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Dezember 2007

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„Hier starren sie nicht“

Dezember. „Ich bin ja anders“, sagt das farbige Kind aus Neubrandenburg zu mir. Wir schlendern über den Alexanderplatz. „Aber hier starren sie nicht so.“ Friederike ist neun Jahre alt. Das Kind hat eine schokoladenfarbene Haut und sehr intensive dunkle Augen. Nach ihrer Bemerkung bin ich aufmerksam geworden. Dem Kind zeige ich den neuen Konsumtempel „Alexa“. Niemand starrt zu uns herüber. Friederike fällt nicht auf. Im Spielbereich für Kinder sprechen sie einige Elternpaare freundlich an. Auf der Rückfahrt zu meinem Wohnbereich achte ich in der S-Bahn auf die Mitreisenden. Uns gegenüber sitzt eine Asiatin, die nicht guckt. In Karlshorst steigt sie aus. Ein Bauarbeiter mir gegenüber fragt, „ist sie deine Enkelin?“ Er strahlt das Mädchen an. Ist sie nicht. In Köpenick steigt ein Schwarz-Afrikaner in die Bahn. Selbst er geht an uns vorbei, ohne das Kind zu registrieren. Aber darüber ist Friederike etwas traurig. Am anderen Tag im ehemaligen Westteil der Stadt beim Bummel im Bereich des Bahnhofs Zoologischer Garten: Niemand stutzt, keiner schaut herüber, anders als in Neubrandenburg starrt auch niemand aggressiv.

 

Generation Mangel

Dezember. Ich frage eine Kundin nach dem Bereich der Tiefkühlkost. Sie weist mir den Weg durch die Verkaufsstände und ruft mir freundlich nach: „Es ist noch genug da.“ Da war er wieder, der alte Reflex aus der Mangelwirtschaft. Auffällig oft im früheren Ostteil stürzen die Kunden in Erfahrung der einst überfüllten S-Bahnen noch immer gierig auf freie Plätze. Gelegentlich bekommt der vermeintliche Platzkonkurrent schon mal den Ellenbogen des vor ihm Stürmenden in den Kehlkopf gedrückt. Im Supermarkt, in der ehemaligen Hauptstadt der DDR meist weiterhin „Kaufhalle“ genannt, beobachte ich bei älteren Kunden eine ständige Warensicherung. Steht ein Mensch ab sechzig aufwärts beispielsweise vor dem Käseregal, wird der Einkaufswagen mit ausgefahrenem Arm rechts oder links vor das Angebot gestellt, der Kunde selbst nimmt ebenfalls einen Bereich durch seinen Körper ein, so dass zwei Meter Regal mit Waren vor anderen abgesichert sind. Es erinnert schon an den Kampf der Ferkel am Trog. Wenn die Menschen gelegentlich erzählen, wie knapp das Angebot einst war, kommt in mir Verständnis hoch. Wer die siebzig auf dem Buckel hat, erlebte gerade hier in Berlin den Krieg, den Hunger danach, die Unterversorgung in der sowjetischen Besatzungszone und dann vierzig Jahre die Mangelwirtschaft der DDR. Samstags standen sie morgens vor der „Kaufhalle“ in einer Schlange und warteten auf ein Lieferfahrzeug, ohne zu wissen, was gebracht wird. Mal war es Obst, dann Gemüse, das vor dem Verkaufshaus aufs Pflaster geschüttet wurde. Sie sind zu bedauern, wenn sie noch immer die Waren sichern und andere möglichst davon abhalten wollen. Erst sie, dann andere. Meine Großeltern und die Mutter waren vom Mangel des Krieges geprägt, die verhielten sich über Jahre auch so. Erst der Überfluss der Bundesrepublik baute das Verhalten über die Zeit ab. Bei den Alten aber nicht.

 

„Ist noch frei?“

Dezember. „Gerade fährt ein Touristenbus aus Schwerte quälend langsam durch die Auguststraße, und da es warm ist und der Busfahrer sein Fenster runtergekurbelt hat, höre ich die Fremdenführerin erklären, dass hier in Mitte viele Galerien und Straßencafés entstanden seien, in denen sich die jungen Leute träfen. Die älteren Leute im Bus gucken eher ängstlich als interessiert und freuen sich sichtlich schon auf übermorgen, wenn sie sich nicht mehr durch enge Straßen voller Baulücken kutschieren lassen müssen und zu Hause in Wanne-Eickel nachmittags wieder RTL gucken können“, schreibt der Kultautor Florian Illies in seinem Buch „Generation Golf zwei“, dem Anschlussband zu seinem Erfolg „Generation Golf“. An einer anderen Stelle des Buches ärgert er sich darüber, dass in Gebieten, in denen die Bewohner unter sich waren, nun auch Touristen einfallen, weil die Zeitschrift „Brigitte“ die Gegend als Geheimtipp beschrieben hat. Für den Finanzsenator sind die Berlinbesucher willkommen, sie geben Geld aus, ein Teil fließt in die Landeskasse. Und es werden jedes Jahr mehr. In der Bibel wird noch mit sieben Plagen gedroht, für die Einwohner der Hauptstadt gibt es nur eine Plage, und die sind die Horden von Touristen, die in die entlegensten Ecken gelenkt werden, weil diese in Reiseführern beschrieben wurden. So geschah es auch bei der Bergmannstraße in Kreuzberg. Sie liegt in dem Gebiet, in dem der Bundestagsabgeordnete der Grünen Christoph Ströbele als einziger dieser Partei direkt gewählt wurde. In irgendeiner Zeitschrift wird die als „absolutes Muss“ beschrieben sein, denn seit Wochen fallen die Gruppen aus Ilmenau, Warendorf, Varel oder Büdingen/Oberhessen dort ein. Sie sind daran zu erkennen, dass sie langsam an den Szeneläden vorflanieren, danach die bisherige Gemütlichkeit in den Lokalen aufheben. Saß der Bewohner einst stundenlang in einem Café der Bergmannstraße und las in den vielen ausliegenden Zeitungen oder aß dort seine fleischloses Gericht, verteidigt er nun seinen Tisch gegen die aufdringlichen Fragen: „Ist hier noch frei?“ Und die aus Ilmenau, Warendorf, Varel oder Büdingen quetschen sich dazu, lachen laut über ihre Erlebnisse hier in Berlin, klagen über die vielen Ausländer in Kreuzberg und lassen sich mit inzwischen schlechterem Essen als vor einem Jahr „abspeisen“. Jüngst im Café Bergmann beobachtete ich an mir, dass ich meinen Tisch gegen die Touristen absicherte. An ihm standen sechs Stühle. Zwei waren besetzt, also bedeckte ich den Tisch mit Zeitungen und die unbesetzten Stühle mit Mänteln und Tüten, um das Bild von „besetzt“ zu erwecken. Erfolgreich. Sie kommen, mampfen, rasen wieder hinaus, deshalb sind die bisherigen Gäste aus der Bergmannstraße erst ab dem späten Nachmittag wieder unter sich. Aber das Essensangebot hat sich in der Qualität verschlechtert. Zu viele Touristen verderben den Brei. Allein zum Jahreswechsel waren von ihnen über eine Million zur Silvesterfeier in der Stadt.

 

Kein Kumpel-Kniften

Dezember. „Essener-Brot“, so die Auszeichnung im Backwarenbereich des Bioladens. Ich bin hellwach, Brot aus Essen, das kann nur ein Kumpelbrot nach alten Rezepten sein. Der Bergmann nannte sein Butterbrot einen Kniften. Also Kniften aus der Reviermetropole. Aber es sieht anders aus, als ich ein Kumpelbrot aus meiner Heimat an der Ruhr kenne. Was denn ein Essener Brot sei, fragte ich die Verkäuferin, deren weiße Schürze sie mit ihrem hellblonden Haar noch weißer erscheinen lässt. Miss Mehl, wie ich sie für mich nenne, antwortet, das habe mit der Stadt Essen nichts zu tun, die Betonung liege auf dem e der zweiten Silbe. „Das kommt von den Essenern.“ Habe ich noch nie gehört. Sie schiebt mir eine Informationsschrift über die Theke. „Von Essenern, einer jüdischen Volksgruppe im alten Palästina, ist überliefert, dass sie das knappe Getreide zum Keimen brachten, um den Nährwert erheblich zu steigern. Durch das Ankeimen der Körner werden die vorhandenen Mineralstoffe, Spurenelemente, Eiweißstoffe und Vitamine in eine für den Organismus optimale Form gebracht.“ Die Blonde hebt ein Brot hoch, das einem „Paderborner“ oder einem „Kastenbrot“ ähnelt. „Das ist zweitauend Jahre alt.“ „So ein altes Brot esse ich nicht.“ Irritiert schaut sie mich an. Schon wieder eine Frau, die mich nicht versteht.

Hugendubel

Muße beim Buchhändler

Dezember. In der Buchhandlung Hugendubel in der Wilmersdorfer Straße von Charlottenburg ist es möglich, die Ware vor dem Kauf intensiv zu – lesen! In zwei Stockwerken sind rote Sessel und ein Liegekuschelbereich aufgebaut, einen Kaffee gibt es zu kaufen. Niemand von Personal des Hauses schaut irritiert oder verärgert, wenn der Kunde liest statt kauft. Ich mache meine Feldforschung und glaube, einige kommen nur, um zu lesen. Ein Girl liegt in der Lesemulde und ist vertieft in ein Buch. Einige ältere Männer, Typ pensionierter Studienrat aus Kaldenkirchen, scheinen zu den Besuchern, aber weniger zu den Kunden zu gehören. In Büchern unaufgefordert erst einmal lesen zu können, hat lobenswerte Vorteile. Als Gernleser von Ulla Hahn fand ich ein Hardcover mit Storys von ihr. Ich wollte zugreifen und zur Kassen eilen, irgendwas warnte mich. Ich las eine Geschichte und legte das Epos trotz Verehrung für die Autorin zurück ins Verkaufsregal. Das Konzept von Hugendubel, die Buchhandlung als Aufenthaltsort mit kleinem Café, wird auch in den anderen Filialen des süddeutschen Unternehmens durchgehalten. So auch in der Filiale am Ende oder Beginn des Kurfürstendamms in Sichtweite der Ruine Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Der Unterschied liegt im Publikum. Es wird dort weniger intensiv gelesen, mehr gilt das Gehabe gesehen zu werden. Verfehlt der Kunde die ersehnte Aufmerksamkeit, greift er zum Handy und telefoniert zu laut. Ich habe darin schon mehr reden hören als lesen gesehen. Wer Muße für die Literatur aufbringt, sollte zwei S-Bahnstationen weiter fahren zur Wilmersdorfer Straße. 

 

Ungerechte Behandlung

Dezember. Die drei Appetitanreger sind dünn wie eine Hostie, aber größer und braun. Und sie schmecken leicht salzig. Dazu gehören drei verschiedene Soßen. Sie werden jedem Gast in dem indischen Lokal „Paras“, Giesebrechtstraße 19, vor dem Hauptgang gereicht. Sollten gereicht werden. Aber je nach Aufmerksamkeit oder Desinteresse des sehr gut deutsch sprechenden Kellners bekommt sie der Gast oder auch nicht. Es ist nicht unüblich, dass die Gäste am Nebentisch sich an den braunen Hostien laben, und man selbst wird von ihm nicht bedacht. Das System der Vorenthaltung ist auch nach mehreren Besuchen in dem sehr geschmackvoll eingerichteten Restaurant nicht zu durchschauen. Vielleicht weiß der Kellner das selbst nicht. Nun mögen die drei sehr dünnen harten runden Scheiben nicht besonders teuer sein, aber der Gast fühlt sich ungerecht behandelt, sogar zurückgesetzt. Auch die in der Nähe arbeitende Friseurin Kathrin, wie ich zunächst von dem Lokal angetan, klagte, einmal habe sie nur die Suppe bekommen, der Hauptgang wurde vergessen. Als sie Lamm bestellte, passte der Kellner wohl nicht auf, er servierte ihr Hühnchen und wollte der couragierten jungen Frau nach ihrem Protest einreden, das Hühnchen sei Lamm. Seit einigen Wochen hat er zwei Kunden weniger. Da halte ich es mit den Engländern: Der Gast beschwert sich nicht, er kommt nicht wieder.

 

Markt der Freundlichkeiten

Dezember. Obwohl die junge Frau ihre Mittagspause hat, unterbricht sie die und zeigt mir das Regal mit den Fischkonserven. Ein Mann, mit grüner Schürze bekleidet, ist um die Erfüllung der Kundenwünsche bemüht. Und bleibt dabei freundlich. Das überrascht den, der im täglichen Einkauf Berliner Ruppigkeiten gewohnt ist. In den Wilmersdorfer Passagen gibt es seit acht Wochen den Bio-Markt „ALNATURA“. Er hat ein gutes Angebot und freundliche Mitarbeiter/innen. Das Publikum tritt anders auf als in Prenzlauer Berg. Dort demonstriert fast jeder Biomarktkunde: Ich habe die bessere Lebensart, ich habe den Durchblick, ich erhebe mich über den typischen Berliner Bulettenfresser. In der neuen Passage im Stadtbereich Charlottenburg kauft die Sachbearbeiterin ein, die allein stehende ältere Dame, der Büffetier des Kant-Cafés. Kaum einer ist Gutverdiener, zumindest gibt es keine Kunden, die den Eindruck erwecken wollen. Vielleicht ist das Klima hier deshalb anders, weil das Unternehmen aus Mannheim ist. Beim Personal habe ich noch keinen Ur-Einwohner erlebt. Eine durchaus beratungskompetente Verkäuferin an der Brottheke stammt aus Schneverdingen ( „Im Zentrum der Lüneburger Heide“ ), die andere aus Ennepe-Ruhrtal.

 

Zitate

„Wer Berlin zur neuen Hauptstadt macht, schafft geistig ein neues Preußen.“
Konrad Adenauer (CDU), Bundeskanzler.

„Licht- und Luftbad Müggelsee“, wird eine Haltestelle der Tramlinie 61 zwischen Adlershof und Rahnsdorf ausgerufen. Das ist die Umschreibung der BVG für das FKK-Bad.

„Das heutige Berlin erinnert mich ein bisschen an dieses New York der siebziger und achtziger Jahre. Die Stadt war arm, in vielen Gegenden schmutzig, gefährlich und voller Bettler und Obdachloser. Gleichzeitig herrschte eine Aufbruchstimmung nach dem Motto: ‚Es kann nur besser werden.‘ Die allgemeine Stimmung damals lässt sich als jung, zukunftsorientiert, mutig, zum Teil auch hemmungslos beschreiben.“
Alfred Biolek, Entertainer.

„Aus technischen Gründen bleibt das Geschäft vorerst geschlossen“, hieß es auf einem Schild der Reichelt-Filiale am Falkenplatz. Wenig später schrieb ein Kunde mit der Hand darauf: „ Aus menschlichen Gründen“. Am Abend zuvor war darin ein junger Wachmann von einem Einbrecher erstochen worden.

„Türkischer Wachmann in Deutschland getötet“, so die Schlagzeile in der türkischen Zeitung „Hürriyet“.

„Prenzlauer Berg ist ja ein Dorf, und wenn die Bäckersfrau weiß, ich bin Weltmeisterin, dann geht es schnatter, schnatter, schnatter – Glückwunsch im Park, Glückwunsch im Café.“
Nadine Angerer, Torfrau der Fußball-Weltmeisterinnen.
„Ich freue mich darauf, in Stockholm spielen zu dürfen, auch wenn Berlin meine Traumstadt bleibt. Coole Clubs, verrückte Menschen.“
Nadine Angerer.

 

Berliner Bilderbogen

Grauer Winter am Großen Müggelsee.

Müggelsee

Strandbad Müggelsee

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