Leseproben
Auszug aus:
Hans Dieter Baroth
Das Revierbuch
Bild-/Textband, Köln 1985
Einmal Annen einfach
“Schluß”, ruft der Straßen- bahn- schaffner der Linie 320 über den Laut- sprecher in der Bahn. Die vorschriftsmäßige Ankündigung hätte heißen müssen: “Witten-Annen-Nord”. Die Fahrt endet vor einem Prellbock, der in der Nähe des Bahnhofs von Annen liegt, 30 Meter entfernt leuchtet das helle Schild eines Cafés an diesem fast dunklen, regnerischen Januartag des Jahres 1984. Nach über fünfeinhalbstündiger Fahrt mit der Straßenbahn von Düsseldorf, dem südlichsten Punkt, endet sie hier, am nördlichsten, vor dem Prellbock.
Begonnen hatte das Abendteuer einer Straßenbahnfahrt durch das Ruhrgebiet wie in einem billigen Klamaukfilm. Weil ich die Brille nicht rechtzeitig fand, sah ich den Schlitz für das Papiergeld an dem Automaten im Düsseldorfer Hauptbahnhof nicht. Vorher hatte ich die Taste Witten-Annen gedrückt, auf der Leuchtschrift wurden 8,60 DM gefordert. Ich nestele aufgeregt nach Hartgeld, finde es, der Automat spuckt die Karte aus, auf dem Bahnhofsvorplatz in Düsseldorf ist die Linie 79 in Richtung Duisburg-Hauptbahnhof inzwischen abgefahren. Es regnet, deshalb setze ich die Lesebrille nicht auf, ich kann die genauen Abfahrtsdaten nicht studieren und warte einfach so auf die Bahn nach Duisburg. Vorher hatte ich in der Zeitung gelesen, daß 85 Jahre vorher Straßenbahnstrecken von Krefeld nach Düsseldorf und von der Landeshauptstadt nach Duisburg eröffnet worden waren, mit Speisewagen; damals eine große Neuerung. Ein Speisewagen in der Straßenbahn ist im Jahre 1984 eine nostalgische Rarität.
Nach 20 Minuten kommt die Linie 79. Unmittelbar nach der Abfahrt zähle ich, 21 Personen sind am Hauptbahnhof eingestiegen. In dem kleinen Trakt der Bahn, der sich Speisewagen nennt, eine fast 60jährige Frau in einem weißen Kittel, darunter trägt sie einen blauen Pullover und graue dunkle Hosen; sie unterhält sich zunächst sehr angeregt mit zwei Fahrgästen, die sie offensichtlich privat kennt. Dieser sogenannte Speisewagen in der Straßenbahn hat das Flair eines Ostblock-Restaurants. Während sich die Straßenbahn durch das verregnete Düsseldorf quält, beobachte ich die Frau. Gestenreich unterhält sie sich mit den Gästen, die einen Kaffee trinken und eine Cola schlürfen. Ein Mitfahrer hat eine Boulevardzeitung liegengelassen, sie nimmt sie an sich.
Später als der Fahrplan anzeigt verläßt die Bahn Düsseldorf. Nachdem sie die niederrheinische Landschaft bei Kaiserswerth durchfahren hat, tauchen links hinter den verregneten Fenstern der Bahn die Hüttenwerke von Duisburg-Hüttenheim auf. Das Ruhrgebiet hat uns. Am Stadtrand von Duisburg ruft die Frau an der Kurbel vorne die ersten Umsteigemöglichkeiten aus, nach Meiderich, Hamborn, Dinslaken und Walsum. Bei einer imaginären Wettfahrt zwischen der Straßenbahn und dem PKW hätte die Straßenbahn zu diesem Zeitpunkt glatt verloren, es sind 47 Minuten vergangen. Ich ziehe meine erste Zwischenbilanz: Wer mit der Straßenbahn fährt, will keine weiten Strecken überwinden, er fährt in die Stadtteile, die Zug um Zug ausgerufen werden.
Nach den ersten Haltestellen in Duisburg füllt sich die Bahn. Ein Mann mit einem Hörgerät steigt zusammen mit einem anderen zu. Der Schwerhörige spricht zu laut. Denn in der Straßenbahn ist es üblich zu schweigen. Er fragt seinen Nachbarn, der Hubert heißt, ob er immer noch “da zum Norden im Urlaub fährt, wie heißt das da noch einmal im Norden?” Und Hubert flüstert ihm etwas zu, er, wieder zu laut, “ach ja, Timmendorfer Strand”. Und dann: “Da fährst du ja schon seit Jahren hin.” Hubert nickt, ihm ist das Gespräch unangenehm, nach drei Stationen steigt er wieder aus, der Schwerhörige ruft ihm dröhnend laut nach: “Grüß Doris von mir.”
Rechts blickte ich von der erhöhten Bahntrasse auf den Duisburger Friedhof, vor einer Leichenhalle steht ein Wagen, an dessen Gestänge Kränze gehängt wurden.
Das städtische Stadion, die Heimat des MSV Duisburg, bringen wir schnell hinter uns, zwei Stationen vor dem Hauptbahnhof entleert sich die Bahn.
Während der gesamten Fahrt habe ich die Fahrgäste beobachtet, keiner ist mit mir von Düsseldorf Hauptbahnhof bis zum Duisburger Hauptbahnhof gefahren, ich bin der einzige zu dieser Zeit, der eine solche Strecke mit der Straßenbahn zurücklegt.
Am Duisburger Hauptbahnhof die Namen für derzeitige Krisen: Thyssen, Mannesmann. Vor dem Bahnhof wird gebaut, ich muß durch die Baustelle um an der rechten Seite des Gebäudes auf die andere Linie zu warten. Schon nach wenigen Minuten fährt die moderne Straßenbahn 901 vor, die gut gefüllt ist, von Duisburg-Obermarxloh kommt und über die Stadtmitte nach Mühlheim fährt. Ich fahre vorbei an aufpolierten alten Bürgerhäusern, durch einen besseren Stadtteil der alten Stadt Montan. Die 901 fährt in Richtung Zoo, vorbei an einem historischen Fachwerkhaus mit dem Namen “Lindenwirtin”, das danebenliegende italienische Restaurant auf der linken Straßenseite ist in dieser Gegend von Duisburg, in der es auffallend viel Grün gibt, vornehmer als in Richtung Hafen. Die 901 erreicht den Duisburger Zoo, nur noch sieben Menschen sitzen in der Bahn, alles Frauen. Die Eingangsanlage des Duisburger Zoos ist an diesem Wochentag verlassen, sie wirkt traurig, kein Mensch ist zu sehen. Dann, während die Bahn weiterrumpelt, kann ich hineinschauen, aber in dem gesamten Gelände ist kein Besucher zu beobachten. Die Flamingos stehen regungslos, wie erstarrt. Ihre ansonsten leuchtenden Farben wirken matt.
Als die Linie 901 Raffelberg erreicht, weiß ich, daß ich Duisburg verlassen habe und in Mühlheim bin. Nach wenigen Minuten überquere ich mit der Bahn die Ruhr, die dunkel unter der Brücke dahindümpelt. Die Fahrt vom Zentrum Duisburg bis zum Mühlheimer Rathausplatz dauerte exakt 24 Minuten. Ich bemerkte, daß ich einige Gegenden schon vorher einmal mit dem Auto durchfahren hatte, mir waren aber damals die aufgeputzten Häuser, die Unterschiede der Stadtteile an den Straßenrändern gar nicht aufgefallen. Ein Autofahrer sieht eine Stadt, eine Landschaft, eine Gegend anders – wenn überhaupt. Am Rathaus von Mühlheim dauert die Wartezeit sieben Minuten. Ich nutze sie, um schnell auf den Markt zu gehen, der sich um die Mittagszeit schon leert. Hastig kaufe ich mir von einer freundlichen Bäckersfrau einen Berliner und schlinge ihn herunter. Dann taucht die vom Mühlheimer Friedhof kommende Bahn auf, die 104 soll mich nach Essen bringen, ihr Fahrtziel ist Essen-Rellinghausen. In der Stadtmitte von Mühlheim ist die Bahn ziemlich voll. Sie fährt vorbei an marode wirkende Fabrikhallen der Firma Thyssen, die direkt an der Ruhr gebaut wurden. Auf der Höhe der Firma Thyssen kommt es zu einer ersten Panne. Der Fahrer der Bahn unterhält sich über Funk mit einer Zentrale, von deren genaueren Sitz wohl keiner der Fahrgäste Kenntnis hat. Der Mann vorne sagt: “Die Weiche läßt sich nicht automatisch stellen.” Alle hören eine Stimme von Ferne, die fragt, ob ein Fremdkörper in der Weiche liege? Die Menschen in der Bahn hören mit, ganz ruhig, fast stoisch, einige aber interessiert. Einige Male turnt der Mann vom Fahrersitz nach draußen, dann gelingt es ihm wohl, so nach fünf Minuten mit der Hand die mechanische Weiche umzuwerfen. Die Linie 104 zieht zügig einen Berg hinauf, die Bahn wird leerer, sie erreicht auf einer Höhe den Stadtteil Schönebeck in Essen. Sechs Personen sitzen in der Bahn, die alle erst wenige Stationen vorher zugestiegen waren. Meine zweite Bilanz: In der City sind Straßenbahnen voller, sie werden von hier aus von den meisten benutzt, um die Randgebiete einer Stadt zu erreichen, von einer Stadtin die andere fährt aber kaum einer. Ich rechne nach, zwei Stunden und vier Minuten nach meinem Start am Düsseldorfer Hauptbahnhof habe ich die Grenze in Essen-Schönebeck erreicht. Die Bahn jagt abwärts in Richtung der Ruhrmetropole, an der von mir gezählten 37. Pizzeria am Straßenrand höre ich auf, es gibt im Revier zu viele, das Verhältnis der im Ruhrgebiet wohnenden Italiener zu den Pizzerias scheint wohl bei 1:1 zu stehen. Mir ist bis Essen auch aufgefallen, daß es inzwischen in der Region zwischen Ruhr, Lippe und Emscher mehr Videotheken als die traditionellen Seltersbuden gibt.
Die Linie 104 fährt an einigen ehemaligen Produktionsstätten der Firma Krupp vorbei, sie wirken abgebaut, eingefallen, viele Fenster an den Fabrikhallen sind eingeschlagen oder vom Staub blind geworden. An einer Mauer eines ehemaligen Krupp-Werkes steht der Spruch angesprayt: “Seid realistisch, fordert alles.” Ich registriere, daß die Linie 104 unmittelbar hinter den inzwischen fast abgerissenen Krupp-Werken die Hans-Böckler-Straße von Essen überquert.
Umsteigen am Viehoferplatz. Eine korpulente Frau in einem grünen Lodenmantel frage ich, ob die Linie 127 nach Gelsenkirchen fahre. Direkt nach Gelsenkirchen fahre überhaupt keine Straßenbahn mehr, meint sie, höchstens noch bis Katernberg. Von dort aus müsse ich mit dem Bus weiterkommen. Ich zeige ihr meinen Fahrplan, wonach die Bahn bis Gelsenkirchen Hauptbahnhof fahre. “Nein, die fährt nicht nach Gelsenkirchen, versuchen sie doch erstmal, mit der Linie 107 weiterzukommen.” Donnernd fährt die Linie 107 ein, sie steigt ein, blickt nochmal zu mir und schaut mich bedauernd an. Sie hat unrecht. Nach einigen Minuten folgt die Linie 127, über Stoppenberg und Katernberg heißt ihr Ziel Gelsenkirchen Hauptbahnhof. An einem Kriegerdenkmal vorbei kurvt sie einen Hügel hinauf, dann geht es an einer Kirche wieder abwärts, sie rumpelt in Richtung Katernberg. Die erste arbeitende Zeche taucht an der Straßenbahnlinie auf, der unverwechselbare Förderturm von Zollverein ist vielleicht 300 Meter entfernt; der Pütt wird 1986 seine Produktion in Essen einstellen. Die Bahn ist mäßig gefüllt, eine Frau sitzt mit zwei schulpflichtigen Jungen zwei Bänke von mir entfernt, einer nervt Mutter und Fahrgäste. Mit der Ausdauer, die offensichtlich nur Kindern gegeben ist, sagt er ununterbrochen: “Der Fahrrad, die Fahrrad, das Fahrrad. Der Fahrrad, die Fahrrad, das Fahrrad.” In Katernberg, an der Grenze zu Gelsenkirchen, leert sich die Bahn. Von Essens City bis an den Rand von Katernberg hatten lärmende Kinder, die zu dieser Zeit aus der Schule kamen, akustisch und körperlich den Waggon der Bahn beherrscht. Sechs Fahrgäste überqueren mit der 127 die Stadtgrenze von Essen nach Gelsenkirchen. Nach zwei Stunden und 57 Minuten erreiche ich das Stadtgebiet von Gelsenkirchen. In Katernberg habe ich noch typische Bergmannssiedlungen gesehen. In Gelsenkirchen liegt links von der Straßenbahn eine Trabrennbahn, gelegentlich ist weit hinten die Zeche “Nordstern” zu sehen.
In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war “Nordstern” die nördlichste Zeche des damaligen Ruhrgebietes, daher ihr Name. Wenn in Oberhausen und Bottrop die noch wenigen vorhandenen Zechen so stillgelegt werden wie Zollverein in Essen, dann dürfte “Nordstern” in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die südlichste werden.
Die Bahn hält am Gelsenkirchener Musiktheater. Gegeben wird “Wiener Blut” von Johann Strauß. Ein Rudel Schülerinnen erobert die Bahn. Vier haben sich in den beiden Bänken vor mir lässig plaziert, nachdem sie vorher schwungvoll ihre Taschen auf die Sitze geworfen hatten. Ein schwarzhaariges, bebrilltes Mädchen, so zwischen 17 und 18 Jahre alt, erzählt ihren Mitschülerinnen, wie es vor einigen Tagen eine versuchte Vergewaltigung verhindert habe. Von hinten habe ein Mann seinen Arm um das Mädchen gelegt und den Kehlkopf nach innen gedrückt. “Das war ein fürchterliches Gefühl”, das könne man sich gar nicht vorstellen, “wenn man sowas noch nicht erlebt hat.” Es erzählt Gestenreich und glaubhaft. Dann habe der Angreifer sich auf die junge Frau geworfen und ihre Bluse geöffnet. Kreischend biegt die Bahn um die Ecke in Richtung Hauptbahnhof, deshalb gehen einige Sätze unter. Ich entnehme ihrer Erzählung, daß sie dem Vergewaltiger eingeredet habe, sie wolle eine Zigarette rauchen. Bei dieser Gelegenheit habe sie ihn plötzlich in die “Eier” getreten. Den Ausdruck “Eier” spricht sie sehr aggressiv aus. “Die wird er vorerst nicht gebrauchen können”, meint sie. Sie lacht dabei nicht. “Und das abends um halb sieben. Wo doch alle Laternen an waren. Um 10 Uhr am Abend, da ist doch sowas viel wahrscheinlicher, aber um halb sieben?”, und dabei hebt sie ihre Stimme.
Ich erreiche den neuerbauten, futuristisch wirkenden Gelsenkirchener Hauptbahnhof. Nach nur drei Minuten Wartezeit geht es von einer gelbweißen in eine rotweiße Bahn, in die Linie 302, die mich nach Bochum bringen soll.
Nach drei Stunden und vierundzwanzig Minuten überquere ich die Grenze zu Wattenscheid und bin damit kommunalpolitisch in Bochum. Die nächste Station hinter der Ortsgrenze heißt Lohrheidestraße. Also muß, so vermute ich, in der Nähe das Lohrheidestadion von Wattenscheid 09 liegen. Die Station dahinter liegt vor dem alten Werkstor der ehemaligen Zeche Holland. Zügig fährt die Bahn durch Wattenscheid, sie jagt durch die City, die ich zum ersten Mal in meinem Leben sehe. Bemerkenswert schnell geht es weiter in Richtung Bochum, die Häuser fliegen fast an den Fenstern vorbei. Wie ein Leuchtturm wirkt der große Gasometer an der Bundesstraße 1, der die weiße Schrift “Erdgasheizung” trägt. Schon sehr früh kann ich diesen Werbespruch lesen, der metallene Behälter wird größer und größer, rechts von der Straßenbahnlinie die Produktionsstätte der Krupp Stahl AG, trotz der Industrieanlage ein wenig ländliches Flair. Überraschend viele Wattenscheider fahren nach Bochum.
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Eine Station vor dem Bochumer Rathaus sehe ich auf die aufgepinselte Parole an einer Mauer: “VRR die teure Tour an Rhein und Ruhr.”
Trotz ihrer hastigen Fahrt von Gelsenkirchen nach Bochum verpaßt die 302 die Linie 310 im Zentrum von Bochum um eine Minute. Ich habe 19 Minuten Aufenthalt. Genau vier Stunden nach meiner Abfahrt vom Düsseldorfer Hauptbahnhof stehe ich bei einem Kaffeeröster in der Kortumstraße, einer Fußgängerzone von Bochum, und trinke einen Kaffee. Eigentlich müßte ich auch mal austreten. Ob ich in die in der Nähe gelegene Kaufhalle gehe oder ins Kaufhaus Kortum? Ich habe Angst, die Bahn zu verpassen, schlürfe den Kaffee hinunter und gehe Haltestelle zurück.
Während der Wartezeit denke ich nach: In Straßenbahnen wird geschwiegen, mit Ausnahme der Kinder natürlich. Auf der gesamten Strecke sind mir nur zwei Buchhandlungen aufgefallen, und das war in Essen.
An der Haltestelle in der Nähe des Rathauses von Bochum sitzt ein Mann in einem hölzernen Kassenhäuschen des VVR. Ein ihm bekannter Mann unterhält sich mit ihm. Wortgleich erzählt er dreimal hintereinander über einen offensichtlich gemeinsamen Bekannten: “Der hat jetzt einen Schlüsselbeinbruch. Der spielte nämlich in der Thekenmannschaft. Da ist er auf die Fresse gefallen, da hatte er die Knochen gebrochen. Und das von der Thekenmannschaft.” Und dann noch einmal, und dann noch einmal, dann rollt die 310 ein. Sie ist satt gefüllt, zum ersten Mal seit meinem Einstieg um halb elf morgens in Düsseldorf muß ich stehen. Aber nur zwei Stationen lang, am Bochumer Hauptbahnhof steigen viele aus. Auf den Sitzplätzen gegenüber ein junges Paar, das sich verhältnismäßig laut unterhält. Hinten in der Bahn müssen auch einige Frauen sitzen, die sich ebenfalls kennen, denn sie reden, entgegen den unabgesprochenen Sitten in der Straßenbahn, verhältnismäßig angeregt miteinander. Die 310 fährt Station für Station aus Bochum hinaus in Richtung Witten. Sie hält vor dem Tor 1 der Opelwerke, aber nur zwei Autobauer, die offensichtlich Feierabend haben, besteigen die Bahn in Richtung Witten. Die anderen verlieren sich auf den riesigen Parkplätzen vor der Fabrik. Es wird wieder ländlich, ich bin in Bochum-Langendreer. Langsam windet sich die Bahn durch mehrere Täler, dann geht es in kleinen Serpentinen hoch, ganz weit hinten sehe ich die Zeche Robert Müser von Bochum, genauer ihren Rest, den Förderturm. Die Zeche ist tot. Das Revier hat sich verändert. Ich habe nur noch wenige Produktionsstätten gesehen, einige in Duisburg, in Mühlheim und in Essen, sehr wenige Zechen, eine, die noch arbeitete, aus der Nähe, eine andere weiter hinten am Horizont, sonst nur Reste, unfreiwillige Denkmale von Pütts. Oder nüchterner beschrieben: Noch nicht gesprengte Fördertürme. Die Straßenbahnlinie 310 ist eine Bergkuppe hinaufgerumpelt, vor mir liegt in einem Tal die Stadt Witten, von der behauptet wird, sie sei die Wiege des Ruhrbergbaus. Nach vier Stunden und 32 Minuten komme ich an die Stadtgrenze von Witten. Die Bahn quält sich durch die Hauptstraße, fast im Schritt-Tempo fährt sie, es scheint so, als springe jede Ampel auf Rot, wenn die 310 sich nähert.
Am imposanten Wittener Rathaus steige ich aus, direkt an der Fußgängerzone. Nach einiger Zeit folgt der 310 die Linie 320. Ich steige ein, die Bahn ist fast völlig leer. Sie fährt durch die Fußgängerzone. In der City hält die Straßenbahn länger als üblich. Der Fahrer hat seinen Arbeitsplatz kurz verlassen, er kommt wieder und lacht mich an – er hat sich ein Würstchen mit Brötchen gekauft. Als wir uns einem Bahnhof nähern, frage ich, ob hier Annen-Nord sei? “Nein”, sagt er, “der liegt genau in der umgekehrten Richtung.” Ich steige sofort aus und warte auf den entgegenkommenden Zug der Linie 320.
Eine ältere Frau mit einem kleinen Kind wartet ebenfalls. Bald bekomme ich mit, daß es Oma und Enkelin sind. Die Enkelin Astrid will wissen, was eine Spielhölle sei, denn genau vor einer warten wir auf die 320. “Da gehen Leute hin, die nichts im Kopp haben”, sagt die Oma. Ich beginne ein Gespräch. “Es ist kalt heute, nicht?” “Nein”, sagt sie, “es ist naß.” Die Nässe bringe die Kälte. Ich will nicht widersprechen. Das Gespräch ist damit zu Ende.
Nach knapp acht Minuten kommt ein Zug der Linie 320. Ich steige in die fast leere Bahn, die nach der Wartezeit angenehm warm wirkt, wir fahren mit Oma und Enkelin Astrid durch die belebte Fußgängerzone von Witten erneut am Rathaus vorbei, dann biegt die Bahn rechts ab in Richtung Annen. Bisher war mir der Ort nur als eine Hochburg der Ringer bekannt. Die Linie 320 fährt durch eine gerade und belebte Straße, die rechts und links mit dunklen Bürgerhäusern aus den zwanziger Jahren bebaut ist, bis dann, untypisch für das Ruhrgebiet, die riesige Fabrikanlage der Firma Dynamit Nobel AG auftaucht. Die Bahn fährt an dem großflächigen Werksgelände vorbei, rechts immer noch die düsteren Bürgerhäuser, das Pflaster glänzt durch die Nässe schwarz. Ich frage einen jungen Mann mir gegenüber, ob bald Witten-Annen-Nord komme? Er nickt nur.
“Schluß”, ruft der Fahrer über die Lautsprecheranlage. Nach fünf Stunden und 32 Minuten habe ich, vom südlichsten Punkt Düsseldorf, den nördlichsten in Annen erreicht, für acht Mark und 60 Pfennig die einfache Fahrt. Wenige Meter vor dem Prellbock hält die 320. Ich bin der einzige der wenigen Fahrgäste, der diesen Prellbock interessiert betrachtet.
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