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Juli 2007

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Genscher bei den Roten

Juli. „Was macht der denn hier in diesem Haus“, ruft der Pressefotograf Darchinger durch das Willy-Brandt-Haus. Dort sitzt die Verwaltung des Parteivorstandes der SPD. Hans-Dietrich Genscher watschelt in die tageslichthelle Halle, deren optischer Mittelpunkt eine Skulptur von Willy Brandt ist. Genschers Unterkörper ist beim Gehen recht steif, aus der Hüfte heraus wackelt er wie vom Winde gezaust zu beiden Seiten. Er baut sich auf, die Fotografen balgen sich vor ihm. Von dem Blitzlichtgewitter, das dem Ehrenvorsitzenden der FDP gilt, wollen sein Nachfolger Frank-Walter Steinmeier und Kurt Beck aus Mainz was abbekommen. Die Dreiergruppe wird ausgiebig fotografiert, das Heil der SPD, ihr Generalsekretär Hubertus Heil, steht zu diesem Zeitpunkt unbeachtet einige Meter entfernt, so als sei er beleidigt. Der Anlass ist die Vorstellung eines Buches über sozialdemokratische Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Unter den vielen Autoren des Werkes ist auch Marx – Reinhard Marx, Bischof in Trier, dem Geburtsort von Karl Marx. Hans-Dietrich Genscher war unter Willy Brandt Bundesinnenminister und später Bundesminister des Auswärtigen. Nun sitzt er unter der Skulptur und genießt die Aufmerksamkeit. Mit 80 ist er gut drauf. Bis auf wenige graue Haare an den Schläfen ist sein Haupthaar dunkel; sofern es nicht gefärbt ist. Hubertus Heil stellt deshalb treffend fest, Frank-Walter Steinmeier habe mehr graue Haare als Hans-Dietrich Genscher. Genscher muss wohl noch über Referenten verfügen, denn er liest locker von einem Blatt ein Statement zur Außenpolitik nach ihm. Wieder sind die Pressefotografen aktiv, sie möchten sich das Bild nicht entgehen lassen, der von der FDP unter dem Emblem der SPD. Von dem Bankier Walter Hesselbach stammt der Satz: „Es gibt nur zwei Schurken im Leben. Die sind der Vorgänger und der Nachfolger.“ Nichts hier. Genscher lobt Steinmeier. Danach lobt Steinmeier Genscher. Diplomaten sind sie beide. Während Steinmeier seinen Text verliest, kommt Markus Meckel in den Saal. Gezielt zu spät? Er setzt sich, von den Anwesenden kaum beachtet, in die dritte Reihe. Der Pfarrer Meckel (SPD) aus der Uckermark war vor 17 Jahren der letzte Außenminister der DDR und verhandelte an der Seite Genschers mit den vier Großmächten unter dem Begriff 2 plus 4. Die Geschichte belegt: Die DDR hatte nur einmal ein frei gewähltes Parlament, und das beendete mit großer Mehrheit die Existenz des Staates der Arbeiter und Bauern. An diesem Nachmittag werden in der lichten Halle der SPD-Zentrale nur Artigkeiten ausgetauscht. Damit die vielen anwesenden Korrespondenten auch von Genscher was über die Innenpolitik berichten können, sagt er: „Probleme suchen sich ihre Koalitionen. Und Koalitionen enden, wenn sie sich Probleme suchen.“ Ob er seinen früheren deutsch-deutschen Kollegen Markus Meckel nicht sah oder übersah, ist nicht festzustellen.

Genscher bei der SPD

Zufällige Begegnung

Juli. Der Mann auf dem Bürgersteig der Bölschestraße ist recht farbfreudig gekleidet. Es scheint, als habe er die Luft eingesogen und nicht mehr hinausgeblasen. Hier stimmt der Ausdruck, er kommt mir mit geschwellter Brust entgegen. Seine Kombination ist aus Leinen. „Leinen knittert edel“, hieß mal ein Werbeslogan. Wer dem damals schon nicht glaubte, bekommt es von dem Mann demonstriert. Er schaut nach rechts und links, ob er auch erkannt wird. Es ist die Sucht vieler Prominenter, dass sie möglichst oft erkannt werden wollen. In der Tat schauen ihm einige Gäste aus dem Café Dr. Lehmann nach, die vor dem Lokal an den Tischen sitzen. Der Mann geht auf einen großvolumigen Mercedes mit einem polizeilichen Kennzeichen aus Potsdam zu und öffnet mit großer Geste den Kofferraum. Während er die kantige schwarze Aktentasche darin verstaut, blickt der Mann über das Dach des Autos, ob andere schauen. Peter-Michael Diestel war einst DDR-Meister im Melken. Der jetzige Rechtsanwalt ging als letzter Innenminister des Staates der Arbeiter und Bauern in die Geschichte ein, aber auch als der auf persönliche Auftritte bedachte Präsident von Hansa Rostock. Das Organ der Rechtspflege, Peter-Michael Diestel, kaufte einst aus dem Besitz der DDR eine prachtvolle Villa. Die musste er nach einem Gerichtsurteil wieder verlassen, weil der Verkauf von den Richtern als nicht rechtens gesehen wurde. Er setzt seinen Mercedes schwungvoll zurück auf die Fahrbahn. Peter-Michael Diestel war zunächst Mitglied der DSU. Diese Parteineugründung arbeitete mit der CSU zusammen, war den Bayern dann aber doch politisch zu rechts. Früh schon wechselte Diestel in die CDU. Für Sprüche war er immer gut. Gefragt nach dem Parteiwechsel antwortete er 1990 kryptisch: „In diese CDU kann man ja eintreten.“ Er spielte damit süffisant darauf an, dass sie bis 1989 als Blockpartei alle Entscheidungen der SED mitgetragen hatte. Schnell ist er nach einem Kavaliersstart meinen Blicken entschwunden.

 

Hotel Lehmann

Juli. „...feiern in unbeschwerter Atmosphäre.“ So wird für das „Hotel Aquino“ geworben. Es liegt an der Hannoverschen Straße, gegenüber der früheren Ständigen Vertretung der BRD in der DDR. Es grenzt an den Dorotheenstädtischen Prominentenfriedhof, auf dem Joannes Rau ruht, aber auch deutsche Geister wie Fichte und Herder, Heinrich Mann und Bert Brecht liegen. Es ist nahe bis zur Oranienburger Straße mit ihren Bordsteinschwalben. Doch es ist theoretisch davon auszugehen, dass Gäste des „Hotels Aquino“ diese Sündenmeile meiden. Die Herberge liegt in einem Gebäudekomplex der Deutschen Bischofskonferenz und der Katholischen Akademie. Es wird von der katholischen Kirche betrieben. Zwar wird hier Rezeption noch Reception geschrieben, doch das Haus ist supermodern eingerichtet. Das überladene Barock ist bei den Kirchenfürsten out. Die obersten Katholiken haben einen guten Geschmack – ihr Hotel ist großzügig angelegt, im Innern sehr hell, auf den ersten und zweiten Blick unaufdringlich modern, fast in minimal art ausgestattet. Es gibt nichts Überflüssiges, aber es fehlt auch nichts. Eine gekonnt eingerichtete Herberge, die nicht sofort auf die katholische Kirche schließen lässt. Sachlichkeit ist des Architekten Trumpf. Wer in so günstiger Lage Berlins ein Hotel besitzt, kann die Preise diktieren. Die Katholiken verlangen für ein Einzelzimmer pro Nacht 95 Euro, dazu kommen noch 12 Euro für ein „reichhaltiges Frühstücksbuffet pro Person.“ Das Doppelzimmer ist mit 105 Euro vergleichsweise preiswert. Wer seinen Köter mitbringt, muss für ihn 21 Euro pro Tag/Nacht bezahlen. Die großzügige Anlage wird weltlich für Tagungen und Kongresse vermietet. Offensichtlich heimisch fühlt sich darin die Atomlobby, denn die lädt zu ihren Propagandaveranstaltungen in das Tagungszentrum der Deutschen Bischofskonferenz. „Mehr als ein Gesprächsforum“, heißt es über das Haus in dem Prospekt. Der gesamte barockferne Block mit den vielen Angeboten, darin zu tagen oder zu wohnen, wird mit „Katholische Höfe Berlin-Mitte“ beworben. Das Weinangebot soll hervorragend sein, behaupten Kenner. Und sie behaupten auch, leider sei darunter kein Messwein.

 

Berliner Charme

Juli. Im Bioladen an der Ecke kaufe ich am Samstag in der Frühe noch ein halbes Brot und vier Möhren. Die Kasse zeigt 2,24 Euro. „Großeinkauf, wa?“ holzt die Verkäuferin nach Berliner Art. Frech findet sie die Replik des geborenen Ruhrgebietlers: „Wie, herrscht hier Kaufzwang?“ Pikiert schweigt sie.

 

Bahnbekanntschaft

Juli. Mit Gejohle und spitzen Schreien stürmen Schülerinnen und Schüler die S-Bahn in der Station Wuhlheide. Eine junge Frau springt von ihrem Sitzplatz und rast nach vorn in einen anderen Waggon – sie will lesen. Kurz vor den Ferien haben viele Klassen Ausflugstage. Die Anlage Wuhlheide nahe Köpenick ist eine der besten Hinterlassenschaften der DDR, sie ist ein großzügig angelegter Spielbereich. Sogar eine Eisenbahn für Heranwachsende fährt durch das Gelände. Einige der Bauten wurden von Erich Honecker eröffnet. Das Kinderparadies Wuhlheide hat die DDR überlebt. Die Schüler stürmen auf die noch unbesetzten Plätze der Waggons, klemmen sich zu zweit darauf. Neben mir platziert sich ein Mädchen südeuropäischer Abstammung. Das Kind ist über den Lebenserhalt des Körpers hinaus gemästet worden. Es ist aus dem Wedding und besucht die vierte Klasse der Grundschule. Kinder taktieren nicht, deshalb sind Gespräche mit ihnen informativ. Der Vater sei „nie nett“ zu dem Mädchen gewesen. Er schaue den ganzen Tag Fernsehen. Sie verlebt die Freizeit mit der Mutter meist außerhalb der Wohnung in einem Internetcafé. Dort nutzt das dickliche Mädchen für 50 Cent die Stunde das umfangreiche Spielangebot. „Und ich esse einen Kebab dabei.“ Aha. „Der Vater hat die Mutter schon mit dem Messer bedroht.“ Bisher kannte ich solche Berichte nur aus der Zeitung. Während der Ferien fährt das Kind zur Oma an die Ostsee. „Die wohnte früher in Erfurt.“ Und danach verlässt es Berlin. „Wir ziehen zu dem neuen Freund der Mutter.“ Kinder haben keine Vorstellung von Entfernungen. Mal sagt das Mädchen, der wohne 30 Kilometer von Berlin entfernt, dann 1000. Es hat kein Bild von der Zukunft. Zweimal hat die Schülerin mit dem „neuen“ Freund der Mutter telefoniert. „Der ist nett.“ In den nächsten Tagen verabschiedet sich meine Gesprächspartnerin von ihrer Klasse. „Das macht mich schon traurig.“ Am Ostbahnhof verlässt meine Bahnbekanntschaft mit der johlenden Schülerschar die S-Bahn.

 

Zitate

„Kultur, Schönheit und Desserts“.
Barbara Streisand über Berlin. Und sie aß hier das Lieblingsgericht der Kreuzberger Gourmets – eine Currywurst. Der „Tagesspiegel“: Die habe ihr „sogar“ geschmeckt.

„Die Stadt, die meine Liebe hat. Genau inmitten von der Welt hat sie der Herrgott hingestellt.“
Hildegard Knef

„Kreuzberger Kämpfe sind lang“.
Überschrift im „Tagesspiegel“ zu einem Bericht über Widerstand in Kreuzberg, weil am Landwehrkanal Bäume gefällt werden sollen.

„Hier hat man die Vorteile von Provinz und Großstadt.“
Régis Présent-Griot, Herausgeber der Zeitung „LA GAZETTE de Berlin“. In der Hauptstadt leben inzwischen 11.500 Franzosen. Die Zuzüge aus der Grande Nation steigen und steigen und steigen.

„... Weißt du, wie viel Leute pro Jahr in Berlin als vermisst gemeldet werden?“
„Na, ein paar Dutzend, schätze ich mal, werden das schon sein.“
„Ungefähr 8000!“
„8000?“
(...)
„Die meisten kommen schon zurück, sicher, nach ein paar Tagen oder Wochen ...“
Aus dem Roman von Jens Sparschuh „eins zu eins“.

„Mach Platz, du Penner“, gewöhnungsbedürftiger Umgangston in Berlin.
Laut dem Buch von Georg Diez, Claudius Seidl u. a.: „Schaut auf diese Stadt.“ KiWi-Paperback

„Würzfleisch kommt wie ein Ragout fin in kleinen heißen Keramiktassen, und wenn es gut gemacht ist, schmeckt und sieht es aus wie schon einmal gegessen.“
Ebenda.

„Nur nachtaktive Berliner können den morgendlichen Kaffee langsam schlürfen. Sie bestellen sich eine Riesentasse Milchkaffee. Und bleiben oft bis zum Mittag am selben Tisch kleben.“
Pascale Hugues von „Le Point.“

„Vielleicht sind die Leute grob zu mir, aber ich kann sie nicht verstehen.“
Die Schauspielerin Christina Ricci über die Berliner

„Ignoranz, Anonymität und Gewalt.“
Was der Schauspieler Axel Prahl nicht mag an Berlin.

„Du kommst aus Spandau, Neukölln oder Steglitz. Du bist fett wie’n Ochse oder schlank wie’n Rehkitz“
Die Hip-Hopper „Icke&Er“ in ihrem neuen Album über Berliner Girls.

 

Berliner Bilderbogen

„Berlin zieht an“, behauptete der „Tagesspiegel am Sonntag“, 15. Juli, und verwies auf eine angeblich große Modenschau. „Am Brandenburger Tor wird die Mode der kommenden Saison gezeigt.“ Einen Tag später hieß die Schlagzeile: „Mit der Schau der besten Berliner Nachwuchsdesigner schloss am Sonntag die erste internationale Fashion Week in Berlin.“ Es bleibt noch viel zu tun. Im Berliner Bilderbogen wird hier die Mode der Straße dokumentiert. Denn: „Wir brauchen in Deutschland keine Modemetropole, wir haben bereits eine: Düsseldorf. ... Berlin hat sicher in Sachen Mode einen sehr eigenen Charme; so lässig und reichlich wie in Berlin werden nirgendwo sonst Jogginganzüge auf der Straße getragen.“ Auszug aus einem Leserbrief der „Berliner Morgenpost“, veröffentlicht am 20. Juli 2007.

Mode in Berlin 2Mode in Berlin 3

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