Leseproben
Auszug aus:
Hans Dieter Baroth
Aber jetzt ist überall Westen
Tagebuch, Berlin 1994
Der Sturm auf die Schilder
3. Juni 1991. In der früheren DDR werden tote Dichter verfolgt. Das Berliner Fahrgastschiff Heinrich Mann verlor seinen Namen und heißt nun Sachsen. Es wurde berichtet, daß in dem Ort Delitzsch bei Leipzig die Heinrich-Heine-Straße den Namen Königin Luise erhalten soll. Heinrich Mann verschwindet in Schwerin vom Straßenschild. Das frühere Berliner Fahrgastschiff Bertolt Brecht heißt seit wenigen Wochen Sachsen-Anhalt. Hierauf wurde an Karfreitag ein Anschlag mit einem Feuerlöscher verübt. Meinten die Angreifer Brecht oder Sachsen-Anhalt? Die Johannes R. Becher läuft unter Mecklenburg aus. Gerade 50 Mark kostete die Umbenennung auf dem Amtsgericht Charlottenburg - so preiswert kann ohne Selbstkritik Geschichte abgestreift werden.
In Stralsund merkten die aktiven Vergangenheitsbewältiger noch rechtzeitig, daß der Autor Kurt Tucholsky in den alten Bundesländern durchaus angesehen ist.
Auf dem Gebiet der weggewählten DDR gibt es einen oft peinlich anmutenden Schildersturm, der vielleicht ablenken soll von der noch ausstehenden Vergangenheitsbewältigung. Die Schriftstellerin Freya Klier ist 1988 von den Mächtigen der DDR ausgewiesen worden. Sie ist deshalb unverdächtig. Freya Klier über den Schildersturm in Suhl: "Den Rotstift her für Thälmann- und Marxplatz, für Pieck- und Leninstraße. Eifrig wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn plötzlich gilt auch Rosa Luxemburg nicht mehr als straßenwürdig, sollen selbst die Geschwister Scholl aus der Erinnerung gestrichen werden - ein Schlußstrich, der nach Verdrängung riecht."
Der Name der von den Nazis wegen Widerstand ermordeten Geschwister Scholl sollte auch in Chemnitz von einem Straßenschild verschwinden. Da gab es Widerspruch. Angeblich stammte der Vorschlag von einem Sachbearbeiter im Chemnitzer Ordnungsdezernat. Fakt und Vergangenheitsbewältigung von Chemnitz sind aber: Die Friedrich-Engels- heißt nun Fürstenstraße. Die nach dem Schriftsteller Erich Mühsam benannte wird umgetauft in Hohenzollern, Karl Liebknecht muß Bismarck weichen.
In Görlitz durften nach einer Kampfabstimmung die französische Physikerin Irene Joliot-Curie und der bedeutende deutsche Pädagoge des 19. Jahrhunderts, Adolf Diesterweg, auf den Schildern bleiben. In der Zeitung "Wochenpost" heißt es dann aber: "Dafür traf es den größten russischen Dichter Alexander Puschkin vernichtend. Die östlichste Stadt Deutschlands und damit Tor zu slawischen Ländern hielt es für notwendig, diesen Großen der Weltliteratur abzuschießen. Die nach ihm benannte Straße heißt jetzt sinnigerweise Schützenstraße."
In einem Leserbrief schreibt Abonnent Wolfram Sturm aus Leipzig im selben Blatt: "Bei einem Besuch in Oschatz mußte ich feststellen, daß demokratisch gewählte Kommunalpolitiker die August-Bebel-Straße in Hospitalstraße und die Puschkinstraße in Brüderstraße umbenannten. Mir ist unklar, was man den beiden Männern wohl vorwerfen könnte? Ob im Ort vielleicht bekannt ist, daß der eine aufrechter Demokrat war und der andere sogar als russischer Goethe bezeichnet wird?" Und eine Christel B. aus Frankenberg schreibt in der "Wochenpost": "Unlängst verlangte ein Einwohner unserer Stadt, daß die August-Bebel-Straße künftig den Namen irgendeiner adligen Dame aus dem 16. Jahrhundert erhalten soll."
Dieser ostdeutsche "Kostümwechsel", wie Freya Klier das nennt, führt nicht nur zu peinlichen, mehr zu instinktlosen Handlungen. In Heiligenstadt, wo des Bundeskanzlers Allianz für Deutschland bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 über 80 Prozent der Stimmen erhielt, ist vom Rathaus eine Gedenktafel entfernt worden. Dort waren 1933 Antifaschisten zusammengetrieben und umgebracht worden. An diese Schandtat wird nicht mehr erinnert. In Eisenhüttenstadt wurde ein Antrag von Bündnis90/Grüne abgelehnt, den Platz der deutsch-sowjetischen Freundschaft umzubenennen - dort liegen über 4 000 Opfer der Nazis begraben. Inzwischen ist die Korrektur der Geschichte in der Stadt fast abgeschlossen. So heißt die Straße der Arbeiterjugend bald nach dem Gründer der christlichen Arbeiterbewegung Adolf Kolping. Die neuen Titelträger sind aber noch so unbekannt, daß die "Norddeutsche Zeitung" von Adolf Kolbing schrieb. In Rostock verschwinden die Namen des von den Nazis erschossenen John Schehr und des mit dem Fallbeil hingerichteten Etkar André.
Marxwalde heißt nun wieder nach dem preußischen Minister Neu-Hardenberg. Der Marx-Engels-Platz in Berlin-Mitte wird bald wieder Lustgarten. Die Verkäuferin Marion Mielke aus demselben Stadtteil: "Vorsichtshalber haben wir auf den neuen Drucksachen die Anschrift für unseren Bonsai-Laden so angegeben: Nähe Rosenthaler Platz." Nur der Kenner versteht die Pointe: Der Laden liegt an der Wilhelm-Pieck-Straße. Es ist offen, ob die Wilhelm-Pieck-Straße "rückbenannt" wird, wie es die "Berliner Zeitung" formulierte. Volker Hobrack (SPD), Leiter der Arbeitsgruppe zur Umbenennung in Berlin-Mitte: Pieck habe als erster Staatspräsident der DDR in der deutschen Geschichte eine zwiespältige Rolle gespielt. Dem halten Bündnis90/Grüne entgegen, auch Bismarck und Hindenburg hätten keine unumstrittene Position. Varianten für die Wilhelm-Pieck-Straße sind derzeit Elsäßer- oder Lothringer-, aber auch "Torstraße."
Mit einer kaum noch zu verstehenden Verbissenheit wird darum gestritten, daß zwei Seitenstraßen der Berliner Frankfurter Allee die Namen zweier französischer Widerstandskämpfer verlieren sollen. In den tumultartigen Auseinandersetzungen schlug ein Teilnehmer vor, alle Straßen dort so wie vor 30 Jahren zu benennen. Dann hieße die Frankfurter Allee wieder Stalinallee.
Der Eifer der Bewältigung schafft peinliche Heiterkeit. In Buckow verlor die Karl-Marx-Straße ihren Namen und heißt nun Königsstraße. In dem von Immobilienhaien umworbenen Kleinmachnow bei Potsdam ist der Ortsmittelpunkt völlig schilderlos. An der leeren Stelle stand früher der Name des für die Misere der DDR völlig schuldlosen Karl Marx. In Stendal darf nach der Einheit die Straße der Einheit nicht mehr so genannt werden - nun steht auf den Schildern Rathenower.
Auch der Name des Dichter Johannes R. Becher verschwindet aus Ostdeutschland. Doch dieser Autor war 1990 der meistzitierte Dichter in Deutschland. Von ihm stammt der Satz, den Kohl und Modrow ständig im Munde führten: Deutschland einig Vaterland. Die ihn zitierten, wußten wohl nicht, daß er von Johannes R. Becher stammt.
In der Wohnwabe der Stasihochburg
7. März 1992. Abschiedstag vom Marzahner Ortsteil Ahrensfelde, der Plattenbausiedlung Ost, in der ich länger als ein Jahr gewohnt habe. Gewissermaßen illegal. Die im kargen Oststil eingerichtete Wohnung war mir überlassen worden von einem Mann, der bei seiner Freundin lebt. Sein angemietetes Domizil sollte gehortet werden, wie es in der DDR oft üblich war. Es soll nun "ein paar Ecken weiter" gehen, nach Hohenschönhausen, einem Stadtteil im Osten, über den es einmal in einem Fernsehbericht hieß, dort lebten rund 6 000 arbeitslose ehemalige Stasileute. Mein sogenannter Vermieter wird in dem Siedlungshaus des nach Hamburg abgewanderten Vaters am Berliner Stadtrand mit Freundin und deren Kind leben, in ihrer Wohnung soll ich künftig zu Hause sein; wiederum illegal, ohne Anmeldung bei der Stadt und Wissen der Baugesellschaft. An diesem Samstag graut ein Hochnebel alles konturenlos ein. Der Wohnungsinhaber ist am Morgen in einem blauen Möbelwagen vorgefahren. Einige vierschrötige Männer, seine Arbeitskollegen, helfen ihm beim Umzug. Sie kommen in die Wohnung, grüßen knapp, packen ohne große Gesten kräftig und sicher zu. Ich habe das Gefühl, Ausländern gegenüber zu stehen, deren Reaktionen auf Gesagtes nicht vorauszuberechnen ist. Nur kein falsches Wort, das könnten die mißverstehen. Sie kommen, wie ein Mann aus der Akademie der Wissenschaften oft meinte, aus einem völlig anderen Kulturkreis - wie Kurden? Ich fahre mit dem Wagen in die neue Wohnung nach Hohenschönhausen. Breite eintönige Straßen, wo kärgliches Grün nach den Vorstellungen der Bürokraten aufgehen sollte, ist jeder Quadratmeter mit Blech zugeparkt. Vor dem Haus eine riesige Wasserlache, offensichtlich ist ein Abfluß defekt. Es sind 21 Autos auf einer Straßenseite geparkt, 14 davon liefen von Fabrikbändern des Westens. Bretter liegen verstreut umher, wie auf einer Baustelle. Es sind die ersten Anzeichen einer Überflußgesellschaft.
Die Wohnung der Freundin des bisherigen Vermieters liegt im zehnten Stockwerk einer grauen Betonwand am Rande von Hohenschönhausen, dahinter eine verwilderte Landschaft. Im Flur riecht es nach armen Leuten. "Ausländer Raus", "Deutschland den Deutschen", Hakenkreuze, vor dem laut im Schacht rumpelnden Aufzug auf dem Fußboden eine Zeitung, hinter der stets ein kluger Kopf stecken soll. Ein Abonnent in diesem verwahrlosten Gebäude? Wenn das ein Werbeexemplar ist, gehört der Leiter der Reklameabteilung entlassen.
Die Wohnung ist dunkel, es riecht in ihr übel, schmutzig ist nicht nur die Toilette, der Blick vom Balkon nimmt etwas die beim Einziehenden aufkommende Depression - zwei Kilometer entfernt die Skyline von Marzahn, aus der Entfernung imposant, sich modern hervorhebend aus dem wilden Wald mit einigen kleinen ungepflegten Teichen. Ein Spiegel am Kopfende des langen Wohnungsflures macht ihn optisch länger. Die für den Tag engagierte Putzfrau hält ihn einen Moment lang für eine Tür und will hindurch in den vorgetäuschten Bereich. Sie bemerkt den Irrtum eine handbreit vor der Realität. Das Telefon auf den Tisch ist knallrot wie bei einer Ortsfeuerwehr im Westen, jedoch klobiger. Einzelne grob und eckig sowie sperrig gebaute Möbel stehen ungepflegt in den zum Teil leeren Räumen. Ich spüre etwas Würgendes im Hals.
Im Hausflur unten auf einem größeren Aufdruck der Hinweis, daß die Straße den Namen des Erich Correns, des ersten parteilosen Vorsitzenden des Präsidiums des Nationalrates der DDR, so der Bandwurmtitel, verlieren soll. Das koste viel Geld, und das zu einer Zeit, wo doch Kindergärten abgewickelt würden und andere Probleme die Menschen hier beschäftigten. "Rote Säue" hat jemand, wohl klammheimlich, mit einem dicken Filzstift darüber geschrieben.
Während die Männer ausladen und die Möbel im HO-Stil in den Aufzug bugsieren, mache ich meinen ersten Informationsgang in das neue Stück der alten DDR. Kaisers eröffnet zwei Tage später ziemlich in der Nähe einen Supermarkt. Nach dem Reißbrett wurde eine kleine Ladenstraße angelegt. Am Kopf ein Geldautomat der Sparkasse. Hier stehen vielleicht 20 Menschen geduldig, so wie sie es gelernt haben und noch immer empfinden sie dabei keinen Widerwillen. Das Anstehen scheint sogar mit einem Glücksgefühl gepaart zu sein - wie überall in Ostdeutschland wird wohl das Abheben vom Geldautomaten die konkrete Übersetzung der Fernsehwerbung ins reale Leben sein, endlich selbst im Spot zu sein, way of life. In den meisten Geschäften wird angeboten was wie Menschen nicht brauchen. Vor dem Laden mit der billigen Elektronik stehen nach dem Automaten die meisten möglichen Kunden.
Ein von mir angesprochener Mann erläutert geduldig den Weg in ein versteckt liegendes ehemaliges HO-Kaufhaus, dort sei das Angebot besser als bei einem anderen, ebenfalls in der Nähe. ...
Im einzigen Restaurant kostet jedes Schnitzel, ob als Schweizer Art deklariert oder Wiener, jeweils 9,90 DM; es soll sich zusätzlich auch noch um ein Café handeln. Der Betrieb hat noch den spröden Charme der DDR - die Bedienung, eine streng gekleidete dralle Frau, die eher Vollzugsbeamtin sein könnte, weißblond das Haupthaar unsorgfältig gefärbt, kommt nach einiger Zeit und schaut den Bestellenden gleichmütig, mit fast leerem Fischblick emotionslos an. Zwei Tische weiter löffeln zwei junge Männer gierig ihr Eis. An einer anderen Stelle sitzen ein besser gekleideter Jüngling mit einer Brünetten, die ebenfalls dezent layoutet ist und deren kurzer Rock nicht unziemlich wirkt. Beide erheben sich nach einiger Zeit gleichzeitig, scheinen sich hiernach nach oben zu recken, sie streift mit gering beringter langer Hand einige unsichtbare Krümel vom Rock, beide sehen sich aus nächster Nähe, so als küßten sie sich gleich, das Paar inszeniert seinen Abgang. Westberliner! Erst in der noch alten Ostberliner Umgebung fallen jeweils die gespreizten Auftritte der Westler auf.
Das Schnitzel schmeckt intensiv nach Schweinefleisch, die Pommes frites sind zu pampig, der Salat ist mit einer weißen Soße sparsam bespritzt. Draußen ist alles grau. Wie in Storms Gedicht, Am grauen Meer, am grauen Strand, und seitab liegt die Stadt.
Sonntag Morgen, es klingt so, als spielten Kinder in dem karg möblierten Schlafzimmer. Es ist der Nachwuchs eines Nachbars über mir oder daneben, die Richtung ist nicht genau zu orten, aber jedes Wort zu hören. Ich lese aus einem Brief der Schriftstellerin Brigitte Reimann, veröffentlicht 1983. Gelebt hat sie von 1933 bis 1974. Über eine ähnliche Siedlung in Hoyerswerda klagt sie am 11. Juni 1963: "Mir bereitet es psychisches Unbehagen, wenn ich durch die Stadt gehe - mit ihrer tristen Magistrale, mit Trockenplätzen zwischen den Häusern, wo Unterhosen und Windeln flattern, mit einer pedantischen und zudem unpraktischen Straßenführung, die die Erfindung des Autos ignoriert, mit Typenhäusern, Typenläden, in denen man eben nur seinen Bedarf an Brot und Kohl deckt, mit Typenlokalen, die nach Durchgangsverkehr und Igelit riechen."
Die neue Kaufhalle ist eröffnet. Zu jeder Tageszeit ist sie stickig überfüllt. Inzwischen scheinen die Menschen weniger hastig und gierig zu sein, aber die Einkaufswagen sind durchweg auffallend voll beladen, so als wollten die Kunden doch noch die verlorenen Jahre des Verzichtenmüssens auf diese Weise ausgleichen. Bei mancher älteren Frau fühle ich mich gelegentlich an einen Habicht erinnert, jeweils stechende herausfordernde Blicke prägen das Gesicht, wenn eine Ware, zum Beispiel an der Bäckereitheke, herausgesucht wird. An den Morgen rund zehn Minuten vor acht stehen bis zu 15 Menschen artig in einer Schlange und warten würdelos auf die Öffnung, die von den Verkäuferinnen pünktlich zelebriert wird. Tage später haben sie sich eine andere Form ihrer Macht einfallen lassen -: die Tür ist weit geöffnet, aber niemand darf vorher über die Schwelle; und die Menschen stehen trotzdem Morgen für Morgen vor Kaisers. Ebenso stoisch und stolz, selbst noch in der tiefen Dunkelheit nach der Tagesschau am Geldautomaten.
Der Weg in das Hochhaus durch die breit angelegten Straßen vorbei an der schier endlos scheinenden Reihe der geparkten und liebevoll gepflegten Autos wird jeweils zu einer Tortur - wie am imposanten Kölner Dom gibt es um die bewohnten Betonwände ständig die kalten wirbelnden Fallwinde, die dem Ankömmling bis in den April stechend ins Gesicht wehen.
Im Aufzug, der knarrend ab- oder aufwärts stöhnt, grüßen sich die Bewohner kurz und blicken dann, wie überall auf der Welt, in der Enge aneinander vorbei. Zwei Stockwerke unter mir steigt er ein, der sogenannte Fascho: Fliegerbluse, Glatze, speckig angefressener Schweinenacken, Militärstiefel - er grüßt nicht, auch nicht zurück. Ausländer raus - die häßlichen Deutschen möchten unter sich bleiben. Der Mann ist hochgewachsen. Er schaut auf die Aufzugtür, ich spüre seine eisige Ablehnung. So einem möchte ich nie vor dem Baseballschläger geraten. Es ist kalt in dem kleinen Käfig abwärts.
Mitte Mai in der klinisch weiß ausgebauten Apotheke, die eher an einen Empfangsraum eines Krankenhauses in den USA erinnert, wie er in einer Fernsehserie von den Kulissenbauern präsentiert würde. Wegen einer sehr schmerzhaften Schleimhautentzündung des Magens frage ich nach einem lindernden Produkt aus Westdeutschland. Noch im Sommer 1990 war ich in Köpenick nach dem Siegeszug der DM mit dem Wunsch bei einer sich auf den neuen Trend durch Freundlichkeit eingestellten Frau gescheitert; sie hatte noch nie davon gehört und sich den Namen neugierig aufgeschrieben. Nun im Mai 1992 befinden sich einige Frauen in dem kühl wirkenden Raum. Eine an meiner Seite erkundigt sich nach einer Medizin. Die koste "aber" 34,50 DM. Die magere Kundin fragt leise etwas zurück. Wohl nach der Menge, den Schluß läßt die Antwort zu. Sie überlegt sehr lange, völlig still in der Apotheke stehend, der fragende Blick der Weißbekittelten ruht auf ihr, dann schüttelt sie den Kopf und geht festen Schrittes hinaus. Auch einer zweiten Frau wird direkt nach der Frage gesagt, ihr Gewünschtes koste "aber" 13,80 DM.
Bei meinem Magenmittel sucht die junge hochgewachsene Apothekerin hinter dem Ansatz einer Theke in ihrem Computer. Sie dreht ihn mir zu und die Hand geht von oben nach unten über den flimmernden Schirm, um zu demonstrieren, wie viele leicht abweichende Mittel es von derselben Firma gibt. "Ihres kostet aber 16,40 DM". Es ist anders als im Westen. Dort wird dem Käufer eine Palette ähnlicher Präparate genannt sowie die vom Hersteller verlangte Preisspanne. Ein Westler macht dann ein Gesicht, so als interessiere ihn die Höhe des verlangten Geldes nicht oder er trägt witzig vor, für so wenig Krankheit wolle er es mal mit dem preiswerten Angebot versuchen. Nie kommt ein "aber" vor der Zahl.
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Es ist der 25. Mai 1992. Ein vom Wetter heißer Montag, zu warm für die Jahreszeit. Wann hat es im Mai schon einmal eine Temperatur von fast 30 Grad Celsius gegeben? Im Einkaufsbereich flanieren die Familien, süchtig und stolz sowie auch prahlerisch Eis schlürfend. Vor dem Geldautomat die längste Schlange seit meinem Zuzug nach Hohenschönhausen. Viele Frauen tragen immer weniger. Die eng anliegenden farbigen Höschen erinnern an die Nutten am Bahndamm in Düsseldorf. Kartoffel- und bierbäuchige Männer in kurzen, meist farbigen Turnhosen bilden den spießigen Kontrast. Kinder plärren nach irgendwelchen Süßigkeiten, genervte Mütter reißen sie von Ständen, ständig gedemütigte Asiaten bieten vor dem Supermarkt ihre Zigaretten ohne Steuerbanderolen an. Zu Hause angekommen lese ich im "ND", wie in Hohenschönhausen am Vortag für das Bezirksrathaus gewählt wurde. Mit 55,2 Prozent Wahlbeteiligung liegt der Bereich im unteren Mittelfeld. Die CDU erhielt 13,8 Punkte; SPD 27,3; PDS 35,5; FDP 3,3; Bündnis 10,3 und REP 5,2.
Am Abend ein nachkartender Bericht über die Wahlen in SAT 1. In Hohenschönhausen, so heißt es vom Sprecher mit erkennbarer Empörung vorgetragen, herrschten die Kommunisten. Wie in den anderen Betonburgen sozialistischer Baugesinnung auch. Kommunisten? Die Nachbarn alle, die ihr Bier trinken und eigentlich noch mehr und unbefangener konsumieren wollen, mit Frauen, die westlich gepflegte Damen sein möchten und dabei abrutschen zu optisch unfreiwillig gestylten Flittchen? Bis zu diesem 25. Mai 1992 hatte ich von Kommunisten immer ganz andere Vorstellungen.
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Der meist schmutzige und mit Parolen zusätzlich wenig heimelig gestaltete Aufzug fällt öfter aus, dann hängt er lautlos im Schacht. Nach wenigen Stunden schon bringt ihn der Hausmeister meist wieder in Fahrt. Die aus der DDR stammende Putzfrau zu uns: "Der ist so oft außer Betrieb, weil das ein russischer ist. Die Sachen von denen taugen nichts, das ist keine gute Arbeit." Er kommt aus dem bekanntesten Fachbetrieb der DDR aus Eberswalde und ist gerade erst fünf Jahre alt.
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Hohenschönhausen ist der Ort ohne präzise Angaben. Es gibt keine ausgehängten Abfahrtzeiten für Busse und Bahnen. An jeder Haltestelle sind die Scheiben zerschlagen oder, wenn fester Draht darüber gespannt war, ist er verbogen, die Zahlenkolonnen dahinter verschwunden. Telefonbücher scheinen am Tag ihrer Auslage schon kannibalisiert worden zu sein. Wer anrufen will oder eine Bahn benutzt, muß die Zahlen im Kopf haben.
Im Jugendklub sitzen jeweils abends eine Handvoll Halbwüchsiger im Halbdunkel, sie sind aus der Wohnung der Eltern wohl deshalb geflüchtet, weil die ständig vor dem Fernsehgerät hocken. Auch im Klub flimmert der Fernseher, der Ton ist jedoch provozierend lauter eingestellt als in den hellhörigen Wohnungen gleich nebenan.
Jeden Sonntag muß ich rund zehn Kilometer bis zum Bahnhof Ernst-Thälmann-Platz fahren, um dort eine Zeitung zu kaufen; die Planer haben vergessen, zwischen den Silos Kioske zu bauen. In dem Haus mit 44 sogenannten Einheiten bezieht nur einer eine lokale Zeitung. Wer Wäsche reinigen Läßt, verbraucht eine Wartezeit von sieben Tagen. Hiernach wird sie von einer dicken und muffeligen Frau lieblos über die Theke geschoben. Die Flecken sind noch immer in der Hose, aber der Blick der Unförmigen kauft dem Kunden jeden Schneid ab. Bei der Post im Versorgungszentrum von Hohenschönhausen gibt es keine kleinen Päckchen. Sie seien im Moment nicht vorrätig, hieß es. Nach einem Vierteljahr sind sie es noch immer nicht. In der kleinen Zeile mit den Einzelhandelsgeschäften, Sparkassen und Geldautomaten sowie städtischer Kinderbücherei und Galerie stehen am 19. Juni 1992 zwei Frauen vor der weit geöffneten Tür eines Ladens mit Zeitschriften und Schulartikeln. Das Reklameschild einer Illustrierten ist aufgebaut wie ein spanischer Reiter, kein Durchgang gebietet es. Eine Verkäuferin um die Vierzig zieht die Werbetafel weg, sieht stolz auf ihre neue kleine Armbanduhr und sagt: "So meine Damen, noch zwei Minuten, dann können sie 'rein." Sie verschwindet nach hinten, die beiden bleiben vor der weit geöffneten Tür demütig stehen und warten 120 Sekunden lang.
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An der Ladenmeile hat es wohl die erste Pleite gegeben. Diese "Verkaufsstelle" ist seit dem 4. Juli geschlossen, heißt es auf einem Schild im Fenster. Die Waren sind ausgeräumt. An der Stirn steht noch RFT, das Zeichen aus der DDR für Funk und Fernsehen. Sony und Grundig haben den Inhaber nicht gerettet. Die großen Anbieter im Zentrum sind preiswerter, die Menschen in Hohenschönhausen haben immer schon mit dem Geld scharf rechnen müssen.
Beim Bäcker trinke ich eine Tasse Kaffee. Die junge dunkelhaarige Frau hinter der Theke hat nichts mehr von der Pampigkeit des realen Sozialismus. Aber anders als "drüben" - so denke ich nun über den Westen - ist einiges noch. "Möchten sie Sahne", fragt die Frau im Tone einer automatischen Zeitansage. "Ja, bitte." Sie nimmt die kleine Kunststoffdose zwischen Zeigefinger und Daumen, drückt den Deckel leicht ein und füllt den Milchersatz voll in die Tasse.
Auf der anderen Straßenseite wird ein größerer Geschäftsraum für Rundfunkgeräte und Fernseher modern gestylt. Die Eröffnung müßte schon bald sein. Der Kiez bekommt einen neuen Farbfleck. In einem bisherigen Papierwarenladen werden nun buntbedruckte Videokassetten verkauft oder ausgeliehen. Im Fenster der Kinderbibliothek "Franz Fühmann" hängt ein Protestplakat. Durch die Sparaktionen des Senats sei Puppentheater künftig nur noch für Reiche da. So hat es früher im "ND" gestanden, aber die Leser haben es nicht geglaubt. Marktwirtschaft ist nun sichtbarer geworden. An der Stehtheke lese ich zu der Tasse Kaffee "mit Sahne" den "Spiegel" vom 20. Juli. Ein flüchtiger Gedanke, das war der Tag des Attentates auf Hitler. Ein Bericht über das Outfit und die Lebensweise der Ostdeutschen fesselt mich. "Berlin, das sind zwei Städte. 1991 wurden dort rund 16 000 Ehen geschlossen. Etwa hundert Westberlinerinnen gaben Männern aus Afrika das Jawort, nur 46 heirateten einen Ostberliner. Noch kommt der Ossi hinterm Neger."
Im August sind plötzlich ohne jede Ankündigung zwei weitere "Verkaufsstellen" geschlossen, so daß die Ladenmeile triste Flecken wie wohl einst in der sozialistischen Ära trägt. Neue Besitzer sind noch nicht gefunden worden.
Beim Heimweg von der Station der S-Bahn zur Wohnung in dem Silo wirft jemand gezielt eine leere Flasche auf mich. Sie verfehlt den Wessi um vielleicht knapp einen Meter und zerschlägt laut auf dem betonierten Weg. Es ist ratsam, nicht nach oben zu schauen. Einen Tag danach ebenfalls in Hohenschönhausen schnippt jemand aus einem der oberen Stockwerke eine Zigarettenkippe auf mich. Sie fällt auf die Schulter und dann zu Boden; wieder kein Blick zum Täter, stur weitergehen, den Eindruck erwecken, als habe man nichts bemerkt. Wieder einen Tag später schüttet ein Bewohner an derselben Stelle mindestens ein gut gefülltes Glas Wasser über mich aus. Es mußte aus einer beachtlichen Höhe geschehen sein, denn das hoffentlich saubere Wasser versprüht stark im freien Fall. Der Blick des Opfers bleibt auf dem unebenen Betonboden des Fußgängerweges.
Seit September 1992 ist der Straßenname Erich Correns mit einem roten Band überklebt. Wieder ein Stück Geschichte eines zeitlich begrenzten anderen deutschen Staates wird verschwinden. Nun wohnen die Menschen in der Vincent van Gogh-Straße von Hohenschönhausen.
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