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März 2008

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Aha, deshalb

März. Das Stadion von Union Berlin, „An der Alten Försterei“, ist untauglich für die Profiliga. Deshalb dürfte es für den Club keine Lizenz bis hin zur dritten Liga geben. „Union... stemmt sich gegen einen Umzug etwa nach Prenzlauer Berg in den modernen Jahn-Sportpark“, schreibt der „Tagesspiegel“ am 5. März. Dass es kein Geld vom Land Berlin geben kann, begründet das Blatt: „Doch eine verschuldete Metropole, die Schwimmhallen schließt ..., hat andere Sorgen als dem Profifußball in Köpenick aufzuhelfen.“ Neun Seiten weiter heißt die Überschrift im selben Blatt: „Viele Berliner können nicht schwimmen.“ Da ist es doch logisch, wenn Schwimmhallen geschlossen werden, oder?

 

Nach-Ruf

März. Am äußersten Rand des Friedhofs von Friedrichshagen erhebt sich der graue Grabstein für Ulrich Karbe. Dahinter steht ein Maschendrahtzaun, an dem ein Betonweg entlangführt, der für Durchfahrten gesperrt ist. Es traben Jogger vorbei, mit modernen Sporträdern leben Berliner ihre Freizeit aus, auf der anderen Seite der Strecke werkeln Kleingärtner an der Frühjahrsaufbereitung ihrer Grundstücke. Das Grab ist flach, nichts wächst auf der Brache im märkischen Sand. Es besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass in Friedrichshagen niemand mehr Ulrich Karbe kennt. Seine Lebensdaten sind 20.10.76 bis 17.2.27. Ulrich Karbe starb vor 81 Jahren. Als er geboren wurde, bestand Deutschland als Nationalstaat erst sechs Jahre. In seinem Todesjahr war der greise Berufs-Soldat von Hindenburg gerade zwei Jahre Präsident der ersten deutschen Republik. Auch die über Achtzigjährigen im Ort können Ulrich Karbe nicht mehr kennen, sie waren Kinder, als er starb. Weitere Namen stehen nicht auf dem Stein. Offensichtlich gab es keine späteren Beisetzungen von Verwandten. Es heißt im Volksmund, ein Mensch sei dann „erst“ tot, wenn sich niemand mehr an ihn erinnert.

Grab

Berliner Charme

März. „Einmal den geräucherten Hering, bitte“, so meine Bestellung in der Feinkostabteilung des „Kaufhof Galeria“ am Alex. Das Haus sieht sich gleichrangig mit der Lebensmittelabteilung des „KaDeWe“. „Der Hering heißt Brados“, raunzt die rundliche Verkäuferin hinter der Theke. „Makrele heißt Makrele, Lachs heißt Lachs, Forelle heißt Forelle, Kabeljau heißt Kabeljau, fragen Sie mich nicht warum.“ Ich frage nicht. Inzwischen bin ich berlingestählt und keile zurück: „Der Bismarckhering heißt Bismarckhering, weil ihn der Reichskanzler Bismarck gefangen hat.“ Sie sieht mich an, ob verärgert oder anerkennend, weil ich mit ihr auf Augenhöhe kläffe, kann ich nicht feststellen.

Im „Zentrum für Sportmedizin“ gibt es einen Raum, in dem sich Teilnehmer vor ihren Turnübungen auf Standfahrrädern 15 Minuten „warm strampeln“. Vor dem Einsatz wird unten am Gerät ein Kippschalter umgeworfen. Mein „Fahrrad“ ist im Sattel unpassend zu hoch, ich wechsle auf das daneben. Ein betagte Frau raunzt: „Strom abschalten.“ Ihrem Befehl folge ich nicht und frage: „Sind Sie hier die Besitzerin?“, wohl wissend, dass dieses Institut vom Senat betrieben wird. „Wollen Sie denn nicht Strom sparen?“, setzt sie überlaut nach. „Zuletzt habe ich so einen Ton in der Schule gehört“, wage ich zu widersprechen. Sie gibt nicht auf: „So frisch sind Sie aber auch nicht mehr.“ Eine Frau daneben lacht überlaut. „Ich bin so einen Ton nicht gewohnt und möchte ihn auch nicht mehr hören.“ Zumindest schweigt sie nun. Da Blicke nicht töten können, bleibe ich quicklebendig im Sattel.

Im Sportraum bewegt eine andere Frau an einem Gerät mit einem Gewicht daran ihr Bein nach hinten und zurück. Ihre Übung dient wohl der Muskelstärkung. Die Sportlehrerin empfiehlt ihr, die Bewegungen leicht zu beschleunigen. Prompt kläfft die Turnerin: „Sie wollen wohl eher nach Hause, wat?“ 

 

Feldforschung mit Musik

März. Der S-Bahnhof Savignyplatz hat zwei Ausgänge. An einem sind unten Verkaufsstände, er ist attraktiver als der Ausgang gegenüber. Dort führt eine Treppe hinunter auf eine unattraktive Straße. Zwei alterschwache Pendeltüren bewegen sich im Wind. Hinter ihnen sitzt auf einem kleinen Klappstuhl ein Mongole und spielt meist die stets gleichen Melodien auf seinem Akkordeon. Vor seinen Füßen liegt eine Mütze mit ein paar Cents darin. Über ihm donnern die Bahnen über eine graue Brücke. Auch an sonnigen Tagen ist sein Platz sehr zugig. Ich mache eine nicht repräsentative Feldforschung über mitleidige Spender. Kleine Beträge in die Mütze legen durchweg Menschen, deren Kleidung keinen Wohlstand erkennen lässt. Modisch gekleidete Geschäftsleute oder dekorierte und mit Schmuck behängte Wohlstandswitwen gehen wie achtlos vorbei. Offensichtlich gibt jener eher etwas, der selbst wenig hat. Weil er fühlt, wie schnell ein Mensch sozial abstürzen kann?

 

Verkauf des Verstecks

März. Das verfallene Haus einer ehemaligen Bäckerei ist unansehnlich. Schon vor dem Zusammenbruch der DDR wurde darin kein Brot mehr gebacken.Biermann-Versteck Der Schikanen überdrüssig, gab der Besitzer den Betrieb auf. Die seit vielen Jahren unbewohnte Ruine hat eine besondere Geschichte. Als Wolf Biermann von der Staatssicherheit gesucht wurde, versteckte er sich dort bei Bekannten. Vier Wochen lang war er vor der Staatssicherheit sicher. Inzwischen spielten darin Kinder. Nach Angaben eines Nachbarjungen befinden sich in dem schummrig dunklen Innern nur noch einige verrostete Einrichtungen. Für den optischen Schandfleck gegenüber einem gut geführten Restaurant mit dem eher rheinischen Namen „Rolands-Eck“ verlangte eine Erbengemeinschaft laut Internet 180.000 Euro. Die wird sie bekommen haben. Viele Bewohner im näheren Bereich um die Scharnweberstraße erinnern sich noch an die Person des Bäckers, Wolf Biermann wurde hier nicht gesichtet. Er hatte sich gut versteckt.

 

Erichs Erben

März. „Mama, die Sachen sind aber preiswert“, kräht bei „Kaiser’s“ im früheren Ostberlin ein etwa vierjähriger Junge. Ich bin überrascht, wie sicher er den Ausdruck benutzt. Als Heranwachsender war ich mal sehr verunsichert, als bei Hettlage in Recklinghausen meine Mutter die Verkäuferin fragte, ob sie nicht was im Angebot habe, das „preiswerter ist“. Ist denn das Jackett den Preis nicht wert, fragte ich. Eine Antwort erhielt ich nicht. Der Frau in der Warteschlange hinter mir sage ich, wie es mich überrascht, dass der kleine Bursche den Begriff preiswert kennt. Sie: „Billiges gibt es ja heutzutage nicht mehr.“ Dabei legt sie „preiswerte“ Waren auf das Rollband vor der Kasse, für die sie zu Erich Honeckers Zeiten bei geringem Verdienst ihr Geld mindestens 7:1 in DM hätte tauschen müssen, um die überhaupt im Intershop zu bekommen. Als dasselbe Gebäude noch „Kaufhalle“ hieß, waren solche Waren nicht im Angebot. Wie sangen sie im Ruhrpott zu Geburtstagen: „Wenn auch die Jahre enteilen, bleibt die Erinnerung doch.“ Falsch. Die ist hier futsch.

 

Streik des Sprechautomaten?

März. Verdi ruft am 4. März zu einem Warnstreik. Ich möchte eine Mitarbeiterin der Gesundheitssenatorin am Telefon sprechen. Die hat eine festgelegte Anrufzeit zwischen 10 und 14 Uhr. Zu hören ist eine mechanische Stimme, die noch einmal die Zeiten nennt und/oder erklärt, es könnte auch eine Besprechung im Hause sein. Anrufe zeichnet das Gerät nicht auf. Es könnte sein, dass die Sachbearbeiterin streikt. Ich rufe zwei Stunden später an. Es wird nicht, auch nicht automatisch abgehoben. Ob sogar der Sprechautomat streikt? Was für ein Erfolg für meine Gewerkschaft.

 

„Graffiti-Hauptstadt Europas“

März. „Berlin ist die Graffiti-Hauptstadt Europas“, behauptet die angesehene US-Zeitung „New York Times“ voller Begeisterung. Von den „Café-reichen Straßen Kreuzbergs“ bis zu den „belaubten Schulhöfen in Grunewald“ beherrschten Graffiti das Stadtbild. Stimmt. Viele Einheimische sehen darin eher eine Verschandelung, sogar die Entwicklung zu Slums. Das Blatt aus New York sieht in den Schmierereien ein „Zeichen der Weltoffenheit und Liberalisierung“. Und schwärmt: „Wie die Mode, die vielen Galerien, die Filmszene, das Nachtleben könnte das eine weitere Facette sein, die Berlin interessant macht.“ Dann kommt es zu einer von Unkenntnis getragenen Analyse: Diese Straßenkunst sei als Zeichen der Befreiung vom Kommunismus und der Wiedervereinigung zu verstehen. Doch nicht, weil es hinter der Mauer keine Spraydosen gab? 

 

Sports-“Geist“

März. Die Gäste in meiner Stammkneipe sind aufgekratzt und bester Laune. Sie kamen bis auf wenige Ausnahmen von dem Regionalligaspiel Union Berlin gegen den „alten Rivalen aus der DDR“, Rot-Weiß Erfurt. Weil der Gegner gut spielte, wie sie einräumen, aber wegen des 1:1 nur einen Punkt mit nach Thüringen nahm, sind sie gut drauf. An die weiße Wand des Lokals werden die Spiele der Bundesliga projiziert. Plötzlich ein tierischer Schrei aus vielen unierten Kehlen, der Karlsruher SC hat in Dortmund zum 1:1 ausgeglichen. Diese badische Stadt liegt von Berlin gesehen weit weg. „Verdammte Ruhrpott-Kanaken“, ruft ein Ballfreund und begründet den Jubel aller Personen. Nach den Bundesligaspielen wird umgeschaltet auf den MDR. Zu sehen ist die Begegnung Dynamo Berlin mit „Stasi-Geyer“ als Trainer gegen Rot-Weiß Erfurt. Die Sachsen sind verhasste Gegner aus den für die Union schweren Zeiten in der DDR. „Ein Baum, ein Strick, ein Sachsengenick“, dieser Ruf wird beklatscht. Rot-Weiß Ahlen schlägt die Dresdner mit 3:1. Wieder Jubel. „Ist doch gut gewesen, wie die Ruhrpottmonster gespielt haben“, wage ich laut zu sagen. Niemand antwortet. Dass Ahlen im Münsterland liegt und nicht im Ruhrgebiet, das weiß von denen niemand.

 

Unübliche Begegnung

März. Wildschweine kannte ich nur aus dem Zoo. Und dort sah ich sie in sicherer Einzäunung. Sie stehen mir nicht nah. Nun aber doch, und zwar dreißig Meter nah. Und nicht im Zoo. Ich erlebe, was freie Wildbahn heißt. Die unübliche Begegnung geschieht am Rande der Bundeshauptstadt. Knapp fünfzig Meter hinter mir arbeitet ein Wasserwerk, rechts verläuft die sehr intensiv befahrene Straße nach Rahnsdorf, gelegen in den Grenzen von Berlin. Und dahinter schimmert das Wasser des Großen Müggelsees durch eine schmale Waldanlage. Links von mir ebenfalls ein Wäldchen. In dem stehe ich nun zwei Wildschweinen gegenüber. Der Eber hat eine beachtliche Kammhöhe, beide Tiere zeichnet eine breite Kampfbrust aus. Der Schweinemann betrachtet mich rivalisierend, nimmt optisch Maß und überschätzt mich, denn er zieht sich wenige Meter zurück. Durch das vergilbte Laub sehe ich nun noch eine Schar von Frischlingen unbekümmert schnüffeln. Ohne es schon mal gelesen zu haben, hätte ich es auch so gewusst, gerade während der Aufzucht sind die Tiere besonders angriffsbereit. Und ich las mal, Wildschweine seien sehr schnell bei der Verfolgung ihrer Beute. Flucht ist der Mut des Intelligenten. Langsam, um nicht ein Signal der Angst zu geben, weiche ich zu den Leitplanken der Straße, steige darüber und springe durch den Autoverkehr auf die andere Seite der Fahrbahn. Es ist der letzte Sonntag im März. Es hätte überhaupt mein letzter werden können …

 

Zitate

„Was mir an Berlin fehlt, ist das Meer.“
Schauspielerin Andreja Schneider. 

„Ich bin im Wedding aufgewachsen, am Gesundbrunnen, ich gehöre in diese Gegend.“ So die Schauspielerin Cornelia Froboess. „Als wir Berliner Nachkriegskinder statt Spielplätze nur die Höfe hatten und in den Ruinen zwischen Minen- und Bombengräben gespielt haben – diese Zeit ist die schönste meiner Kindheit.“

„Heimat ist für mich Berlin.“
Jocelyn B. Smith, in New York geborene Sängerin

„Berlin ist der beste Ort, um über Europa nachzudenken und von der London-Paris-Achse wegzukommen.“
Michael Kimmelman, Kunstkritiker der „New York Times“.

„Die 18 Jahre kurze Geschichte der Berliner Republik scheint so glanzlos. Außer einem schon wieder zerfallendem Holocaust-Mahnmal, mutlosen, dafür überdimensionierten Bauprojekten wie Kanzleramt oder Hauptbahnhof und einer selbstgefälligen Partyszene ist nicht viel Großes entstanden.“
David Baum in der Beilage der „Süddeutschen Zeitung“ vom 7. März 2008

Allee-am-Hauptbahnhof

„Die Wohnblocks zwischen Landwehrkanal und Sonnenallee werden von körnerpickenden Junglehrern übernommen. Wenn die Mieterstruktur kippt, merkt man das immer zuerst an der gelben Tonne. Eines Tages öffnet man den Deckel, und statt den üblichen Schnapsflaschen, Essensresten und Männermagazinen findet man säuberlich ausgespülte Joghurtbecher. Statt nach Schimmel und Schnaps riecht die Tonne dann nach hochgiftiger Moralinsäure.“
Der Schriftsteller Uli Hannemann über die Veränderung seines Kiezes Nord-Kreuzberg.

„Millionen Touristen fallen Jahr für Jahr in Berlin ein, nachdem man ihnen erzählt hat wie unglaublich hot oder cool es hier ist, und wenn sie abreisen, denken sie, sie hätten Deutschland gesehen und einen Blick auf dessen wahren Charakter erhascht. Aber wie die meisten haben sie bloß knurrende Taxifahrer erlebt und feixende Kellner in irgendeinem überteuerten Restaurant auf dem Ku’damm. Berlin ist die übellaunigste Stadt Deutschlands und die untypischste. Gut möglich, dass sie auch, wie die Berliner behaupten, die charmanteste ist. Aber es ist ein Charme, der tief im Unterirdischen schlummert, wie die nuklearen Brennstäbe in Gorleben. Ich wohne schon eine Weile in Deutschland, und das auch durchaus gerne, doch mir war klar, dass ich mein Lebtag brauchen würde, um die Berliner lieben zu lernen.“
Roger Boyes, Korrespondent der „Times“, in seinem sehr unterhaltsamen Buch „My dear Krauts“; Taschenbuch von Ullstein.

Aufgefallen

„Funktionäre und Menschen wohnen hier.“
Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff im „Tagesspiegel“ vom 10. März 2008. Welch ein ungeheurer Satz! Menschen das Mensch-Sein abzusprechen, war der Stil der Nazi-Propaganda!

 

Berliner Bilderbogen

Das Foto dokumentiert, im Kanzleramt (Hintergrund) wird wegen des Klimaschutzes der Fuhrpark umgerüstet. Das Gefährt (im Vordergrund) ist längerfristig für Reisekader Angela Merkel gedacht.

Kanzleramt

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