kreuzberger Mai“ erhebt sich auf dem Gelände der einstigen Filiale eine fast fertig erbaute Moschee. Vor ihr endet die Skalitzer Straße, es beginnt die Oranienstraße. Ihr erster halber Kilometer entwickelte sich zu einer Art indischer Meile. Bis auf eine Pizzeria reiht sich ein indisches Restaurant an das andere. Selbst das am Görlitzer Bahnhof gelegene Kultlokal „U 1“ ist fest in indischer Hand. Auch der Pächter des früheren Szenelokals „Kafka“ hat in der Oranienstraße 204 aufgegeben. Gefolgt ist in den Räumen das „Mirchi Singapore Restaurant“. Es liegt in den Preisen höher als die indischen Nachbarn. Vor dem „Mirchi“ sind wie vor anderen Lokalen auch auf den Bürgersteigen Tische und Stühle aufgebaut. Der alternative Angeber will nun mal zeigen, was er sich leisten kann. Da macht es nichts, dass die Auspuffrohre der Lieferwagen genau bis auf die Höhe ihrer Tischplatte reichen und die der Busse leicht darunter. Die Soßen sind schon bald mit einem Film überzogen. Dem klassischen Draußenesser kommt es offensichtlich weniger auf das Essen an. Auch im „Mirchi“ ist die Emanzipation eingezogen. Noch vor knapp einem Jahr servierten Frauen das Essen, wurde kassiert, kam ein Mann. Und strich die Trinkgelder ein. Nun serviert eine wohl indischstämmige junge Frau. Sie spricht ein klares Schriftdeutsch. Und lächelte ihre Gäste mit ihren hellen Zahnreihen an. Am Tresen liegt die „FAZ“ aus. Wer will, kann sich ein Exemplar mitnehmen. Die Toiletten im „Singapore Restaurant“ vermitteln einen Eindruck von der viel beschriebenen Sauberkeit in Singapur. Blitzblank, helle Fliesen, so mancher OP-Raum eines Krankenhauses bekäme eine schlechtere Note als hier die Toilette. Im Vorraum ist ein Brunnen gebaut. Will ein Gast seine Hände säubern, läuft ein breiter Wasserlauf hinein. Wird die Servierfrau gebeten, sie möge die zehn Prozent Trinkgeld draufrechnen, zieht sie ein modernes Handy unterhalb der weißen Schürze hervor, gibt die Zahlen ein und nennt die Summe. „Ich bin keine gute Rechnerin.“ Anders als vor einem Jahr kassiert sie den Betrag für die Rechnung.

 

Berliner Charme

Mai. In der Filiale von Tchibo in der Bölschstraße lasse ich mir die Menge von einem Pfund Kaffee zeigen. „Das ist zu viel, kann ich auch ein halbes Pfund bekommen?“ Die Verkäuferin sieht mich kurz an: „Warum, dann trinken Sie eben zwei Tassen.“

Das Restaurant „Bangin“, Kollwitzstraße 51, hat wochentags „Lunch“ mit Suppe, Hauptgang und Dessert auf der Karte. Der weniger hungrige Gast kann auch wählen: zum Hauptgang Suppe oder Dessert. Die Serviererin steht am Tisch, ich frage, was denn das Dessert „des Tages“ sei. „Das weiß ich nicht, da müsste ich erst in der Küche fragen.“ Ich begehe in der Dienstleistungsmetropole Berlin einen Stockfehler. Weil ich das wissen möchte, stapft sie in ihrer Körperhaltung empört davon in Richtung Küche. Zurück kommt die schlanke Frau wie auf einem Laufsteg. Sie schaut über mich hinaus zum Fenster und sagt frostkühl: „Vanilleeis mit Obst.“ Es scheinen trotz knapp 30 Grad Frostblumen an den Fenstern zu keimen. Ich bleibe für sie wie unsichtbar. Beim Eingießen des Mineralwassers spritzt ein wenig aus dem Glas auf die Tischdecke. Sie entschuldigt sich nicht. Fortan gelingt mir mit ihr kein Blickkontakt. Für das Trinkgeld bedankt sich das Girl nicht, ich erwartete auch nicht, dass sie „Auf Wiedersehen“ sagen würde. Richtig, sie bleibt eine Trappistin.

 

Zitate

„Und es macht natürlich einen Unterschied, ob die Zeitung in Hamburg oder der vibrierenden Hauptstadt Berlin hergestellt wird.“
Klaus Wowereit über den angekündigten Umzug der Bild-„Zeitung“ von Hamburg nach Berlin

Zum selben Thema der Moderator Jörg Thadeusz: „In einer Stadt, in der so viele von staatlichen Alimenten leben, kommen uns 700 Menschen zur Hilfe, die auch vor wirklich schmutziger Arbeit nicht zurückschrecken. Sie werden sich hier wohl fühlen, die Bild-Kollegen.“

„... Hamburg (das ist, von hier aus gesehen, jenes hübsche Hafenstädtchen zwischen Lüneburg und Elmshorn).“
Berliner Zeitung vom 10. Mai 2007

„Engländer, die versehentlich jemanden anrempeln, sagen automatisch ‚Sorry‘, selbst wenn es nicht ihre Schuld ist. Der Berliner sagt dagegen: ‚Kannste nicht uffpassen?‘“
Roger Boyes, Korrespondent von The Times in Berlin

„Berlin ist auch die Hauptstadt der Kranken. Fast jeder zweite Beschäftigte musste 2006 mindestens einmal das Bett hüten.“
B.Z. vom 16. Mai 2007

„Meine erste Heimat ist Berlin und meine dreieinhalbste ist London.“
Herbert Grönemeyer am 27. Mai 2007

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