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Auszug aus:

Hans Dieter Baroth

Streuselkuchen in Ickern

Roman, Köln 1980

Mein Großvater ... war ein Trinker. Die Großmutter mußte ihm das Geld für die Miete und das minderwertige Essen abringen, sie mußte es ihm, wie meine Mutter erzählte, aus der Tasche nehmen, wenn er betrunken im Bett lag und schlief. Den geringen Lohn für die harte Arbeit gab es wöchentlich. Die paar Mark wurden an einem Schalter in der Lohnhalle von Ludwig ausgezahlt. Von der Zeche König Ludwig bis zu der viel zu kleinen Mietswohnung in einem der drei Häuser in der Nähe des Kanals waren es rund fünf Kilometer zu Fuß, die der Großvater zurückzulegen hatte. Ein Fahrrad besaß er nicht, die Straßenbahn war für ihn zu teuer. Er verkürzte die Strecke zwar über einige Feldwege, aber es gab noch genug Kneipen, in die er, mit den wenigen Mark in der Tasche, einkehren konnte. Und das muß er ausgiebig getan haben. Denn er kam an Lohntagen regelmäßig sturzbetrunken nach Hause, von den Kindern und der Mutter ängstlich erwartet, weil die Kinder dann noch mehr kuschen mußten und die Großmutter, je nach Grad seiner Betrunkenheit, wie üblich dann gegen ihren Willen beschlafen wurde.

War er zu betrunken, dann konnten die Mitglieder der Familie erleichtert aufatmen, denn dann konnte er nicht mehr nach den Kindern treten und die Frau, also meine Großmutter, ins Bett zerren, dann fiel er in das säuberlich gemachte Ehebett, zuweilen bäuchlings, um dann sofort zu schlafen. Sein Schnarchen – wenn er sich voll Alkohol gepumpt hatte, war es besonders laut – war ein Signal der Entwarnung. Aber die Freude war nicht befreiend, denn es war auch das sichere Zeichen dafür, daß er weniger Geld in der Tasche trug, weil er mehr getrunken hatte. Lag er dann fast bewußtlos in dem Ehebett, das er schon nach wenigen Minuten zerwühlt hatte, dann versuchte meine Großmutter an das lebensnotwendige Haushaltsgeld zu kommen. Da sich mein Großvater, wenn er total betrunken in die Wohnung und dann ins Schlafzimmer wankte, nicht mehr auszog, mußte sie ihn vorsichtig, während er schlief, auf die Seite drehen, um dann systematisch die Taschen zu durchwühlen. Nur auf diese Weise konnte sie vor dem nächsten Wirt an Geld kommen. Manchmal hatte er es in einer Jackentasche. Wenn er auf dem Rücken lag, war es besonders leicht, an die Lohntüte zu kommen. Lag er halb schräg bäuchlings in seinem Bett, dann mußte er vorsichtig gedreht werden, so daß er nicht mehr mit dem Oberkörper die Hälfte der Jacke abdeckte, an die meine Großmutter kommen mußte. Sie schaffte es selten allein, ihn in die richtige Lage zu bringen, wenn er nicht, was auch einige Male geschah, vor dem Bett gestanden hatte und rücklings darauf gefallen war, so daß die Vorderseiten der Jacke geradezu aufstanden und meine Großmutter, sie empfand es als eine Hilfe des Schicksals, einluden, an die Lohntüte zu gehen. Lag er nicht so, dann halfen schon mal die älteren Geschwister, den übelriechenden Schnarcher langsam so zu drehen, daß die Mutter ans Geld konnte. Unangenehm war es, wenn er das Geld, zumindest das Hartgeld, in die Hosentasche gesteckt hatte. Die Hosentaschen lagen enger am Körper, da konnte er leichter etwas spüren, wenn man mit der Hand da hineinlangte, erst das schmutzige karierte Taschentuch herausziehen mußte, um dann mit der Hand vielleicht zunächst den Schlüsselbund zu ergattern, der auch erst langsam entfernt werden mußte. Dann ging die Hand wieder in die Tasche, um endlich das Geld herauszukramen. Nur in extremen Notfällen griff die Großmutter in die Hosentasche, weil diese so nahe am Intimbereich lag, es war für eine Frau, auch für die Ehefrau, unschicklich, mit der Hand in die Nähe dieses Bereiches zu kommen. Wenn sie nicht anders konnte und in die Hosentasche fassen mußte, dann durften ihr die älteren Schwestern meiner Mutter nicht helfen, sondern mußten aus dem Schlafzimmer verschwinden. Die Aufforderung dazu erfolgte mit einer kurzen Kopfbewegung.

Einmal, daran erinnern sich zwei Tanten und meine Großmutter besonders deutlich, lag er rücklings auf dem Bett und schnarchte durchs Haus, während seine Frau und zwei seiner Töchter, angewidert von seinem Alkohol-Atem, denn er trank nur den billigsten Fusel, sich über ihn beugten, um in seiner Jackentasche zu suchen. Da öffnete er plötzlich die Augen, sah sie starr an, bewegte sich aber nicht. Sie standen wie versteinert vor ihm, sie glaubten, sie stellten sogar ihre Atmung ein, da schloß er ebenso plötzlich wieder die Augen. Sein Atem rasselte zunächst etwas, dann setzte der sattsam bekannte und von allen so gehaßte Alkohol-Schnarcher wieder ein. Sie ließen ab von ihm, zwar auf Zehenspitzen, aber wie gehetzt flüchteten sie nach nebenan in die Küche und berieten, was da wohl geschehen werde. Sie malten sich aus, was er mit ihnen machen werde, wenn er in einigen Stunden aus dem Zimmer geschlurft komme. Er werde nach den beiden Töchtern nicht nur wie sonst treten , er werde ihnen den Hals umdrehen. Sicher werde er, was er zur besonderen Bestrafung der Kinder manchmal tat, die Wäscheleine aus dem Schrank kramen, sie mehrmals in einer Länge von einem dreiviertel Meter übereinander legen, sie an dem einem Ende fest anfassen und mit dem anderen so lange auf die Kinder einschlagen, bis sein Arm erschlaffte, sie am Boden lägen und noch wochenlang in der Schule Ausreden erfinden müßten, wenn andere Kinder nach der Herkunft der roten Striemen auf den Armen und am Hals fragten. Die Mutter, die sich immer abwandte, wenn er die Kinder mit der Wäscheleine verprügelte, würde auch nicht ungeschoren davonkommen, sie würde jetzt wohl zum ersten Male selbst was mit der Wäscheleine bekommen. Er würde sich nicht beklauen lassen, würde er sagen und die Mutter vor den Augen der Kinder verprügeln.

Er soll meiner Großmutter zuweilen eine gewischt haben. Wenn jemand eine gewischt bekommt, dann heißt das in unserem Sprachverständnis, ihm wurde überraschend mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Am Tisch sitzend, vielleicht, weil der Kaffee, sowieso nur Kaffee-Ersatz, nicht heiß genug oder wieder, bestimmt aus Geldmangel, kein Zucker da war, bekam sie, die Großmutter, eine gewischt. Er soll auch mit der Faust gelegentlich auf sie eingeschlagen haben. Das war aber seltener. Und weil er bei seinem Rauschschlaf von Frau und Kindern beraubt werden sollte, denn er würde von Raub, nicht von Diebstahl reden, würde die Frau jetzt was mit der Wäscheleine bekommen. Wahrscheinlich haben damals Großmutter und Tanten, also Frau und zwei Kinder, den Tod des im Nebenzimmer schlafenden Haustyrannen herbeigewünscht.

Meine Großmutter war, sicherlich schon wegen ihrer polnischen Herkunft, religiös. Sie befolgte aber nicht die Auflagen der heiligen katholischen Kirche, die ja in einem ihrer fünf Gebote vorschreibt, daß man am Sonntag eine Messe mit Andacht zu hören habe. Da meine Großmutter Analphabetin war, konnte sie sich auch darauf ausreden, die fünf Gebote der heiligen Mutter Kirche nicht gelesen zu haben. Und wenn ein Pfarrer ihr je in ihrem Leben wegen des nicht erfolgten Besuches einer heiligen Messe Vorwürfe gemacht hat, dann wird sie sich darauf herausgeredet haben, sie habe die fünf Gebote halt nicht auswendig lernen können, denn sie habe ja soviel im Kopfe gehabt, schon wegen der zehn Kinder und so. Mein Großvater war mit Sicherheit nicht religiös. Er wird zu den Pfarrern Pfaffen gesagt haben, eine Messe wird er Hokuspokus, den Weihwasserbesen in einer Hinwendung zum Zotigen gar Schwengel genannt haben, und sonntags schlief er morgens seinen Rausch aus, denn an den Samstagen hatte es Geld gegeben. Sonntags war er sehr mißlaunig, trat nach den Kindern, die gerade in seiner Nähe waren, mit Vorliebe nach den Mädchen, den Jungen knallte er ein paar hinter die Ohren, wenn sie zufällig seinen Weg kreuzten, freiwillig suchte am Sonntagmorgen niemand die Begegnung mit ihm. Da die Mädchen die drei oder vier Ziegen hüten und auch melken mußten, hatten sie auch an den Sonntagen mit den Tieren zu tun. Auch die Karnickel und das Schwein mußten gefüttert werden, für die Kaninchen mußten sie an den Wegrändern in der nahen Bauernschaft Löwenzahn suchen. Wenn sie tatsächlich in die Kirche gingen, dann nur, um dem grimmigen und verkaterten Alten zu Hause in der viel zu kleinen Küche nicht begegnen zu müssen. Zwar hatte meine Großmutter, sicherlich auch aus polnischer Tradition, in der gesamten Zeit ihres beträchtlich langen Lebens, sie wurde 92 Jahre alt, Heiligenbildchen in der Wohnung gehabt, auch hing in der kleinen Oma-Wohnung später ein sehr altes, aus Zinn gegossenes Kruzifix, aber in die Kirche ist sie trotzdem nicht gegangen. Die Bibel und den Katechismus hat sie nicht lesen können, folglich hat sie ein recht einfaches religiöses Bild gehabt. Da wird es oben so einen lieben Gott gegeben haben, der alles geschaffen hat. Dereinst würde man es besser haben, aber dann müßte man tot sein. Und eben diesen Tod wünschten Ehefrau und zwei Töchter dem nebenan schnarchenden Vater, nachdem er sie mit weit geöffneten Augen starr angeblickt hatte, als sie ihn auf dem Bett liegend nach Geld betatscht hatten, mit der Absicht, wenn er noch was hatte, ihn zu berauben.

Wie Küken an einem Wärmespender saßen sie in der Küche vor dem Emailleofen, in den zuweilen eine der drei gedankenlos Kohle nachlegte. Der Kohlebehälter, ein kleiner Wagen unterhalb des Herdes, wurde langsam unter dem Ofen hervorgezogen, damit seine kleinen vier Räder nicht quietschten. Dann wurde möglichst leise mit der kleinen Schüppe Kohle aus dem Wagen genommen, mit der Küchenschürze wurde die zu heiße Ofentür geöffnet, das heißt, eine der drei faßte mit der Schürze den Griff an, legte beachtlich geräuschlos die Kohlen ins Feuer und schloß leise wieder die winzige Ofentür, obwohl bei dieser Art des Schließens die Hitze durch den Schürzenstoff drang, so daß die Hand weh tat. Doch dieser Schmerz wurde hingenommen, weil ein lautes Schließen der Tür, wie es sonst üblich war, den Betrunkenen vielleicht geweckt hätte, und dann wäre das Jüngste Gericht in seine unheilvolle Aktion getreten.

Sie hatten alle drei keine genauen Vorstellungen von diesem Gott da oben, ob er nun einen wallenden Bart hatte, grundsätzlich mit Donnergetöse richte und auftrete, oder ob dieser Gott, zugegeben stets mit einer Zornesfalte, irgendwann doch einmal Gerechtigkeit üben werde, gegenüber Menschen, die nicht tot waren. Also könnte er doch jetzt, da das Maß ohnehin schon voll war, den Schnarcher ganz einfach zu sich holen und mit ihm abrechnen, er könnte es ihm ja drüben, wo die Toten sind, ganz gut gehen lassen. Da könnte er ihm einen Dauerrausch verordnen, ihm diesen Rausch schenken, denn dann wäre der, der ihnen das Leben zur Qual machte, sicher völlig zufrieden. Und sie auch. Sie wünschten ihm nicht einmal etwas Schlechtes, sie wünschen ihm nur den Tod, jetzt, direkt. Könnte er nicht beim Herumwälzen aus dem Bett fallen und sich dabei das Genick brechen? Wenn er auf dem Rücken lag, dann hatte er seinen Mund immer sehr weit geöffnet, die Kinder konnten dann alle Backenzähne und den Gaumen sehen, seine Zunge war milchig weiß, sie schien leicht nach hinten gerollt. Konnte sie nicht einige Zentimeter weiter rollen und ihn ganz einfach ersticken? Er würde dann zunächst noch so schnarchen, dann würden die Trompetenlaute abnehmen, mehr auf eine schlecht eingestimmte Flöte übergehen, dann ein leichtes Rasseln, vielleicht noch ein Pusten, so als wollte er noch wach werden und das Ersticken verhindern, doch er würde nicht mehr wach, würde sich nur noch halb aufbäumen und dann wieder nach hinten fallen. Dann wäre er tot und alle wären froh. Aber Gott brauchte ihn gar nicht so kompliziert zu sich zu holen. Er konnte ja auch einfach nur das Herz stillstehen lassen. Dann wäre von einer auf die andere Sekunde Ruhe.

Das befürchtete Unglück brach über die drei Frauen nicht herein. Zwar hatte er sie tatsächlich angesehen, er muß aber nicht richtig wach gewesen sein. Sein kurzes Starren war vielleicht nur ein Stück eines Alkoholtraumes gewesen. Sein Gehirn war derart von Schnaps benebelt gewesen, daß er den Vorgang des Ausraubens, bleiben wir bei seinem Begriff, nicht bewußt wahrgenommen hatte. Am anderen Morgen wußte er nichts mehr. Seine Frau und zwei seiner Töchter hatten eine schlimme Nacht verbracht. Am nächsten Morgen, es war wieder ein Sonntag, schlurfte er aus seinem Bett, die Hose hatte er noch an, das grauweiße Hemd war am Kragen geöffnet, ein Hosenträger hing herab und baumelte in Kniehöhe, der Haarschopf war wirr. Er hatte seine Hausschuhe an, mit denen er noch besser schlurfen konnte. Die Jacke, mit der er im Bett gelegen hatte, hängte er über eine Stuhllehne. Im Schlafzimmer befand sich nur ein Stuhl, der noch weniger als die anderen zu den wenigen Möbeln der Küche paßte. Er wurde nur hervorgeholt, wenn mal ein Besucher kam, ein Zechbruder oder ein Nachbar. Mein Großvater schlurfte durch die Küche, ging durch die Tür auf den Flur, öffnete hier die Tür des Etagenklos, ließ sie halb geöffnet und pinkelte hörbar in das Klo. Anschließend in der Küche nestelte er noch an seinem Hosenlatz, den er umständlich schloß. Die Hände wusch er sich nicht – er wusch sich nach dem Rausch morgens überhaupt nicht -, er setzte sich an den Tisch und sagte nur: “Kaffee.” Als eine Tochter durch die Tür in die Küche schaute, sagte er nur: “Hau ab.” Und dann halblaut, nur zu sich: “Fresser.” Das hieß, für ihn war das Kind ein überflüssiger Esser, den er jetzt, mit seiner schweren Arbeit, durchzubringen hatte. Mit Blicken deutete meine Großmutter an, verschwinde hier, es ist dicke Luft.

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